Nice Girls. Louise Boije af Gennäs
Sie hatte das Warten satt.
»Ich glaube, ich kann nicht«, sagte Gunvor und wies mit dem Kopf auf den Rechner. »Muß bis fünf eine unheimlich schwierige Sache fertig haben.«
»Bis fünf?« fragte Lotta. »Aber dann hast du doch noch den ganzen Tag Zeit! Komm jetzt, du mußt was essen.«
Gunvor starrte auf den Bildschirm. Die Zahlen verschwammen zu einem grünschimmernden Wabern. Was sollten ihr Analysen bringen? Sie verstand ja nicht einmal ihre eigenen Gefühle. Wie sollte sie sich dann auf die Bonität einer fremden Firma verstehen?
»Wir wollen runter ins ›Fujiyama‹«, sagte Lotta. »Du magst doch bestimmt Sushi, na, komm schon.«
Eva war losgegangen. Lotta sah Gunvor an, zuckte mit den Schultern und zog die Augenbrauen hoch. Dann verschwand auch sie durch die Türöffnung. Gunvor starrte ihr hinterher. Plötzlich hatte sie es eilig.
»Wartet!« schrie sie, fuhr vom Stuhl hoch und wühlte rasch ihr Portemonnaie aus der Tasche. Sie stürzte aus dem Zimmer, Lotta und Eva hinterher, die wartend dastanden und sie kühl beobachteten.
Sie selbst war schon ganz außer Atem. Weshalb konnte sie nicht wie andere Frauen sein? Weshalb konnte sie nicht erwachsen werden, ganz kühl bleiben und mit einem Typen aus Östermalm zusammenleben, der Freunde in Galerien und auf den Schären hatte?
Lotta und Eva drehten sich um und gingen vor ihr den kühlen, dunklen Korridor zur Rezeption hinunter, und Gunvor fühlte, wie sie ins Wanken geriet und sich leicht an der Wand abstützen mußte, um die Balance und den Atem wiederzufinden.
2.
Als Gunvor klein war, hatte immer die Sonne geschienen. So war es auf dem Land, die Sonne schien, egal zu welcher Jahreszeit.
Im Winter funkelte sie im Harsch, wenn Gunvor und ihr Papa in der blauen Skispur zwischen den Tannen anhielten und Apfelsinen schälten. Sobald der Frühling kam, war Gunvor draußen auf den Äckern und Wiesen, buk Sandkuchen und pflückte Leberblümchen, die Sonne streichelte alles, brachte die Erde zum Dampfen und ließ Gunvor auch die kleinsten Goldsterne entdecken. Lange, faule Sommertage lang lag die ganze Familie mit Cousins, Cousinen und Dienstmädchen, alle außer Papa, unten beim alten Badehaus und ließ sich auf dem trockenen Steg schmoren, und im Schlamm stiegen geheimnisvolle Blasen auf. Kleine Barsche schossen durch die Sonnenstrahlen, und das Licht glitzerte in ihren rötlichen Flossen. Wenn dann der Herbst kam und es Zeit war, Kartoffeln zu ernten und Äpfel zu pflükken, ging Gunvor ständig in Gummistiefeln, und die Sonne schien ihr ins Gesicht. Sonnenschwere Wespen flogen vom Fallobst zu ihren Füßen auf, und Papa gab ihr zehn Öre pro Kilo für die Kartoffeln, die sie in langen Stunden hinter den breiten Reihen der Kartoffelleser aus der Erde buddelte. Sie schwitzten im Septemberlicht, mit roten Streifen auf der Stirn, zurückgeblieben von der heißen Sommersonne, und mit dicken Trauerrändern unter den Nägeln.
Die Kartoffelleser verhielten sich freundlich zu Gunvor, und sie saß auf einer nach Erde riechenden, umgekippten Holzkiste in der Sonne und lächelte ihnen zu, während sie über das Feld krochen. Die Sonne schien auf alle gleich, und es war nicht so, daß Gunvor glücklich lebte, sie lebte einfach. Es gab keinen anderen Zustand als Glück, nur hin und wieder von sehr kurzen und höchst erklärlichen Augenblikken des Weinens unterbrochen, wenn man sich weh getan hatte oder enttäuscht war. Sonst schien immer die Sonne.
So war es, als Gunvor Kind war.
3.
Jetzt saßen sie im ›Fujiyama‹, dem japanischen Schnellrestaurant in der Grev Turegatan, das zur Zeit alle hippen Finanzberater, Werbeleute und Konfektionseinkäufer zu ihrem Mittagslokal erkoren hatten. Aus den Lautsprechern dudelte eine Art japanische Popmusik; Gunvor hatte nie zuvor etwas Ähnliches gehört. Doch keiner sonst schien zu reagieren.
