Lebensborn e.V. - Tatsachenroman. Will Berthold
Kommodore kratzt sich im Stehen mit der Füllfeder, ohne hinzusehen. Die Gurte seiner Kombination baumeln herunter. Hauptmann Albrecht blättert um. Er hat die Papiere nach Wichtigkeit geordnet.
»Lauter Mist!« brummt Berendsen.
»Hier noch eine Anfrage der Wehrbetreuung . . . ob wir ein Fronttheater wollen . . .«
»Ach . . .«, winkt der Oberstleutnant ab, »immer noch die alten Schicksen?«
»Nein, neue, Herr Oberstleutnant.«
»Dann brauchen Sie mich doch nicht zu fragen . . .«
Der Kommodore bleibt vor seinem Schreibtisch stehen, holt eine Flasche Kognak aus dem Fach, füllt zwei Gläser.
»Noch etwas?« fragt er.
»Ja«, erwidert der Adjutant, »ein Rundschreiben von der SS . . . die haben da eine Organisation . . . werben Mitglieder . . .«
Oberstleutnant Berendsen nimmt zerstreut das geheime Schreiben in die Hand.
»Bei uns?« fragt er etwas hilflos.
»Auch«, bestätigt Hauptmann Albrecht. »Lebensborn e. V. . . . jeder Deutsche kann beitreten . . . kostet eine Mark im Monat . . .«
Der Chef pafft an seiner Zigarre.
»Was . . . Lebensborn? Klingt wie ’n Kindergarten . . . Was ist denn das schon wieder für ein arischer Schmonzes?«
Der Adjutant nimmt ihm das Schreiben aus der Hand.
»Darf ich?« fragt er.
Dann liest er leiernd:
» . . . Ein Volk, das sein höchstes Gut, seine Kinder vernachlässigt, ist reif für den Untergang . . .«
»Nicht so viel Theorie, Albrecht«, unterbricht ihn Berendsen ungeduldig, »was wollen die denn eigentlich?«
»Mitglieder«, antwortet der Adjutant lakonisch. »Das Rundschreiben ist von Himmler selbst unterzeichnet«, setzt er dann hastig hinzu, » . . . die Bewerber sollen groß und blond sein . . . nur Männer mit einwandfreiem, nordischem Aussehen . . . und überzeugte Nationalsozialisten . . .«
Das Gesicht des Kommodore bleibt undurchsichtig.
»Na ja«, brummt er. »Aber wir können nicht dauernd Fehlanzeigen melden . . . einer muß in den sauren Apfel beißen! . . . Suchen Sie einen jüngeren Offizier aus, der sich freiwillig meldet . . .«
Hauptmann Albrecht hat Falten auf der Stirn.
»Nordisch . . . nordisch . . . nordisch«, murmelt er.
»Wie wär’s mit Steinbach?« fragt der Kommodore, »der sieht doch aus, als ob er aus Walhalla entlaufen wäre . . . Nehmen Sie den . . .«, sagt er abschließend.
Dann reicht er seinem Adjutanten den Kognak.
»Sagen Sie mal, Albrecht, Sie lieben wohl den Reichsführer SS nicht besonders?«
»Nach Ihnen, Herr Oberstleutnant«, erwidert der Adjutant vorsichtig.
»Gut . . . trinken wir auf den Geschmack.«
Noch bevor das Glas geleert ist, fliegt die Tür auf. Ein Unteroffizier der Funkstelle meldet sich mit strammer Ehrenbezeigung. Berendsen betrachtet ihn irritiert.
»Was ist los?«
»Meldung von der ersten Staffel . . . Oberleutnant Steinbach . . . abgeschossen . . .«
»Abgeschossen?« wiederholt der Kommodore mechanisch. Er schluckt, geht an das Fenster.
Hauptmann Albrecht fragt bitter:
»Soll ich nun für den Lebensborn ein anderes Mitglied namhaft machen?«
Oberstleutnant Berendsen dreht sich langsam um.
»Scheiße!« sagt er.
Dann verläßt er langsam den Raum.
›Lebensborn e. V.‹ verfügte über ein Dutzend Heime, über 700 Angestellte und ein paar hunderttausend Mitglieder. Die meisten von ihnen wußten nicht viel von den eigentlichen Zielen des eingetragenen Vereins. Sie waren nur fördernde Mitglieder. In seinem ersten Befehl sprach der Reichsführer SS davon; daß man kinderreiche Mütter unterstützen müßte. Das klang beinahe vernünftig und einleuchtend. In seiner zweiten Anordnung tönte Himmler bereits, daß man auch der unehelichen Mutter den vollen Schutz der Gesellschaft geben müßte. In seinem dritten Erlaß aber befahl Heinrich Himmler mit Verhohlener Offenheit, das uneheliche Kind planmäßig zu zeugen. Wie man Autos produziert. Wie man Geflügel auf der Hühnerfarm züchtet.
