Lebensborn e.V. - Tatsachenroman. Will Berthold

Lebensborn e.V. - Tatsachenroman - Will Berthold


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Menschen, die längst gewohnt waren, ungezwungen miteinander umzugehen, benahmen sich steif und töricht wie in der ersten Tanzstunde. Sie lachten mit fremden Stimmen. Sie horchten mit anderen Ohren. Sie benutzten Augen, die ihnen nicht mehr gehörten.

      Gegen 18 Uhr hob SS-Sturmbannführer Westroff-Meyer, Kuppler für Großdeutschland, die Tafel auf. Zunächst machte niemand davon Gebrauch. Wenn sich diese Gesellschaft von 50 Menschen irgendwo sonst begegnet wäre, hätten sich bereits erste Freundschaften gebildet, künftige Pärchen abgezeichnet und Gruppen zusammengefunden. Jetzt aber sagten sich alle nur ja und nein oder höchstens vielleicht.

      Es ging auf den Abend zu. Auf den ersten. Und einer dieser Abende, die ihnen bevorstanden, sollte, konnte, mußte furchtbar werden. Die Ungeheuerlichkeit, die man in der Theorie ihnen noch mit dem Holzhammer der Zeit beibringen konnte, verlor in der Praxis Vernunft, Figur, Überzeugung. Irgendwie verspürten sie alle, daß wenigstens die Natur sich nicht vom Nationalsozialismus kommandieren ließ.

      Immer wieder betrachtete Doris den ihr schräg gegenübersitzenden Klaus, der systematisch an ihr vorbeisah. Sie las in seinem Gesicht. Sie ärgerte sich. Dann begriff sie ihn. Und zuletzt wurde sie traurig. Ich gehe zu ihm hin, sagte sie sich, und erkläre ihm alles. Er liebt mich. Er muß doch Vertrauen zu mir haben . . .

      Dann wurde auf einmal kaltes Wasser über ihren Rücken gegossen. Wie kommt Klaus hierher, fragte sie sich, was hat er hier zu suchen? Wie kann er sich auf einen so pervertierten Frevel einlassen? Sie wollte aufstehen, ihm auf die Schulter klopfen und schlicht sagen:

      »Komm, Klaus, wir gehen nach draußen . . .«

      Jetzt hätte sie Gelegenheit dazu. Aber sie verlängerte die Frist immer wieder um fünf Minuten, bis sie auf eine halbe Stunde angelaufen war.

      Er stand auf und trat an das Fenster. Die Uniform scheuerte so unruhig auf seinem Körper, als ob er sie auf der nackten Haut trüge. Er kehrte der Gesellschaft, mit der er nichts zu tun haben wollte, den Rücken. Er fuhr abrupt herum, betrachtete aus kleinen, verkniffenen Augen den Heimleiter. Ich schlag’ ihn zusammen, dachte er, ganz bestimmt tue ich das.

      In diesem Moment ging SS-Hauptsturmführer Kempe auf ihn zu.

      »Wat macht ihr Scheiche von der Luftwaffe?« fragte er.

      Klaus zuckte mit den Schultern.

      »Ick wollte auch immer Schlipssoldat werden«, fuhr Kempe fort, »na ja, dann hat mich eben die SS geschnappt.«

      »Jawohl, Herr Hauptsturmführer«, versetzte Klaus mechanisch.

      »Quatsch«, erwiderte er, »laß den Otto . . .« Er streckte ihm die Hand hin. »Ick heeße Horst . . . und Wenn du mir folgst, dann heben wir jetzt einen.«

      Der Staffelkapitän reagierte nicht.

      »He«, sagte Kempe, »dich hab’ ick gemeint . . . wie heeßte denn eijentlich?«

      »Klaus.«

      »Na ja, versteh’ ja schon . . . peinlich, dieser Laden hier . . .« Er grinste. »Ick meine . . . vorläufig . . . bis dahin verkrümeln wir uns . . .«

      Der Fliegeroffizier folgte, ohne Vorsatz, ohne Willen, ohne Überzeugung. Er lief hinter dem längen Hauptsturmführer her. Gerade, als Doris sich ein Herz gefaßt hatte und auf ihn zuging.

      »Klaus . . .«, sagte sie und lächelte zaghaft.

      Da lief er an ihr vorbei . . .

      Sie betranken sich lautlos.

