1431. Sophie Reyer

1431 - Sophie Reyer


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Cauchons Körper wabbelt, während er sich vorbeugt, erstaunt von so viel Sanftmut. Seine Stimme klingt schleimig, erinnert an Kriechspuren, die Schnecken auf dem Erdboden ziehen, als er weiter in sie eindringt:

       »Verstehe. Und du denkst, du hast rechtens gehandelt, einfach so aufzubrechen? Ohne Vater und Mutter etwas zu sagen?«

      Johanna zuckt mit den Achseln. Hell und klar steht sie da, die Hände in den Fesseln vor ihrem Körper herhaltend.

      »Nun ja – wenn Gott es gewollt hat!«, sagt sie.

       »Wie?«

      Warwick zieht eine Augenbraue in die Höhe, seine Stimme ist gackernd, hackend wie ein Beil. Er scheint sie anzuzweifeln. Sofort wird Johanna wieder zornig.

      »Na, da hätte ich doch wohl hundert Väter und hundert Mütter haben können, oder?«, entgegnet sie und beginnt, mit den Armen zu fuchteln. Das Klirren von Ketten ist zu hören.

       »Wie?«

      Johanna lacht auf.

       »Nun, ich meine, wenn Gott es befohlen hat?«, fragt sie erneut und immer noch ist ihre Unschuld bestechend. Loyseleur merkt, wie er wieder lächeln muss. Es scheint, als wäre das Eis gebrochen. Das Brot hat Johanna zahm gemacht. Sie wird beginnen, ihm zu vertrauen. Denn sie spricht ohne Hohn, versucht ehrlich, sich zu offenbaren. Oder?

       »Ohne Erlaubnis jedenfalls. Da bist du gegangen. Einfach so, nach Neufchâteau!«

      Cauchon versucht, mehr zu erfahren.

      »Ja!«, entgegnet Johanna wahrheitsgemäß und klappt ihre Augen auf und zu.

      »Du bist aber sehr eitel gewesen in der Wahl der Männerkleidung«, meint da der zweite Inquisitor und reckt erneut seinen Gockelhals. Heute ist Warwick wirklich schlecht gelaunt, denkt Loyseleur.

       »So gar nicht demütig, Johanna?«

      Sie zuckt mit den Schultern.

      Für einen Moment ist es still. Man scheint nicht zu wissen, wie man weiter vorgehen soll.

      »Als ich erstmals die Stimme hörte, gelobte ich Jungfräulichkeit, solang es Gott gefiele!«, sagt Johanna.

      Warwick indes wird wütend, denn am liebsten wäre ihm eine spröde Jungfrau, die man sofort hinrichten lassen kann, er will kurzen Prozess machen.

      »Bringt sie in eine Kammer und entkleidet sie!«, ruft er aus.

      Cauchon sieht ihn erstaunt an, denn normalerweise ist er es, der die Befehle gibt.

      »Ich will wissen, ob sie Mann oder Frau ist!«, wettert indes Warwick.

      Etwas anderes scheint ihm im Moment nicht mehr einzufallen, denkt Loyseleur. Johanna zuckt mit dem Kopf, er kann es genau sehen, sie will ausspucken, wird jedoch am Hals gepackt und aus dem Gerichtssaal gezerrt. Für einen Moment herrscht Schweigen. Cauchon fixiert Warwick mit den Augen und kann es immer noch nicht glauben. Er ist es gewohnt, die Oberhand zu haben, was die Untersuchungen der Gefangenen betrifft. Und im Gegensatz zu Warwick geht es ihm nicht darum, blind zu bestrafen. Er ringt nach der Wahrheit, weiß Loyseleur Bescheid. Warwicks Befehl indes wird ausgeführt. Wenig später erscheint stolpernd ein Soldat. Er zerrt Johanna hinter sich her, mit verbundenem Mund. Aufgelöst ist ihr Haar. Sie tut Loyseleur leid.

       »Zweifellos! Ein ganz echtes Mädchen, ehrlich!«, entgegnet der Soldat, »alles noch dran.«

      Johanna wird rot vor Scham. Dann Stille.

      In den Dörfern leben die Menschen wie eh und je, auch, nachdem Johanna Gott als Stimme begegnet ist. Der Alltag am Feld taktet die Tage, das Versorgen des Viehs muss erledigt werden. Dazwischen gibt es Feierlichkeiten. Die Hochzeit zwischen Magda und einem jungen Soldaten. Ihr Haar, Johannas Haar, braun und lang, es wirbelt im Wind, zum Zopf geknotet. Brautjungfern rufen zum Tanz. Alles könnte im Glanz sein. Man könnte fast ganz sein, denkt Johanna. Sie muss mit jedem tanzen, bis sie ein Kreis wird. Mit allem verbunden, auch mit dem Unglück über den Tod der Großmutter. Und sie tanzt und trinkt vom Leben. Es wird schon gut werden, sagt sich Johanna. Gott wird wiederkommen! Einstweilen ist sie Teil dieses Spiels im Dorf. Wer raubt mir das Kränzchen um Mitternacht?, so nennt man eines davon. Johanna will den Kranz der Braut nicht haben, ihre Schwester Catherine bekommt ihn. Johanna hätte lieber ein Schwert.

