Die flammende Nacht. Hans Hyan

Die flammende Nacht - Hans Hyan


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stach die Nase hart und spitz hervor. Der kleine Mund darunter stiess zwischen feinen, trockenen, rissigen Lippen den Atem kurz und keuchend aus. Im Fiebersturm hatte sie sich das Hemd zerrissen, nun deckte ein Batisttuch den kindlichen Busen, der es eilig hob und senkte.

      Mit tiefem Mitgefühl betrachtete Martin Deinhardt die Kranke. Er begriff jetzt nicht mehr, dass er auch nur einen Moment daran gedacht hatte, sie ihrem Schicksal zu überlassen. Zum Tisch ging er hin, um wieder eine Kompresse auf die brennende Stirn des Mädchens zu legen. Und dabei fiel sein Blick auf das einfache Handtäschchen, das gestern abend im Kabarett vergessen worden wäre, wenn es nicht der Student mitgenommen hätte.

      Martin Deinhardt besass eine für seinen Beruf nur sehr bedingt förderliche Eigenschaft: er war diskret. Die Neugier, die gerade dem Zeitungsmann oft seine besten Erfolge verschafft, ging ihm total ab, ja neugierige, zudringliche und taktlose Leute waren ihm im tiefsten Grunde zuwider. So sah er die billige Tasche aus imitiertem Krokodilleder an, wie etwas, das keinerlei Aufmerksamkeit verdient, was einem nicht gehört und das man daher nicht beachtet. Aber auf einmal kam ihm der Gedanke: sie könnte doch Eltern haben, Verwandte, die sich vielleicht ängstigten um sie, die sie suchten! Denen sie wegen irgendeiner Läpperei, die nur in einem Mädchenkopf bedeutsam aussah, davongelaufen war! ... War es nicht seine Pflicht, sich über ihre Herkunft zu vergewissern? Wie hiess sie denn? Wer war sie? Er hätte am Ende gar kein Recht, sie hier zu behalten! Und er nahm mit einem peinlichen und unbequemen Empfinden die Tasche vom Tisch, wog sie, die so leicht war, in der Hand und legte sie schliesslich wieder hin, noch immer unentschlossen und ohne den Mut, den Bügel zu öffnen. —

      Dabei fiel ihm Tessi ein, die gleich wiederkommen musste mit ihrem Einkauf. Ein Nachthemd war dabei, das sie ihrer leidenden Mitschwester anziehen würde. Bei der Gelegenheit würde sie natürlich gleich die Tasche bemerken, und sie würde nicht einen Augenblick zögern, den Inhalt zu untersuchen. Wie’s bei Tessi Sommer mit der Diskretion aussah, darüber war sich der Journalist nicht so klar, im allgemeinen pflegen die Frauen von der Bühne keine Bücher mit sieben Siegeln zu sein ... Also ... schien’s ihm doch richtiger, er öffnete die Handtasche. Wenn wirklich ein Geheimnis sich hinter dem abgegriffenen Leder verbarg, so war es bei ihm sicher aufgehoben.

      Er schob den Mittelriegel zurück und schüttete, was darin war, auf die Tischdecke. Heraus fiel ein kleines, gesticktes Taschentuch, ein Portemonnaie mit drei Lockennadeln Inhalt, ein Schlüssel, eine Nagelfeile und ein Kuvert, das nicht verklebt war. In diesem war ein Zeugnis für Fräulein Hella Eichholz, das als Gesellschafterin vom 1. Juli 1922 bis 1. Oktober 1923 in einer Kaufmannsfamilie im Westen in Stellung gewesen war — das war sie, die jetzt dort im Bett um ihr Leben rang. Und ausserdem — Martin Deinhardt hielt das kleine, mit Vordruck versehene Stück Papier ganz entsetzt lange in seiner Hand — ein Entlassungsschein aus dem Moabiter Untersuchungsgefängnis.

      Es stand da gar nichts weiter, als dass die ledige Hella Eichholz, neunzehn Jahre alt, aus Neuenburg in der Mark gebürtig, vom 15. November an in Untersuchungshaft gesessen hatte und am 16. Januar, also vorgestern, entlassen worden war. Weshalb man sie eingesteckt, weswegen sie alsdann freigekommen war, von alledem verriet der karge Zettel nichts. Aber doch schien dem Manne, der erschüttert das Papier noch immer in der Hand hielt, ein furchtbares Geschick aus diesen toten Buchstaben emporzusteigen — eine solche Last von Leid und Schmerzen sich daraus zu erheben, dass es ihn schier unfassbar dünkte, wie ein so zartes Wesen sie hatte tragen können .. Freilich, sie war ja auch darunter zusammengebrochen, Seele und Leib zur gleichen Stunde.

      Martin Deinhardt sah die Kranke an, deren bleiche Hände sich bebend auf dem weissen Laken bewegten, und Tränen traten in seine Augen. Aber er wischte sie rasch fort ... Was konnte er wissen? Sie konnte ja ihr Weh selbst verschuldet haben .. war vielleicht seines Mitempfindens gar nicht wert ..

      Nein! er schüttelte energisch den Kopf, nein! Das arme Kind, das da in seinem Bett vielleicht sterben würde, hatte nichts getan, solchen Jammer zu verdienen! Er irrte sich nicht! Er sah durch das Gesicht hindurch, tief hinein in eine reine Seele.

