Der Gang unter der Erde. Hans Hyan

Der Gang unter der Erde - Hans Hyan


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aus dem Kreise der Gratulanten und — das wurde allgemein bemerkt — aus der Festhalle.

      Der alte Martin, der vertraute Diener des Konsuls und nebenbei ein Juwel von einem Hausmeister, winkte sofort mit seinem Seidentuch nach der Kapelle hin, die auf der Stelle eine schmetternde Fanfare blies. Aber die Gästeschar war irritiert, man sah nach der Tür, durch die Oberregierungsrat Henderson verschwunden war, alle Augen suchten nach einem Menschen, der die Erklärung für diesen eiligen Abschied hätte geben können; man fand niemanden, und der Gesellschaft bemächtigte sich eine unruhige Zerstreutheit.

      Der Konsul war sich dieser Tatsache ebenfalls schnell bewußt geworden. Aber er wollte nicht, daß in seinem Hause heute abend von diesem scheußlichen Diebstahl gesprochen würde. Er nahm seinen ganzen Lebensmut, seine ganze Frische oder was noch davon übrig war, zusammen, ging zu den Gästegruppen, plauderte mit ihnen, animierte, was sonst gar nicht seine Art war, zum Trinken und zum Rauchen und tat alles, um eine Mißstimmung, wenn sie aufgekommen war, zu zerstreuen. Man tanzte auch wieder, man unterhielt sich, aber über diesen vielen geputzten, glänzenden Menschen schwebte eine stumme, unruhevolle, beinahe erbitterte Frage:

      Warum sagte man ihnen nichts? Warum erfuhren sie nicht, was geschehen war? Anderthalb Millionen sind doch kein Pappenstiel! Davon muß man doch reden! Das war ja beinahe eine Brüskierung! In dieser Zeit der Not und des allgemeinen Mangels, da darf man nicht über den Verlust eines solchen Riesenvermögens weggehen, als wäre eine Schnupftabakdose gestohlen worden. Im Grunde genommen war es ja nur, daß bei all diesen leiblichen und seelischen Genüssen der Hunger nach Sensation nicht gestillt wurde. Man wollte nicht mit leichten Scherzen, mit Lachen und Tanzen unterhalten sein, wenn ein so prachtvoller Skandal in der Luft lag!

      Aber der Gastgeber kämpfte gegen diese Neugier auf seine Weise weiter. Die Musik schwieg nicht einen Augenblick. Es wurden Überraschungen hereingebracht ... Riesentiere, wie sie in New York den Festtrubel heute beleben, Elefanten, Nashörner, Riesenschwäne und Alligatoren aus Gummi, die, aufgepustet, die Gäste faszinierten und die Stimmung zu heißer Lustigkeit und lautem Gelächter aufpeitschten.

      Wie Karneval war es plötzlich. Eine Ausgelassenheit, wie sie in diesem Hause vielleicht noch nie gesehen worden war, bemächtigte sich besonders der Jugend. Der Wein tat seine Wirkung und machte die Sinne doppelt lebendig.

      Eben schluchzten und klagten die Geigen noch. Dann gellte das Schlagzeug, die große Trommel dröhnte und die Saxophone quiekten und schnalzten. Man tanzte nicht mehr so ruhig und getragen wie zuerst. Die Bewegungen wurden wilder, die Tänzerinnen lachten und schrien leise im Arm ihrer Kavaliere, die sie fest umschlangen.

      Was war’s, das den Jubel plötzlich wie in schriller Dissonanz abbrechen ließ? —

      Noch vor Minuten war Rose Hermann im Arm des Bräutigams der Musik gefolgt. Dann hatte er sie einen Augenblick zu ihrem Sessel gebracht, war von einem der Freunde fortgezogen worden und hatte nach einem, wie er meinte, so kurzen Gespräch Rose wieder aufgesucht.

      Sie war weg. Seine Augen forschten umsonst nach ihr. Eine Freundin Roses, die eben mit ihrem Kavalier vorübertanzte, gab Wieland Bescheid: vor ein paar Minuten sei ein junges Mädchen in hellem Kleid, wohl Roses Zofe, an sie herangetreten und habe ihr etwas gegeben. Was, konnte sie nicht genau sehen, aber wahrscheinlich sei es ein Brief gewesen.

      Auch jetzt wieder von jener Ahnung bedrängt, die ihn am Nachmittag bei ihren Tränen überkommen hatte, eilte der Musiker durch die Halle zwischen den Gästen und Tanzenden durch, achtlos, beinahe schon unhöflich, und suchte Rose.

      Er fand sie nicht. Aber die Zofe sah er am Ausgang der Halle eben hinter den Lorbeerbäumen verschwinden. Wieland verdoppelte seine Schritte und holte das Mädchen an der Saaltür ein.

