MUSIK-KONZEPTE Sonderband - György Kurtág. Группа авторов
Auf S. 2 verdichten sich die Bezüge. Im oberen Bereich dieser Seite notiert Kurtág: »Hommage à Ligeti«. Anhand von S. 2, Systeme 1–2 (Notenbeispiel 7 unten) lässt sich tatsächlich gut nachvollziehen, wie Kurtág Elemente des 4. Satzes des Horntrios (T. 14–19, Notenbeispiel 7 oben) bausteinartig umschichtet. Mit dem Oberstimmenverlauf dis″ – a′ – g′ – fis′ spielt er auf die Töne es″ (Klav.) sowie a′ – g′ – fis′ (Vl.) bei Ligeti an (Notenbeispiel 7: I). Die darauffolgende Abwärtsbewegung dis″ – ais′ – gis′ – fis′ findet sich bei Ligeti in der Gestalt es″ (Klav.) – b′ – as′ – (g′) – fis′ (Vl., Notenbeispiel 7: II). Die große Sext G – e, die bei Ligeti Bestandteil eines ›C-Dur-Dreiklangs‹ ist, wird bei Kurtág als g – e′ in die Solovioline verlegt (III). Und die suspiratio es′ – d′, die bei Kurtág das Phrasenende ankündigt, wird bei Ligeti als Sekundreibung simultan übereinandergeschichtet (IV). Auch das um einen Viertelton erhöhte d′ am Ende dieser Passage findet sich bei Ligeti: Dort ist es Bestandteil der Klimax (Horn, T. 61).
Notenbeispiel 7: György Ligeti, Trio für Violine, Horn und Klavier (1982), 4. Satz, T. 14–19 (oben); György Kurtág, Hipartita op. 43 (2000–04) für Violine solo, 1. Satz, S. 2 (Systeme 1 und 2; unten)
Anhand der Analyse der Hipartita lässt sich – auch über dieses konkrete Beispiel hinaus – der Umgang Kurtágs mit Modellen verdeutlichen, der über den Vorgang des bloßen Zitierens hinausgeht. Nicht nur Strukturdetails und Ausdruckscharaktere werden aufgegriffen, sondern auch Verfahren, die Ligetis Personalstil konstituieren. Dazu zählt die Vorliebe für collageartige Verfremdungen ebenso wie der durch die Omnipräsenz von Lamentofiguren gekennzeichnete abgründige Humor. Diese (auch für Kurtág ungewöhnliche) Dichte an Ligeti-Verweisen ist wohl auch durch biografische Ereignisse zu begründen: Ligeti hatte im Jahr 2000 seine letzte vollendete Komposition geschrieben: die Weöres-Vertonung Sippal, dobbal, nádihegedüvel54 für Mezzosopran und vier Schlagzeuger. Danach verschlechterte sich sein Gesundheitszustand immer mehr, bis er 2006 starb. Kurtág stand Ligeti in dessen letzten Lebensjahren zur Seite.55 Die 2000–04 entstandene Hipartita kann in diesem Zusammenhang als musikalischer Kommentar gedeutet werden. Im Eröffnungssatz entwirft Kurtág ein Porträt des Freundes, das von Schmerz (Sostenuto, doloroso), aber auch von Leichtigkeit durchdrungen ist.
1 Einige Hinweise zum vorliegenden Text: Die Klanganalysen in Abschnitt 1 wurden mit der MIRtoolbox erstellt. Vgl. Olivier Lartillot, Petri Toiviainen, Tuomas Eerola, »A Matlab Toolbox for Music Information Retrieval«, in: C. Preisach/H. Burkhardt/L. Schmidt-Thieme/R. Decker (Hrsg.), Data Analysis, Machine Learning and Applications, Studies in Classification, Data Analysis, and Knowledge Organization, Heidelberg 2008. Für das sorgfältige Redigieren des Textes bedanke ich mich bei Sophie Zehetmayer. — 2 Vgl. György Ligeti, »Begegnung mit Kurtág im Nachkriegs-Budapest«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, hrsg. von Monika Lichtenfeld, Mainz 2007 (= Veröffentlichungen der Paul-Sacher-Stiftung, Bd. 10/1), S. 480–83, hier S. 481: Wir kamen »aus ähnlichen familiären Verhältnissen (…): aus ungarisch-jüdischen intellektuellen Familien, die an die ungarische Kultur assimiliert waren. Gemeinsam war uns noch eine andere kulturelle Erfahrung: Beide kamen wir aus Gegenden des alten Ungarns, die nach dem Ersten Weltkrieg an Rumänien gefallen waren, beide gingen wir in rumänischsprachige Gymnasien und waren, zum Teil wegen der frankophilen Orientierung der rumänischen Kultur, in unseren Gefühlen und künstlerischen Vorstellungen stark von Frankreich angezogen.