Gunvor hatte einen großen, schwarzen Teller Sushi vor sich stehen. Der Fisch war roh und glänzte, und er roch, wie jeder frischgeangelte Barsch zu allen Zeiten gerochen hatte; eben wie roher Fisch. Gunvor griff vorsichtig nach dem einzigen gekochten Stückchen, das sie entdecken konnte, dem weiß- und rosagestreiften Scampi auf seiner hohen Reismatratze, und versuchte hineinzubeißen. Der Scampi war gummiartig und nur schwer mit den Schneidezähnen zu zerteilen. Der Reis purzelte körnchenweise auf ihre Bluse herunter, und sie schaute unruhig über den Tisch zu den anderen beiden. Sie schienen es nicht bemerkt zu haben.
Lotta war gerade dabei, eine fette rosa Lachsscheibe zu verschlingen, und Eva nahm mit ihren Stäbchen mehrere Stückchen rohen Ingwer auf und stopfte sie genüßlich in den Mund, schloß die Augen und stöhnte vor Wonne. Sie kaute mit geschlossenem Mund, die perfekten Lippen (mit dem roten, vermutlich kußechten Lippenstift) über einer gleichmäßigen, weißen Zahnreihe geschlossen. Auf der Oberlippe hatte Eva ebenfalls Sommersprossen. Gunvor fand das hübsch. Sie selbst hatte milchweiße Haut, weich und schlapp. Sie würde niemals in Shorts an Bord eines Swan 56 passen, noch weniger in dem geradegeschnittenen, blauweißgestreiften Hemdblusenkleid, das Eva trug.
»Gehst du Samstag zu Madde und Pete?« fragte Lotta, an Eva gewandt.
Eva nickte. »Das wird bestimmt super.«
Lotta sah Gunvor an. »Und du?«
Gunvor schaute sie mit ihren großen, braunen Augen an. Nein, sie war in absehbarer Zukunft nicht zu irgendeinem Madde eingeladen, sie würde nur nach Hause fahren, in einem Monat etwa, wenn Claes eine Party gab. Sollte sie vielleicht das statt dessen erwähnen? ›Mein kleiner Bruder gibt eine Smokingparty auf unserem Gut, zählt das? Ich bekomme vielleicht irgendeinen jungen, armen Baron als Tischherrn, jemanden mit unreiner Haut, der es unglaublich trist findet, neben der großen Schwester zu sitzen, und der schon bei der Vorspeise stockbesoffen ist. Ich glaube auch nicht, daß ich in mein schwarzes Kleid passe, denn seit dem Frühjahr habe ich mehrere Kilo zugenommen.‹
»Was für ein Madde?« fragte Gunvor statt dessen mit gespieltem Interesse.
»Madde Rosen«, sagte Lotta.
Gunvor hörte, daß es sich um eine Kurzform für Madde von Rosen handelte. Alle hatten solche Kurzformen. Anna Wacht bedeutete Anna Wachtmeister. Gabby Palm hieß Gabby Palmstierna. Gunvor war dankbar für die Male, wo auch ihr Name eine Kurzform erhielt und zu etwas Geheimem, Leichtanwendbarem wurde. Das bedeutete, es gab sie, sie war akzeptiert, sie zählte.
»Nein«, sagte sie. »Ich kenne Madde nicht so gut.«
Gunvor gehörte also nicht dazu.
Lotta nahm bedächtig ihre Thunfischscheibe mit den Fingern auf und steckte sie in den Mund. Beim Kauen bildeten sich kleine Grübchen an ihren Kiefern, ein weiterer Beweis, wie perfekt und mager ihr Gesicht war. Gunvor klopfte das Herz. Sie schob ihre Fischstücke ein wenig umher. Sie hatte nie zuvor in ihrem Leben rohen Fisch gegessen, und plötzlich war ihr klar, daß sie auch jetzt nicht damit anfangen würde.
»Wie läuft es mit dem Johnson-Vertrag?« fragte sie statt dessen und verstieß bewußt gegen die ungeschriebene, stets befolgte Regel, auf der Arbeit nie von Arbeit zu reden, außer wenn man gerade mittendrin steckte. Das hieß nämlich, man hatte keine gesellschaftlichen Verpflichtungen zu besprechen, man war nur eine Bedienstete, beinahe auf gleichem Niveau mit gewöhnlichen Menschen und Arbeitern.
»Einigermaßen«, sagte Lotta und schaute sie kurz an. »Hat es dir nicht geschmeckt?«
Sie blickte verwundert auf Gunvors unberührten Teller.
»Doch, doch«, sagte Gunvor und nahm ein Reisklümpchen auf.
Es zerbröckelte zwischen ihren Stäbchen und fiel in einem stillen Regen auf den schwarzen, japanischen Teller herab. Das Geschirr spiegelte Evas Gesicht ihr gegenüber. Jetzt sah es aus, als hätte sie Reisflecken statt Sommersprossen auf der Nase.
Gunvor kam plötzlich eine Idee.
»Wißt ihr, was ich gehört habe?« fragte sie verschmitzt.
Lotta und Eva sahen sie beide an und schüttelten den Kopf.
»Nein, was denn?«
Gunvor lächelte.