Nice Girls. Louise Boije af Gennäs
sie, jetzt aber, jetzt würde sie sich wirklich dieser Frage widmen.
Doch immer kam etwas dazwischen. Sie fühlte sich nicht gut, sie hatte weder Geld noch Zeit, es gab Probleme mit Benjamin oder mit dem Laden, oder sie war ganz einfach zu erschöpft, weil sie zu oft und allzuviel aß und sich übergab.
Jedesmal wenn sie begriff, daß es ihr wieder einmal nicht gelungen war, aufgrund ihrer egoistischen kleinen Ziele ihr Engagement zu verwirklichen, schloß Stella die Augen und sah die Tiere von jenem Skansen-Sommer wieder vor sich. Sie waren so genügsam, sie waren so zufrieden, wenn sie ihr Futter verschlungen hatten und in Ruhe dalagen und verdauten. Sie sahen völlig überzeugt aus, gerade Energie zu sich genommen zu haben, Nahrung, die wichtig war, weil sie sie am Leben erhielt.
Welches Tier wäre jemals auf den Gedanken gekommen, zu fressen, um zu genießen, und dann im Protest die Nahrung wieder herauszubringen?
Wenn sie den Gedanken zu Ende gedacht hatte, fühlte Stella, daß sie eigentlich bedeutend mehr von den Tieren lernen konnte, als sie ihnen zu geben vermochte. Es war ihr nicht möglich, die Logik dieses Gedankengangs zu erklären, doch traf er einfach zu. Das den Tieren innewohnende Wissen war wichtiger für Stella als das ihre für die Tiere. Jedenfalls bisher noch.
13.
Halb acht klingelte das Telefon zu Hause bei Gunvor. Aus dem Schlaf gerissen und halbblind tastete sie im Halbdunkel hinter den heruntergezogenen Jalousien nach dem Apparat, und als sie ihn endlich erwischt hatte, glaubte sie, der Anrufer müßte längst aufgelegt haben.
Doch das war nicht der Fall.
Stella war dran.
»Gunvor.«
»Mmm? Ist was passiert?«
Es wurde still im Hörer. Gunvor schaffte es sogar, ganz wach zu werden, so lange dauerte das Schweigen.
»Hallo?« sagte sie schließlich. »Bist du noch dran?«
»Hmm«, sagte Stella. »Ich weiß nicht ... tut mir leid, dich so früh zu wecken.«
»Macht nichts.«
»Ich will, daß wir wieder mit dem Spielen anfangen. Ich will es wirklich. Wir müssen.«
Gunvor lag mehrere Sekunden schweigend da.
»Deshalb weckst du mich am Sonntagmorgen um halb acht?« fragte sie.
Freunde. Wozu hatte man die eigentlich? Entweder kriegte man ein Ding verpaßt, oder sie betrieben Telefonterror zur besten Schlafenszeit. Jetzt wachte auch Claes auf und steckte seinen zerzausten Kopf durch die Tür. Gunvor winkte ihm, hinauszugehen.
»Ich mußte einfach jemanden anrufen.«
Stellas Stimme brach.
Erst jetzt hörte Gunvor, daß sie weinte. Es war ein halbersticktes verzweifeltes Weinen, und es schien ganz tief aus Stellas Innerem zu kommen.
›New Kid In Town‹
»There’s talk on the street, it’s there to remind you
It doesn’t really matter which side you’re on
You’re walking away and they’re talking behind you
They will never forget you ’til somebody new comes along«
1.
Gunvor saß im Büro zwischen Bergen von Papier. Im Hintergrund spielte ihr kleines Transistorradio.
Im Moment lief Radio Stockholms ›Schmusestunde‹ mit Agneta Askelöf, eines von Gunvors absoluten Lieblingsprogrammen mit seinen sentimentalen Lebensgeschichten, dazwischen romantische Lieder und fröhliche Popmusik. Wie immer fühlte Gunvor, daß gerade diese Art Popmusik, die alten Schlager und Lieder, sie in Stimmungen und Gefühlslagen versetzten, die ihr sonst fremd waren. Erinnerungen brachen auf, Gefühle tobten in ihrem Inneren, und Farben, Formen und Geräusche schienen sonderbar verstärkt. Vielleicht waren es ja nur banale Kompositionen, war es nicht gerade große Kunst, mit der man etwas hermachen konnte, doch für Gunvor war es dennoch ein Kulturerbe, das ihr gehörte und ihr unglaubliches Vergnügen bereitete. Es war die Musikkultur, die ihre eigene Generation geschaffen hatte und die ihr Eigentum war.
Außerdem hatte das Programm noch in anderer Hinsicht einen Vorteil. Fast drei Stunden lang konnte es dich unentwegt von der Arbeit ablenken.
