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zu erreichen.

      »Ich rede mit Erzengel Michael«, entgegnet sie leise und in ihrem Gesicht schimmert etwas auf.

      »Hat er denn wirklich keine Haare?«, fragt Loyseleur neugierig.

      Johanna lächelt.

       »Das habe ich nicht gesagt!«

      Er kniet sich neben ihr nieder, lüpft ein wenig die Kutte. Kalt ist der Kerkerboden. Wieder reicht er ihr ein Stück Brot. Und diesmal, so geschwächt und verletzlich wie Johanna wohl sein mag, greift sie nach danach. Beißt ab. Beginnt knirschend zu kauen.

       »Die Großmutter erzählte mir erstmals vom heiligen Erzengel«, sagt Johanna dann und plötzlich leuchtet etwas in ihren Augen auf, »und dann sah ich ihn, wie sein Gewand wallte!«

      Begeisterung scheint da in ihr aufzusteigen.

      Domrémy heißt das Dorf, in dem sie aufwuchs, hat man ihm erzählt. Dreihundert Einwohner und ein Grenzort.

      »Warum willst du in den Krieg ziehen? Ist das Leben nicht schön, wie es ist?«, fragt er.

      Johanna seufzt.

       »Ihr habt nicht gesehen, was ich gesehen habe. Als junges Mädchen.«

      »Was?«, bohrt er nach, während sie weiter an den Brotresten kaut.

      Johanna seufzt.

       »Die Übergriffe an den Grenzen. ›Wir halten zu den Armagnacs und nicht zu den Burgundern‹, hat meine Großmutter immer gesagt. ›Warum, Großmutter?‹, habe ich sie gefragt. ›Einmal, da kamen die und haben einen aus dem Dorf schwer verwundet. Ihm den Kopf abgeschlagen‹, hat sie erwidert.«

      »Und das hat gereicht?«, will er zweifelnd wissen.

      »Ich habe meine Großmutter geliebt«, sagt Johanna.

      Er betrachtet sie lang. Zart und knochig ist ihr Leib. Ständig kneift sie die Augen zusammen, sodass sich kleine Fältchen bilden. Manchmal verwandelt sie sich in eine düstere Frau. Risse im Gefäß ihres Gesagten.

      Und nein: Sie ist schön, denkt er. Sie hat eine unsichtbare Narbe im Gesicht, die sich Gott nennt. Tag für Tag ruft sie die Namen der Engel. Das Gesicht ist durch die Kerbe Gott zerschnitten. Sie bringt Veränderungen, die man kaum noch sehen kann. Nur die Engel, nur sie wissen davon, sagt er sich.

      »Johanna«, sagt die Großmutter, »ich werde bald gehen!«

      Ihre Augen sind ein Gebirgstal, durch das ein Schauer streift, vielleicht in Form des Windes.

      Ihr Antlitz wird immer fahler, während es draußen grünt und blüht. Das macht Johanna wütend.

      »Das will ich nicht!«, sagt Johanna.

      »Ich ist ein sinnloses Wort!«, entgegnet die Großmutter.

      »Wieso?«

      »Du solltest es durch Gott ersetzen.«

      Die Großmutter umarmt sie, und sofort ist wieder ein Friede in Johanna.

      Friede, das ist die Wärme eines Vogelnestes, denkt Johanna. Dass sie Körper sei, denkt sie. Nichts als Körper, der atmen muss. Aber in dem auch alles zu geschehen hat, was notwendig ist im Moment.

      »Sei ruhig!«, sagt die Großmutter und ihre Worte sind Tau. Regen, der auf verdorrtes Gras fällt.

      »Bitte behalte mich in deinen Armen!«, flüstert sie. »Und weine nicht. Pflück keine Tränenblumen!«

