Radetzkymarsch. Йозеф Рот

Radetzkymarsch - Йозеф Рот


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Schwalben dahin. Briefe der toten Frau Slama! Sie erschienen Carl Joseph als die frühen Kinder ihres plötzlichen Endes, von der geisterhaften Freiheit, die nur todgeweihten Händen entströmt, vorweggenommene Grüße aus dem Jenseits. Den letzten Brief hatte er nicht beantwortet. Die Ausmusterung, die Reden, der Abschied, die Messe, die Ernennung, der neue Rang und die neuen Uniformen verloren ihre Bedeutung vor dem gewichtlosen dunklen Zug der beschwingten Buchstaben auf blauem Hintergrund. Noch lagen auf seiner Haut die Spuren der liebkosenden Hände der toten Frau, und in seinen eigenen warmen Händen barg sich noch die Erinnerung an ihre kühle Brust, und mit geschlossenen Augen sah er die selige Müdigkeit in ihrem liebessatten Angesicht, den offenen roten Mund und den weißen Schimmer der Zähne, den lässig gekrümmten Arm, in jeder Linie des Körpers den fließenden Abglanz wunschloser Träume und glücklichen Schlafs. Jetzt krochen die Würmer über Brust und Schenkel, und gründliche Verwesung zerfraß das Gesicht. Je stärker die gräßlichen Bilder des Zerfalls vor den Augen des jungen Mannes wurden, desto heftiger entzündeten sie seine Leidenschaft. Sie schien in die unbegreifliche Unbegrenztheit jener Bezirke hinauszuwachsen, in denen die Tote verschwunden war. «Wahrscheinlich hätte ich sie gar nicht mehr besucht!» dachte der Leutnant. «Ich hätte sie vergessen. Ihre Worte waren zärtlich, sie war eine Mutter, sie hat mich geliebt, sie ist gestorben!» Es war klar, daß er Schuld an ihrem Tode trug. An der Schwelle seines Lebens lag sie, eine geliebte Leiche.

      Es war die erste Begegnung Carl Josephs mit dem Tode. An seine Mutter erinnerte er sich nicht mehr. Nichts mehr kannte er von ihr, als Grab und Blumenbeet und zwei Photographien. Nun zuckte der Tod vor ihm auf wie ein schwarzer Blitz, traf seine harmlose Freude, versengte seine Jugend und schmetterte ihn an den Rand der verhängten Gründe, die das Lebendige vom Gestorbenen trennen. Vor ihm lag also ein langes Leben voller Trauer. Er rüstete sich, es zu erleiden, entschlossen und blaß, wie es einem Manne geziemt. Er packte die Briefe ein. Er schloß den Koffer. Er ging in den Korridor, klopfte an die Tür seines Vaters, trat ein und hörte wie durch eine dicke Wand aus Glas die Stimme des Alten: «Es scheint, daß du ein weiches Herz hast!» Der Bezirkshauptmann ordnete seine Krawatte vor dem Spiegel. Er hatte noch in der Statthalterei zu tun, in der Polizeidirektion, im Oberlandesgericht. «Du begleitest mich!» sagte er.

      Sie fuhren im Zweispänner auf Gummirädern. Festlicher als je erschienen die Straßen Carl Joseph. Das breite sommerliche Gold des Nachmittags floß über Häuser und Bäume, Straßenbahnen, Passanten, Polizisten, grüne Bänke, Monumente und Gärten. Man hörte den hurtigen schnalzenden Aufschlag der Hufe auf das Pflaster. Junge Frauen glitten wie helle zärtliche Lichter vorbei. Soldaten salutierten. Schaufenster schimmerten. Der Sommer wehte milde durch die große Stadt.

      Alle Schönheiten des Sommers aber glitten an Carl Josephs gleichgültigen Augen vorüber. An sein Ohr schlugen die Worte des Vaters. Hundert Veränderungen hatte der Alte festzustellen: Verlegte Tabaktrafiken, neue Kioske, verlängerte Omnibuslinien, verschobene Haltestellen. Vieles war zu seiner Zeit anders gewesen. Aber an alles Verschwundene, wie an alles Bewahrte heftete er seine treue Erinnerung, seine Stimme hob mit leiser und ungewohnter Zärtlichkeit winzige Schätze aus verschütteten Zeiten, seine magere Hand deutete grüßend nach den Stellen, an denen einst seine Jugend geblüht hatte. Carl Joseph schwieg. Auch er hatte soeben die Jugend verloren. Seine Liebe war tot, aber sein Herz aufgetan der väterlichen Wehmut, und er begann zu ahnen, daß hinter der knöchernen Härte des Bezirkshauptmanns ein anderer geborgen war, ein Geheimnisvoller und dennoch Vertrauter, ein Trotta, Abkömmling eines slowenischen Invaliden und des merkwürdigen Helden von Solferino. Und je lebhafter des Alten Ausrufe und Bemerkungen wurden, desto spärlicher und leiser kamen die gehorsamen und gewohnten Bestätigungen des Sohnes, und das stramme und diensteifrige «Jawohl, Papa», der Zunge eingeübt seit frühen Jahren, klang nunmehr anders, brüderlich und heimisch. Jünger schien der Vater zu werden und älter der Sohn. Sie hielten vor mehreren Amtsgebäuden, in denen der Bezirkshauptmann nach früheren Genossen, Zeugen seiner Jugend, suchte. Der Brandl war Polizeirat geworden, der Smekal Sektionschef, Monteschitzky Oberst und Hasselbrunner Legationsrat. Sie hielten vor den Läden, bestellten bei Reitmeyer in den Tuchlauben ein Paar Salonstiefeletten, matt, Chevreaux, für Hofball und Audienz, eine Salonhose auf der Wieden beim Hof- und Militärschneider Ettlinger, und es ereignete sich das Unglaubliche, daß der Bezirkshauptmann beim Hofjuwelier Schafransky eine silberne Tabatiere, solide und mit geripptem Rücken, auswählte; ein Luxusgegenstand, in den er die tröstlichen. Worte eingravieren ließ: «In periculo securitas. Dein Vater».