      »Alter Frontsoldat hat immer seine Marschverpflegung dabei«, feixte Kempe. »Komm . . . sauf! Dann wird dir gleich besser . . .«

      Das erste Glas schmeckte nach Galle, das zweite nach Spiritus, und vom dritten ab verwandelte sich der Schnaps in Wodka.

      »Haste . . . Ärger gehabt?«

      »Nicht besonders.«

      »Also, Mann, mach doch die Klappe auf . . . was ist denn?«

      »Meine . . . Braut . . . meine frühere Braut«, verbesserte sich Klaus abrupt, »ist da . . .«

      Der Hauptsturmführer begriff schneller, als man es erwarten konnte.

      »Schöne Scheiße!« sagte er lakonisch.

      Von da ab verstanden sie sich schweigend. Sie hörten Stimmen im Gang und kümmerten sich nicht darum. Von Befangenheit spürten sie nichts mehr. Sie umarmten die älteste Geliebte des Soldaten: den Alkohol. Sie tranken ihn in sich hinein, bis er sie verschlang.

      Als es Klaus hundeelend war, verließ er das Zimmer und ging in den Garten.

      Kempe erinnerte sich flüchtig an den Zweck, der ihn hierher gebracht hatte. Und da er immer in vorderster Stellung zu sein pflegte, wollte er auch hier den Anfang machen. Er ging in den Unterhaltungsraum, rülpste dezent und war wieder der alte. Er stand wieder auf seinen eigenen Beinen, so wie er seine Stimme und seine Augen wieder gebrauchen konnte.

      Er sah sich mit sicherem Instinkt um. Nun hatten sich doch die ersten Grüppchen gebildet. Etwas abseits von ihnen hatte Lotte auf einem handgeschnitzten Stuhl Platz genommen. Sie hörte weg und wirkte dabei seltsam konzentriert.

      »Na«, begrüßte sie Kempe, »so allein?«

      »Sie?« erwiderte sie weder erfreut noch verärgert.

      »Darf ick Platz nehmen?«

      »Bitte.«

      »Wie fühlste dich denn hier?« fragte er grinsend.

      Lotte sah geradeaus.

      »Na, hör mal, Mädchen, ick hab’ dir wat jefragt.« Immer, wenn er betrunken war, berlinerte er besonders stark.

      »Ich fühle mich auf jedem Posten wohl, auf den man mich stellt.«

      »Ach so«, entgegnete er gedehnt. Seine Augen wurden klein. Er betrachtete Lotte angestrengt, aber der Wodka verwischte ihre Züge.

      »Sei doch nicht so jeschraubt . . .«

      »Was meinen Sie, Herr Hauptsturmführer?«

      »Quatsch«, antwortete er, »ick heeße Horst.«

      Sie sah ihn an. Und diesmal bemerkte sie nicht nur sein EK I, sondern auch sein Gesicht.

      »Na . . . wie wär’s denn mit uns zween?«

      »Wie meinen Sie das?«

      »Wie heeßt det?« fuhr er sie an.

      »Wie meinst du das?« verbesserte sich Lotte und wurde rot dabei.

      »Machst schon Fortschritte . . .« Er imitierte ihren Tonfall: »und wir sind doch hier, um unsere Pflicht zu erfüllen . . .«

      »Jawohl«, entgegnete sie ernst.

      »Und wann fangen wir damit an?«

      »Zur gegebenen Zeit«, versetzte sie verbissen und verkrampft.

      »Weeste wat«, antwortete er auf den Flügeln des Schnapses, »ick denke, heute abend ist die Zeit gekommen . . .«

      Er schob seinen Stuhl näher an Lotte heran, die ihn mit großen, starren Augen betrachtete . . .

      Der Sturmbannführer konnte sich auf seinen Hauptsturmführer verlassen . . .

      4. KAPITEL

      Der Herbst machte traurig und müde. Er legte sich schwer auf die Schultern. Aus dem dunklen Zelt der Nacht lösten sich Schatten, Menschen, Schicksale. Auf dem Kies knirschten Schritte. Drinnen, im weiträumigen Haus, girrte ein Mädchenlachen auf, stieg steil in die Höhe, brach plötzlich ab. Einer suchte am Radio, hastig von Station zu Station, als sollte Musik die Mauer der Befangenheit durchbrechen, als könnte Rhythmus feuchte Hände und unstete Blicke beseitigen. Denn diese erste, für 50 junge Menschen vom Lebensborn arrangierte Begegnung war banal und borniert.

      Oberleutnant Klaus Steinbach ging ziellos durch den gepflegten Park, den Kopf zwischen die Schultern


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