      Seit diesem Zeitpunkt weint Johanna heimlich. Immer, wenn es besonders schön ist, oder wenn es besonders traurig ist. Weil die Seligkeit mit dem Schmerz verwoben ist. Und sie hofft auf einen neuen Sommer. Und dass mit ihm noch einmal die Stimme Gottes zu hören ist, immer wieder. Und die Sonne, so wie jetzt: Sie brennt und brennt und Johanna glaubt, dass die Erde unter ihr bersten will. So niedrig fliegen die Vögel, auch sie haben kaum noch Kraft! Genauso wenig wie Johanna, die erwachsen wird und sich nach der Stimme Gottes sehnt, mehr denn je. Doch sie hat die Suche nicht aufgegeben, will sein wie die Vögel, die im Winter fortfliegen und doch wiederkehren. Sie sammeln woanders Kraft. Und dann hofft Johanna und wird genügsam. Nichts gilt es mehr zu schaffen. Nur Trägheit und Sehnsucht nach Schlaf beherrschen dann ihre Tage. Tiere suchen Schatten, die im Laufe des Tages wachsen und schwinden wie alles. Gegen Abend zieht eine dicke schwere Wolkenwand vom Süden her über den Himmel, Gewicht, Gegengewicht. So vergeht die Zeit. Ihre Augen sind schwer, sind Blei und alle Vögel kriechen in ihre Nester. Dann, abends, meist der Blitz, der Donner, er reißt den Himmel auf.

      Es wird nicht Nacht, es erbleicht bloß der Tag, sagt sich Johanna und nur die Spannung der Sonne macht die Zeit lang. Alles dehnt sich. Die Bäume ertragen den Rahmen ihrer Rinde nicht, wollen wachsen, wenn ein Gewitter kommt.

      Sie knarzen und ächzen im Wind. Der zerrt an den Zäunen. Auch die fühlen sich gefesselt an ihre Wurzeln. Wenn man nur leicht wäre, denkt Johanna, fortfliegen könnte mit dem Wind! Und hin zu Gott.

      Heiligtum aber reicht hinaus über jeglichen Raum, das muss die Jungfrau jetzt lernen.

      Und man muss es erwarten können.

      »Oh Heiland, reiß den Himmel auf!«, singt Johanna. Wie böse Geister jagen die Winde dahin. Luftpferde, feinstes Getier, denkt Johanna. Und auch in diesen Tagen sucht sie die Zuflucht beim Feenbaum, der in seinen Ästen immer noch die Erinnerung ihrer Kindheit birgt. Sie beschützt. So sitzt Johanna eines Tages wieder bei ihm. Sie ist keine dreizehn. Und da ruft er nach ihr! Endlich! Mit einem Mal spricht Gott wieder. Er tönt, lodert und zerreißt ihr dabei fast die Ohren. Von der rechten Seite kommt die Stimme, aus der Richtung der Kirche. Helligkeit. Ein Heil ist sie, die Stimme. So, als würden Vater und Mutter gemeinsam sprechen! Dreimal ruft sie nach ihr.

      »Johanna!«

      Johanna steht auf.

      »Was ist das?«, ruft sie laut aus. »Bist du es wirklich wieder, lieber Gott?«

      Ein loderndes Lachen ertönt.

      »Führe dich gut!«, tönt es zur Antwort.

      Johanna schüttelt den Kopf.

      »Was bedeutet das?«, fragt sie.

      »Bewahre deine Unschuld.«

      »Und wie?«

      »Innerlich!«

      »Was heißt das?«

      »Sei Jungfrau und Kind!«

      Johanna streift rastlos umher, sucht nach einem Gesicht zu der Ferne, die klingt. Mit einem Mal kommt ihr Gott so anders vor. Immer war er so weit weg. Und jetzt ist er viel zu nahe, sie kann ihn kaum erkennen. Das Ferne verändert sich oft in der Nähe, denkt Johanna und es ist, als hätte der Blitz den Apfelbaum ihrer Kindheit gespalten. Wieder spricht das Heilige mit ihr. Johanna möchte zu Boden sinken, sie möchte sterben.

      »Hör mich an!«, ruft da der Gott in ihr, und erschöpft lauscht Johanna.

      »Ja!«

      »Es gibt ein paar wichtige Dinge! Zum Beispiel: Liebe weckt Liebe.«

      »Bist du sicher? Gott?«

      »Ja! Manchmal muss man sie im Waldschatten suchen, findet sie nur unter dichten Blättern. Es ist anstrengend. Aber es lohnt sich, sie zu finden.«

      »Und wieder zu verlieren«, murmelt Johanna, die an den Tod des Vogels denkt und an die sterbende Großmutter.

      »Wir wissen nur, was wir hatten, wenn wir es verlieren!«, sagt Gott.

      In ihr ringt ein Schmerz um die Übermacht.

      »Warum tut das immer so weh?«

      Gott schweigt kurz, dann braust ein Orkan auf. Es ist, als lache er schallend.

      »Wer geduldig ist, dem geht es immer gut. Aber erst später. Nicht in dieser Welt.«

      Johanna


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