Richter und Henker - Roland Benito-Krimi 8. Inger Gammelgaard Madsen

Richter und Henker - Roland Benito-Krimi 8 - Inger Gammelgaard Madsen


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Schoß. Das lenkte ihn ein wenig ab. Der Daumen glitt über die Kanten und ließ die Scheine flattern und rascheln. Er grinste gierig. Doch dann hörten sie ein Geräusch, das so nahe war, dass alle drei zusammenzuckten. Sowohl Malte als auch Christoffer starrten erschrocken auf etwas hinter Runes Rücken. Der Schreck in ihren Augen glich dem, den er in dem Horrorfilm The Ring in Rachels Augen gesehen hatte, den sie sich neulich angeschaut hatten. Seine Nackenhaare sträubten sich. Dieser Ort war schon zuvor ziemlich creepy gewesen. Seine Muskeln versteiften sich so sehr, dass er sich nicht einmal umdrehen konnte.

      „Weg hier!“, rief Christoffer und folgte Malte, der schon längst davongerannt war. Rune schaffte es nicht. Er wurde brutal von hinten am Kragen seiner Cowboyjacke mit Lammfellfutter hochgezogen. Er keuchte, als er nach hinten gestoßen wurde und rücklings gegen jemanden prallte, der seinen Hals mit festem Griff umklammerte. Er konnte nicht sehen, wer es war, obwohl er versuchte, seinen Kopf zu drehen und sich wand wie ein Aal. Doch jetzt sah er, wie der Mann, der ihn vom Boden gehoben hatte, hinter Malte und Christoffer herlief. Er schaltete einen mächtigen Baustellenscheinwerfer mit Handgriff an. Schnell fand der Lichtstrahl die beiden, die am anderen Ende des Gebäudes gefangen waren und nicht mehr weiterkonnten. Wieder musste Rune an aufgeschreckte Tiere denken. Es hatte begonnen zu schneien, wie er im Schein der Laterne draußen erkennen konnte. Der, der seinen Brustkorb umklammerte, roch nach ledrigem Schweiß und etwas anderem, vertrauten, starken Geruch. Menthol? Rune konnte sich nicht bewegen und allmählich verließ ihn seine Kraft. Tränen schnürten ihm den Hals zu. Er starrte auf die Szenerie, die sich vor seinen Augen abspielte, wie in einem schlechten Dogma-Film, stets wechselnd zwischen Dunkelheit, Schneeflocken und dem flackernden Schein der enormen Lampe des Mannes. Wer war mit so einer Lampe unterwegs? War das ein schlechter Traum? Ein Albtraum? Konnten es Halluzinationen sein? Wo hatte Christoffer eigentlich das Gras her? Doch der feste, muskulöse Arm um seinen Hals fühlte sich real an. Der Klammergriff schien immer fester und fester zu werden, als würde das, was sich da vor ihnen abspielte, den Mann in einen Zustand versetzen, in dem er völlig vergaß, dass er Rune fast erwürgte, während er schwer und hitzig atmete. Rune rang nach Luft und zog und zerrte an seinen Armen. Die Nägel bohrten sich in das Leder der Jacke, ohne dass sich der Griff lockerte. Im Gegenteil. Hätte er gekonnt, hätte er laut um Hilfe geschrien, die Angreifer angeschrien, ob sie sich im Klaren darüber waren, wer er war und mit wem sie es eigentlich zu tun hatten.

      Kapitel 2

      „Verdammter Köter!“

      Er hasste ihn. Es war der Hund seiner Frau. Hätte er die Wahl gehabt, hätte er sich sicher nicht für diese Rasse entschieden, sondern für einen großen Hund. Einen, der den Leuten Respekt einflößte, wenn man mit ihm spazieren ging. Kein Kampfhund natürlich. Nicht diese Art von Respekt. Vielleicht ein Schäferhund, oder ein Dobermann – eben einer, der auch im Privatheim Wache halten konnte. Kein Schoßhündchen wie Kvik – allein schon der Name! Er wollte doch nicht mit dem Schweinehändler aus der dänischen TV Serie Matador verwechselt werden, auch wenn so manch einer darauf bestand, dass er Ähnlichkeit mit dem Darsteller Buster Larsen hatte. Kvik war ein dänisch-schwedischer Gaardhund und hätte bestimmt ein guter Wachhund werden können, wenn er von klein auf richtig erzogen worden wäre. Aber wer hatte schon Zeit für so etwas? Das Gassi gehen war jedoch eine gute Möglichkeit, um von zu Hause wegzukommen und bei sich selbst zu sein, in Ruhe seine Zigarette zu rauchen und ein wenig frische Luft zu schnappen. Deshalb machte er es freiwillig.

      Sigurd Karlsson nahm noch einen Zug und hörte die Bahn auf der anderen Seite des Hains vorbeiheulen. Er zog sich die Mütze tiefer ins Gesicht. Er ging fast jeden Tag die gleiche Route auf den Pfaden hinter dem grünen Wohngebiet Helenelyst.