« — 3 Bálint András Varga, György Kurtág: Three Interviews and Ligeti Homages, Rochester 2009, S. 100. In diesem Buch finden sich zahlreiche persönliche Bemerkungen Kurtágs zur Freundschaft mit Ligeti – auch zu den letzten Lebensjahren (vgl. ebd., S. 89–114). — 4 Die Rede von der »Imitatio Christi« erinnert an die humorvoll-ironische Art, mit der Gérard Grisey seinen Vorbildern Messiaen, Stockhausen und Ligeti huldigte. Vgl. Danielle Cohen-Levinas, »Gérard Grisey: du spectralisme formalisé au spectralisme historicisé«, in: I Quaderni della Civica Scuola di Musica di Milano 15 (2000), H. 27, S. 63–68, hier S. 63: »Ses maîtres, ses modèles furent ce qu’il appelle, non sans une certaine ironie, Dieu le père, à savoir, Olivier Messiaen, son maître au conservatoire, le Fils, en la personne de Karlheinz Stockhausen, et le Saint-Esprit avec György Ligeti.« — 5 Vgl. z. B. das Trio für Violine, Horn und Klavier (1982): Ligeti hat dieses Werk als Hommage à Brahms bezeichnet (es entstand auf Anregung des Pianisten Eckart Besch, um eine Art Schwesterwerk zu Brahms’ Horntrio Es-Dur op. 40 zu schaffen). Der Beethoven-Bezug (etwa auf dessen Les Adieux-Sonate op. 81a) gerät dadurch in den Hintergrund, ist für ein Verständnis des Werks aber wohl entscheidender. Eindeutige Hommage-Kompositionen sind Gelegenheitswerke – vgl. die Hommage à Hilding Rosenberg (1982) für Violine und Violoncello. – In Ligetis Le grand macabre finden sich Bezüge in Form von Zitaten, die ironisch maskiert sind. Darin eröffnet sich wiederum indirekt eine Parallele zu Kurtág – vgl. dazu II.2. — 6 Dies schließt allerdings nicht aus, dass es bei Kurtág verdeckte Bezüge gibt. Ein Beispiel: In … quasi una fantasia … op. 27/1 für Klavier und Instrumentengruppen gibt es sowohl offen deklarierte als auch unausgesprochene Referenzmodelle. Einerseits beziehen sich Stücktitel und Opus-Zahl auf Beethoven sowie der Satztitel »Wie ein Traumeswirren« auf Schumanns Fantasiestücke op. 12. Andererseits findet sich in der Introduzione eine versteckte und nicht kommentierte Hommage à Ligeti – vgl. dazu die folgenden Ausführungen. — 7 Vgl. Varga, György Kurtág (Anm. 3), S. 92. Einerseits lässt sich Kurtágs Entwicklung als Komponist nicht einseitig als Reaktion auf das Schlüsselerlebnis 1958 begreifen, auch wenn dies Kurtágs Äußerungen nahelegen könnten. Andererseits ist der Stellenwert dieses Erlebnisses für die Herausbildung von dessen Ästhetik nicht zu unterschätzen. — 8 Vgl. »Komponistenporträt György Kurtág«, in: Ulrich Dibelius (Hrsg.), Ligeti und Kurtág in Salzburg. Programmbuch der Salzburger Festspiele 1993, Salzburg – Zürich 1993, S. 88–94, hier S. 94. — 9 Vgl. Varga, György Kurtág (Anm. 3), S. 92: »I experience the work as the first true Ligeti – marked by a density of events, a directness in its statement and a fine balance of humor and tragedy that still seem to me unsurpassed, even compared with his later development.« — 10 Vgl. ebd., S. 92 f.: »After my return to Hungary – we would not see each other for ten years – I began my new life with Opus 1. From then on, my ideal and aspiration was to formulate in my language something similar to what I had experienced with Artikulation in Cologne.« Zu den Ligeti-Spuren im Streichquartett op. 1 (1959) vgl. Forschungsbeiträge von Peter Hoffmann, Simone Hohmaier, Márton Keréfky und Rachel Beckles Willson. — 11 Vgl. ebd., S. 92: »I speak of my impressions from these days, not of the absolute value of the compositions. But even later these two – Artikulation, Atmosphères – remain for me absolute masterpieces – representing two basic aspects of Ligeti’s work. Apparitions seemed to me rather a station on the way to them.« — 12 Wörtliche Ligeti-Zitate sind bei Kurtág eher die Ausnahme. Ein Beispiel ist die melodische Wendung h – a – cis – h in T. 107 des Doppelkonzerts … concertante … op. 42 (2003) für Violine, Viola und Orchester, die sich als Zitat auf den langsamen Satz von Ligetis Violinkonzert (1989–93) bezieht. Vgl. Varga, György Kurtág (Anm. 3), S. 83; vgl. auch György Kurtág, Entretiens, textes, dessins, Genève 2009,