      Es gibt die Messe, in der es sich auch ausruhen lässt nach getaner Arbeit, da steht ein Altar. Das ist ein Spektakel! Ganz vorn an der Spitze sitzen die Reichen, dahinter das gewöhnliche Volk. Es gibt auch Umzüge. Die Fahnen der Handwerkszünfte werden an den Feiertagen geschwenkt. Die Trachten schimmern prachtvoll, die Ornate aus Gold erfreuen das Auge. So viel Reichtum für Gott, denkt Johanna und dann folgen die Mädchen mit ihren spitzen schönen Häubchen. Die gefallen ihr nicht. Inzwischen verbringt Johanna ja mehr Zeit mit den Knaben, weil Gott gesagt hat, sie solle kämpfen lernen. Noch weniger mag sie die gestärkten Hauben der derben Bauersfrauen mit den runzeligen Gesichtern. Johanna hat ihr Haar gern offen, trägt es lose. Will es flattern lassen im Wind. Manchmal betrachtet sie, den Kopf in den Nacken gelegt, die Wolken, die über die Wiese schweben. Tanzen da nicht die Fäden Gottes im Licht? Sind es nicht silbrige Striemen, die sie verbinden, mit dem Himmel, mit der Ewigkeit, von außen nach innen und wieder zurück? Alle sehen denselben Mond und dieselben Sterne, denkt Johanna, ja, die Sterne haben kein Alter, glaubt sie. Ob sie auch sterben? Ein heller Schatten spricht zu ihr, es ist Michael.

      »Ja. Eines Tages geht alles zu Gott!«, sagt er.

      »Aber sie sind riesig, die Sterne, nicht wahr?«, fragt Johanna ungläubig.

      »Sehr!«

      »Und der Mond?«

      »Auch der!«

      »Aber warum sterben, das ist ungerecht!«, beharrt Johanna.

      Michael lacht.

      »Es kommt nur einmal im Leben vor!«, sagt er.

      »Was heißt das?«

      »Gott hat es schon gerecht gemacht, Johanna!«, meint er, der aus dem Schatten gestiegen ist und jetzt kaum mehr als ein Säuseln zu sein scheint, das sich als kleiner Lichtstreifen tanzend vor ihr hin und her bewegt. An die Großmutter erinnert er irgendwie, trotz seines hellen Schimmers, findet Johanna.

      »Warum?«

      »Sogar in den kleinsten Kapellchen unter den Armen predigt man einmal im Jahr!«, lacht der Erzengel.

      Johanna versteht nicht. Sie schweigt. Der Engel schweigt mit ihr. So verstreicht wieder die Zeit. Gott vertieft die Lichter, Farben und Schatten. Die Gottesäcker sind hängende Gärten, stellt Johanna sich vor. Sind in den Lüften. Himmel und Erde sind ein Spiegel Gottes. Der Mond, er gehört der Sonne und der Erde zugleich, weiß sie Bescheid. Goldadern schwimmen im Licht, so schlafen die Länder an den Ländern, unbeweglich stehen Wälder an Wälder gelehnt. Unter den Regentropfen sind die Körner gebückt und die Ähren. So beugt Gott auch sie, denkt Johanna. Dennoch: Sie will nicht älter werden. Verkörperung, was ist es mehr als Verknöcherung? Alles wird immer anstrengender, die Arbeit, die Denkfäden im Hirn. Die Blättergerippe der Bäume im Herbst machen mit jedem Jahr trauriger. Nur Michael wärmt. Wie ein heißer Sommerregen klingt Michaels Flügelrauschen. So plaudert sie mit dem Engel und er gibt ihr Trost.

      »Wie nackt die Schweine rumlaufen!«, sagt Johanna.

      »Dafür hat Gott ihnen aber den Schwanz gezwirbelt!«

      »Und das Glühwürmchen! Wie hässlich es ist bei Tag!«

      »Aber bei Nacht leuchten diese Käfer, ehrlich!«

      »Brennen sie denn? Können sie dich entzünden?«

      »Nein, die glühen nicht wirklich!«

      »Nicht wie Feuer?«

      »Nein!«

      Der


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