Die Wände der Zentrale glichen zur Hälfte einer Kinderklinik und zur anderen einer Bildersammlung. Sie hingen im Rahmen an der Wand, waren gleich groß und gleich kitschig: der Rassechef persönlich, fahl und nicht eben nordisch. Der entlaufene Architekt Rosenberg. Der Propagandaminister Goebbels. Der Arbeitsführer Ley. Sie alle blickten mit gläsernen Augen aus hölzernen Rahmen auf ein Werk, wie es die Geschichte nicht noch einmal kennt. Auf eine Erfindung ohne Beispiel. Auf einen Frevel ohne Grenzen.
Und auf der anderen Seite hingen unschuldige Kinderköpfe in einer Reihe.
Der Nationalsozialismus hatte Gott abgeschafft, die Stukas und den Kunsthonig erfunden. Das braune Reich hatte den Heldentod in Mode gebracht. Und jetzt machte sich das System daran, Kinder am Fließband herzustellen. Mit einer am Papier errechneten Kopfform. Mit einer vorher bestimmten Augenfarbe. Mit einer Mindestkörpergröße. Gezeugt ohne Liebe. Erzogen ohne Gott. Heranwachsend ohne Mutter. Kinder, die statt beten boxen und statt lieben hassen lernen sollten. Kinder des Führers . . .
Auch SS-Sturmbannführer Westroff-Meyer sah nicht gerade aus wie das Endprodukt seines unheimlichen Werkes. Er leitete die Aktion römisch zwo, arabisch eins, Heim Z. Er war prall in den Hüften und massig im Genick. In seinem Gesicht kontrastierte das schlaffe Maul eines Karpfens mit den kleinen Augen eines Hechtes. Daneben trug er an den Wangen das Emblem des Korpsstudenten, Säbelschmisse, die aus der Zeit stammten, als der Führer noch nicht den Boxhandschuh entdeckt hatte.
Der Sturmbannführer diktierte erregt und konfus, wie immer mit erhobener, salbadernder Stimme, wenn er Ungeheuerlichkeiten schwarz auf weiß festlegte. Er hatte Jura studiert und Schiffbruch erlitten. Er war auf Medizin ausgewichen und im Physikum hängengeblieben. Seinem Vater wurde es zu dumm. Er entzog ihm den Monatswechsel. Und so verstärkte Heinz Westroff-Meyer das namenlose Heer der Abenteurer, die hinter dem Hakenkreuz herliefen.
Er aber wollte nicht namenlos bleiben.
» . . . Deshalb . . .«, diktierte er seiner Sekretärin, »sind alle Maßnahmen besonders geheimzuhalten . . . Es ist dafür zu sorgen, daß die künftigen Mütter schon vor der Geburt auf ihre Kinder verzichten. Die Säuglinge sind rechtzeitig von den Müttern zu trennen . . . Nur in Ausnahmefällen darf gestattet werden, daß die für die Aktion ausgewählten Mädchen unter einskommasiebzig groß sind. Auch verheiratete Frauen sind grundsätzlich zugelassen; So ihre Männer an der Front stehen, ist Sondergenehmigung einzuholen . . . Es besteht Veranlassung, noch einmal auf die absolute Geheimhaltung hinzuweisen. Zu gegebener Zeit wird sich der Reichsführer SS zu diesem großen Werk für Großdeutschland bekennen . . . Bis zu dieser Zeit aber ist alles zu unterlassen, was die kämpfende Bevölkerung beunruhigen könnte . . . Die Volksaufklärung wird zur rechten Zeit einen Wandel der öffentlichen Meinung herbeiführen . . .«
Der Sturmbannführer unterbrach seinen Fußmarsch.
»Haben Sie es?« fragte er seine Sekretärin.
» . . . einen Wandel der öffentlichen Meinung herbeiführen«, leierte das blasse Mädchen.
»Gut«, antwortete Westroff-Meyer, »Heil Hitler . . . das Übliche . . .«
Er ließ sich auf einen Stuhl fallen, zündete sich eine Zigarette an.
»Ich fahre selbst zur Aktion II-1, Heim Z . . . Große Sache, einmalige Sache!« setzte er hinzu. »Der Reichsführer ist ein Genie!«
Das