      Es klopfte da draussen. Tessi.

      Rasch schob er den verhängnisvollen Zettel in seine Brieftasche und ging hinaus. Die Blonde kam herein, mit ihrem lebhaften Temperament nun schon ganz in der Rolle der Pflegerin und barmherzigen Schwester. Und sie bekam es fertig, die Kranke in frisches Linnen zu hüllen, ihr Arznei und selbst ein wenig Limonade einzuflössen. Dabei sah sie Deinhardt an, er merkte wohl, wieviel lieber sie ihn gepflegt haben würde.

      Er lachte, klopfte ihr die Wange und sagte:

      „Du bist ein Prachtmädel Tessi! Der Mann, der dich mal heiratet, wird’s gut haben!“

      4

      Im Kabarett „Zur roten Rosa“ gab es ein neues Programm. In der Kronenstrasse fuhren sich die Automobile und Equipagen fest, soviel Menschen wollten hinein in den Musenstall. Die Direktion, selbst eine starke Kraft für ihre kleine Bühne, mit den wilden Liedern des Aufruhrs und der revolutionären Panik, hatte einen neuen Menschen entdeckt, einen „Erleuchteten, Mystiker, Illuminaten, Schwärmer. Dichter und egozentrischen Heiland der letzten Stunde“ — so nannte er sich. Er trug eine weisse Toga und Sandalen, und wenn die Damen aus dem Westen sagten: „Sonst hat er überhaupt nichts an!“, fühlten sie sich von einem angenehmen Schauer überrieselt. Es hiess von dem Kabarett-Messias, dass er durch blosses Auflegen seiner überschlanken, weissen Hände die kranken Herzen heilen könne.

      Unter diesem Namen stand er auch auf dem Programm. Eben teilte sich der grellrote Samt, dessen Trennungslinie wie vom Blitz zerrissen war, wobei ein Knall ertönte, der jeden Abend ein paar kleine hysterische Schreie auslöste. Da stand der neue Heilige in der Pose des Thorwaldsenschen Christus vor einem Prospekt, der den Ölberg nahe der Stadt der Unsterblichkeit vortäuschen sollte. Esra erhob seine weissen Arme, dass die Ärmel der Toga herabsanken, und sprach mit einer leisen, wie aus mystischen Tiefen herauftönenden Stimme:

      „Ich bin gekommen, nicht um euch zu erfreuen mit eitlem Geschwätz und wollüstigen Gebärden, ihr Kinder Belials! Sehet meine Hände an,“ er spreizte die Finger mit den langen, blankgeschliffenen Nägeln, „seht ihr die Skorpione, die züngelnden Schlangen, die eure Seelen stechen und wundreissen sollen? Ein jedes Wort, das aus meinem Munde geht — zum pfeifenden Peitschenhieb muss es werden, der euren feisten Rücken geisselt!“

      Jemand lachte.

      Da schwoll die noch eben unterdrückte, fast klagende Stimme Esras zu wütendem Groll, er schmiss die Arme, die nackend leuchteten im Licht des Scheinwerfers, aufwärts, er schrie, er kreischte, er donnerte:

      „O Satan, du geschändeter Engel! Du Sohn Baals und der Hekate! Ihr lacht über mich! Ihr höhnt den, der gesandt ist von einem, der nach ihm kommt, als letzter Warner! Verderben sollt ihr! Gott hat eure Sünden gesehen, und er erbarmte sich eurer! Sein leuchtendes Angesicht war über eurer Tollheit, und er wollte euch retten! Ihr aber habt seine Gnade von euch gestossen! Die Hölle wird euch verschlingen! Unstet und flüchtig wird euer Herz sein, und wenn eure Stunde kommt, wird keine Träne die Höllenpein eurer Hinfahrt netzen, kein sanftes Verzeihungswort wird euch trösten! Ihr werdet hinfahren in euern Sünden und verdammt sein in Ewigkeit!“

      Die Stimme des Weissgekleideten war langsam ein dumpfes Murren und Brausen geworden. Das Licht der Bühne verfinsterte sich, es wich allgemach der Dämmerung, wie wenn die Nacht kommen will, und es wurde zuletzt stockfinster. Im nächsten Augenblick waren Bühne und Zuschauerraum strahlend hell — Esra verschwunden.

      Das Publikum redete durcheinander: „Eine Frechheit! Unverschämtheit! Runterschiessen sollte man den Kerl! Kommt man hierher, um sich von solchem Laffen anöden zu lassen?! ...“ Ein dicker Börsianer zuckte die Achseln: „Von mir aus kann der Herr aus der Wüste reden! ... Bloss dich soll er in Frieden lassen, mein Schnuckelchen! ...“ Das schöne Mädchen an seiner Seite zuckte die Schultern, die aus der Silberfarbe des Kleides hervorwuchsen wie klare Lilien: „Er hat doch recht! Du bist auch ein Sohn Belials!“ Sie hob ihre herrlichen Arme wie vorhin der Prophet. „Du Ausgeburt des Höllensumpfes! Du Scheusal! ...“

      Das Publikum brüllte, johlte und wieherte und brach in einen nicht mehr zu stopfenden Beifall aus. Dann setzte das Orchester ein mit dem Liede:


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