      Sie landeten vor dem Volksgarten und tranken Kaffee. Weiß im dunkelgrünen Schatten leuchteten die runden Tische der Terrasse, auf den Tischtüchern blauten die Siphons. Wenn die Musik innehielt, hörte man den jubelnden Gesang der Vögel. Der Bezirkshauptmann hob den Kopf und, als zöge er Erinnerung aus der Höhe, begann er: «Hier hab ich einmal ein kleines Mädel kennengelernt. Wie lang wird’s her sein?» Er verlor sich in stummen Berechnungen. Lange, lange Jahre schienen seit damals vergangen; es war Carl Joseph, als säße neben ihm nicht sein Vater, sondern ein Urahne. «Mizzi Schinagl hat’s geheißen!» sagte der Alte. In den dichten Kronen der Kastanien suchte er nach dem verschollenen Bildnis Fräulein Schinagls, als wäre sie ein Vögelchen gewesen. «Sie lebt noch?» fragte Carl Joseph aus Höflichkeit und, wie um einen Anhaltspunkt für die Abschätzung der verschwundenen Epochen zu gewinnen. «Hoffentlich! Zu meiner Zeit, weißt du, war man nicht sentimental. Man nahm Abschied von Mädchen und auch von Freunden . . .» Er unterbrach sich plötzlich. Ein Fremder stand an ihrem Tisch, ein Mann mit Schlapphut und flatternder Krawatte, in einem grauen und sehr alten Cutaway mit schlaffen Schößen, dichtes, langes Haar im Nacken, das breite graue Gesicht mangelhaft rasiert, auf den ersten Blick ein Maler, von jener übertriebenen Deutlichkeit der überlieferten künstlerischen Physiognomie, die unwirklich erscheint und ausgeschnitten aus alten Illustrationen. Der Fremde legte seine Mappe auf den Tisch und machte Anstalten, seine Werke anzubieten, mit dem hochmütigen Gleichmut, den ihm Armut und Sendung zu gleichen Teilen eingeben mochten. «Aber Moser!» sagte Herr von Trotta. Der Maler rollte langsam die schweren Lider von seinen großen, hellen Augen empor, betrachtete ein paar Sekunden den Bezirkshauptmann, streckte die Hand aus und sagte: «Trotta!»

      Im nächsten Augenblick schon hatte er die Bestürzung wie die Sanftheit abgelegt, schmetterte die Mappe hin, daß die Gläser zitterten, rief dreimal hintereinander: «Donnerwetter!» so mächtig, als erzeugte er es wirklich, ließ den Blick triumphierend über die benachbarten Tische kreisen und schien Applaus von den Gästen zu erwarten, setzte sich, lüftete den Schlapphut und warf ihn auf den Kies neben den Stuhl, schob mit dem Ellbogen die Mappe vom Tisch, bezeichnete sie gelassen als «Dreck», neigte den Kopf gegen den Leutnant vor, zog die Augenbrauen zusammen, lehnte sich wieder zurück und sagte: «Wie, Herr Statthalter, dein Herr Sohn?»

      «Das ist mein Jugendfreund, der Herr Professor Moser!» erklärte der Bezirkshauptmann.

      «Donnerwetter, Herr Statthalter!» wiederholte Moser. Er faßte gleichzeitig nach dem Frack eines Kellners, erhob sich und flüsterte eine Bestellung, wie ein Geheimnis, setzte sich und schwieg, die Augen in jene Richtung gewendet, aus der die Kellner mit den Getränken kommen mußten. Schließlich stand ein Sodawasserglas vor ihm, halbgefüllt mit wasserklarem Sliwowitz; er führte es vor geblähter Nase ein paarmal hin und her, setzte mit einer mächtigen Armbewegung an, als gälte es, einen schweren Humpen auf einen Zug zu leeren, nippte schließlich nur ein wenig und sammelte dann mit vorgestreckter Zungenspitze die Tropfen von den Lippen ab.

      «Du bist zwei Wochen hier und besuchst mich nicht!» begann er mit der forschenden Strenge eines Vorgesetzten.

      «Lieber Moser», sagte Herr von Trotta, «ich bin gestern gekommen und fahre morgen wieder zurück.»

      Der Maler sah lange in das Gesicht des Bezirkshauptmanns. Dann setzte er das Glas wieder an und trank es ohne Aufenthalt leer, wie Wasser. Als er es hinstellen wollte, traf er nicht mehr die Untertasse und ließ es sich von Carl Joseph aus der Hand nehmen. «Danke!» sagte der Maler und mit ausgestrecktem Zeigefinger auf den Leutnant: «Außerordentlich, die Ähnlichkeit mit dem Helden von Solferino! Nur etwas weicher! Schwächliche Nase! Weicher Mund! Kann sich aber mit der Zeit ändern . . .!»

      «Professor Moser hat den Großvater gemalt!» bemerkte der alte Trotta. Carl Joseph sah den Vater und den Maler an, und in seiner Erinnerung erstand das Porträt des


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