Im Büro roch es eigenartig, ein Geruch von Teppichreinigung und Schulbüchern in merkwürdiger Kombination. Deshalb hatte sie hinter dem Ständer mit den vielen Silberkulis eine kleine Flasche Parfüm stehen, und ein wenig davon sprühte sie sich auf die Handgelenke, wenn sie meinte, der Arbeitsgeruch werde zu stark. Vor ihr stand außerdem eine kleine Vase mit getrockneten Blumen.
Eigentlich ging Gunvor gern arbeiten. Nur die Leute und die Arbeitsaufgaben machten ihr zu schaffen.
Glücklicherweise hatte Gunvor ein eigenes Zimmer. Das hatten zwar fast alle in ihrem Büro, aber trotzdem. Wenn sie vom Stuhl aufstand und sich über die Telefonbücher auf dem Fensterbrett beugte, konnte sie direkt auf die Kungsgatan hinabsehen, wo die Autos in einem sonnenbeschienenen Streifen entlangfuhren und die Menschen in alle Richtungen eilten. Hier mußten sie am Tag des Friedens alle mit klopfendem Herzen gestanden haben, die gerade aus dem Fenster gekippten Papierkörbe in den Händen, und ihren Jubel herausgeschrien haben. Komisch, sich so für einen Krieg zu engagieren, an dem man nicht teilgenommen hatte. Vielleicht gerade deshalb; es ließ sich natürlich leichter jubeln, wenn Vater, Bruder oder Freund mit dem Abendzug nach Hause unterwegs waren, alle noch in einem Stück und mit beweglichen Armen und Beinen.
»Gehst du mit essen?«
Lotta stand in der Tür. Sie war eine typische Stockholmerin, genau von der Art, mit der Gunvor am schlechtesten zurechtkam.
Lotta hatte glattes, glänzendes Haar, das sie im Nacken mit einer Perlenspange zum kleinen, scheinbar lässigen, aber dennoch eleganten Pferdeschwanz zusammengenommen hatte. Sie trug stets frischgebügelte Blusen, im Sommerhalbjahr gern mit sportlich hochgekrempelten Ärmeln. Sie wurde rasch braun, was ihre hellblauen Augen zum Leuchten brachte. Lotta verbrachte den Urlaub auf dem Segelboot, ihr Freund pflegte bei der Regatta ›Rund um Gotland‹ mitzumachen, und sie hatten Bekannte mit flotten Sommerhäusern überall in den Schären. War doch wohl selbstverständlich; hatten das nicht alle?
Neben Lotta kam Gunvor sich immer zerknittert, altmodisch und absolut zu fett vor. In Lottas Augen gab es gewissermaßen keine Entschuldigung für Fettleibigkeit und Knitterfalten. Man brauchte sich doch wohl nur zusammenzureißen? Lotta hatte immer neue Sachen an, und ihre Einstellung zu sämtlichen Dingen war kühl. Träume, Gedanken, Überlegungen, Komplexe, Ängste, Phobien, all das gab es nicht in Lottas Welt. Gunvor wußte es, fühlte es instinktiv.
Einmal hatte sie Lotta auch zu Hause besucht, in der perfekten Dreizimmerwohnung oben in der Grevgatan, die sie mit dem Makler Niklas teilte. Selbst das ungemachte Bett sah einfach nur schön aus, als sei es ungemacht liegengeblieben, nachdem zwei ungewöhnlich perfekte Menschen ihr Bedürfnis nach einer kurzen gemeinsamen Ruhepause im Anschluß an einen innovativen und vollständig zufriedenstellenden Beischlaf gestillt hatten. Lotta und Niklas hatten sogar angefangen, Kunst zu sammeln, kleine Statuen und Gemälde, auf die Lotta nebenbei hinwies. Gunvor war sprachlos. In ihrer Welt erbte man Kunst. Mit dem Sammeln begann man demnach möglicherweise irgendwann um die Fünfzig. Im Vergleich zu Lotta und Niklas fühlte sich Gunvor stets als hoffnungsloses und unabänderlich zurückgebliebenes Landei.
Sie schaute Lotta ein paar Sekunden an. Wollte sie mitgehen oder nicht? Hinter Lotta war Eva aufgetaucht, groß und sommersprossig und genauso ›richtig‹ wie Lotta.
Warum fragten sie ausgerechnet sie?
Es war absolut nicht das erstemal, trotzdem bekam Gunvor Herzklopfen und spürte, daß ihr der Appetit verging. Auch gut, dann aß sie vielleicht weniger zu Mittag. Die Figur, man mußte immer dran denken. Vielleicht wurde man lottaähnlicher, wenn man mit ihr essen ging und dasselbe bestellte wie sie?
Gunvor