      Er war fast atemlos:

      „Wo ist meine Braut, Annette?“

      Die Zofe war sichtlich bestürzt und unruhig:

      „Ich weiß es nicht, Herr ... Herr von Wieland.“

      Es klang scharf und heftig, als er erwiderte:

      „Sie müssen es wissen, Annette, Sie haben ihr ja eben erst den Brief gebracht!“

      Das Mädchen erschrak so, daß ihr das Blut wie eine rote Welle bis unter das dunkle Stirnhaar flog.

      „Ja, ja“, sagte sie weinerlich, „ja, Herr von Wieland, aber ...“

      „Von wem war der Brief?“

      „Ich weiß es nicht ... ich hab’ keine Ahnung.“

      „Sie wissen es wohl! Reden Sie, antworten Sie mir augenblicklich!“

      Er griff sie hart bei dem Handgelenk und schüttelte sie. Und sie, schon schluchzend:

      „Ich weiß es nicht, ich weiß wirklich nicht, Herr von Wieland!“

      „Kommen Sie mit!“

      Er zog sie aus der Tür der Halle in den Gang, der in die Zimmerflucht hinüberführte. Die erste Tür links war geschlossen, die zweite stand halb offen, das Zimmer war erhellt.

      Er blieb einen Augenblick zweifelnd stehen und sah zu dem Mädchen hin, dessen Arm er nicht losgelassen hatte.

      Sie verstand seine stumme Frage:

      „Ja ... ja, hier ist das Schlafzimmer des gnädigen Fräuleins ...“ Und sie weinte wieder.

      „Heulen Sie nicht!“ herrschte er sie an. „Sagen Sie mir die Wahrheit, das ist alles, was ich von Ihnen will! ...“ Er zog sie in das Zimmer hinein.

      „Wie oft haben Sie Fräulein Rose schon solche Briefe überbracht?“

      Das Mädchen antwortete nicht, sie weinte ganz laut, sie schrie fast. Da nahm er sie bei den Schultern und rüttelte und schüttelte sie wutknirschend:

      „Sie sollen still sein! Ihr Geschrei nützt Ihnen gar nichts! Ich will wissen, wie oft Sie schon den Postillon d’amour gespielt haben? Sagen Sie es mir, sofort! Ich lasse Sie nicht los!“

      Aber das Mädchen war nicht imstande, zu sprechen. Sie wimmerte und schluchzte nur und schien ganz niedergeschmettert von dieser Entdeckung.

      Wieland wurde immer wütender:

      „Wo ist Rose? Sie werden es mir sagen, und wenn ich Sie zur Polizei bringen soll! Da werden Sie den Mund schon aufmachen!“

      „Nein! Bitte, bitte, nicht ... nicht zur Polizei!“

      „Dann sagen Sie, was Sie wissen!“

      „Ich weiß ja nichts, ich weiß gar nichts.“

      „Aber Briefe haben Sie gebracht? Das können Sie doch nicht leugnen? Ich habe Sie ja abgefaßt dabei!“

      Das war nicht wahr, aber die Zofe, deren schwarze Augen vom Weinen ganz verschwollen waren, deren kleiner roter Mund offenstand wie bei einem unglücklichen Kinde, wußte gar nicht, was mit ihr geschah. Sie wußte nur, daß sie wirklich schon seit langer Zeit, schon über zwei Jahre, beinahe so lange, wie sie in diesem Hause diente, ihrer jungen Herrin Briefe überbracht hatte, von denen niemand etwas wissen durfte. Vielleicht hatte das ihrem Wesen jenen selbstbewußten, schnippischen Ton gegeben, von dem Rose Hermann sich manchmal so unangenehm berührt fühlte. Das war die Überlegenheit, die die Dienerin gegen die Herrin ausspielte und die jetzt, im Augenblick der Entdeckung, für sie selbst zu einer furchtbaren Angst wurde, zu der Erkenntnis eines großen Unrechts.

      Der leichtherzige Sinn des Mädchens konnte dem Angriff dieses vor Eifersucht rasenden Mannes nicht standhalten. Sie wand sich und weinte, sie klagte und versuchte zu entrinnen, aber überall griffen seine harten Worte, seine wilden Drohungen nach ihr und bezwangen Widerstand und Unwahrheit.

      Am Ende dieser peinvollen Unterredung wußte der Komponist, daß seine Braut schon seit zwei Jahren solche mit der Schreibmaschine geschriebenen Briefe erhielt, die Rose gleich, nachdem sie sie gelesen, vernichtet hatte.

      Von wem diese Briefe stammten, wer an Rose Hermann schrieb, das konnte Annette dem Musiker nicht sagen. Er redete, drängte und drohte immer mehr! Er schien wirklich


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