      Noch einmal rief er den Hund und versuchte dabei, den Ärger in seiner Stimme zu verbergen. Es war zwecklos; der Hund folgte sowieso nicht. Er hatte sich losgerissen und war abgehauen, während Sigurd beide Hände gebraucht hatte, um, sich eine Zigarette anzustecken, weil er die Flamme vor dem Wind schützen musste. Er schaffte es nicht mehr rechtzeitig, die Leine zu schnappen, die mitsamt Kvik auf dem schneebedeckten Pfad zwischen den Bäumen aus seinen Augen verschwand. Das hatte das Vieh noch nie gemacht. Es war, als würde es von etwas Unwiderstehlichem angezogen. Auf der anderen Seite des Hains stand das verlassene Schlachthaus der Tulip-Fabrik in jämmerlichem Zustand. Wenn nun Kvik dort hineingelaufen war … dort wollte er wirklich keinen Fuß hineinsetzen. Nie wieder. Einst herrschte dort drinnen Leben und Bewegung bei der Produktion von Abendgerichten und Dosenschinken. Rund 190 Mitarbeiter bestritten dort ihre täglichen Arbeitsabläufe – unter ihnen er selbst und seine Frau bis Tulip beschloss, den Schinken von nun an billiger im Ausland zu produzieren.

      Es war nicht schwer, der Fährte des Hundes durch den tauenden Schnee zu folgen. Außer dessen frischen Pfotenabdrücken waren keine anderen Spuren zu sehen. Er beruhigte sich selbst damit, dass vor dem Fabrikgebäude ein Stahlzaun angebracht war, sodass der Hund bestimmt nur davorstehen und gaffen würde.

      Vorsichtig bahnte er sich einen Weg durch die Bäume, schob Zweige zur Seite und erreichte den Weg. Kvik war nicht am Zaun zu sehen, doch als er näherkam, sah er, dass ein großes Loch hineingeschnitten war. Die Spuren führten durch das Loch hindurch, hinein in das Gelände und verschwanden im Wasser, wo der Schnee schon geschmolzen war. Tulip hatte vor Jahren seine Pforten geschlossen, daher konnte es wohl kaum Fleischgeruch sein, der ihn angelockt hatte. Verflucht noch mal! Er hatte Lust, umzudrehen und seiner Frau zu erzählen, dass der Hund abgehauen war und schon seinen Weg nach Hause finden würde, wenn er hungrig wäre. Doch was, wenn er auf dem Weg zu den Bahnschienen war? Er sammelte sich, folgte dem Zaun und blieb längere Zeit höchst verwundert vor der geöffneten Schranke und dem mit Graffitis übermalten Fabrikgebäude stehen. Der Zugang war frei. Zögernd steuerte er auf den nassen, schwarzen Asphalt zu und zog seine karierte Outdoorjacke fester um sich. Seit die Fabrik zugemacht hatte, hatte er sich nie mehr so nahe an sie herangewagt. Er hatte hier nichts mehr zu suchen; niemand hatte das. Nur dubiose Gestalten trieben ihr Unwesen in diesem Gebäude, das gleichzeitig als lebensgefährlicher Spielplatz von den Kindern im Viertel missbraucht wurde. Junge Randalierer stahlen Eisen aus der Ruine und schraubten auf dem Gelände an Autos herum. Obdachlose zogen hierher, um Schutz vor Schnee und Wind zu suchen, und hinterließen abgenutzte Matratzen, leere Konservendosen und anderen Müll. Er hatte auch gehört, dass die Naturschutzvereinigung Pläne zu einem Bauprojekt über rund 400 neue Wohnungen verhindert haben sollte, mit der Begründung, es handle sich hier um ein Naturschutzgebiet. Die Natur in all ihrer Schönheit – genau! Wie konnte man so etwas durchgehen lassen? Warum wurde dieses Gebäude nicht einfach abgerissen? Lieber Ziegeltrümmer als diese gefährliche Ruine! Unter seinen Schuhen knirschte es. Sämtliche Scheiben waren mit Steinen eingeschlagen worden, die inmitten tausender Glassplitter über den Boden verstreut lagen. Einige dieser Steine waren kreisförmig platziert worden, wie eine Art okkultes Symbol. Seine Brille beschlug. Verzweifelt fluchte er erneut und rieb die Gläser am Futter der Jacke.

      „Kvik, verdammt noch mal, komm her, du dummer Köter!“

      Diesmal war seine Wut deutlich hörbar. Die Stimme hallte im leeren Gebäude nach. Plötzlich erblickte er Blut zwischen den Glasscherben. Genug, um ihn erschaudern zu lassen. Weiter vorn war ein deutlicher Abdruck einer blutigen Pfote am Boden zu erkennen. Ein Tier musste sich geschnitten haben. Eine Katze vielleicht. Oder Kvik?

      „Kvik, komm schon! Kviiik?“

      Seine Stimme hatte ganz automatisch einen sanfteren Ton angenommen, beinahe entschuldigend und tröstend, vielleicht auch ein wenig ängstlich. Er wollte nicht hier drinnen sein, in diesem verlassenen Schlachthaus. Was hatte Kvik bloß hier hineingezogen? Gemischte Gefühle an eine Vergangenheit am Arbeitsmarkt, den er sowohl hasste als auch vermisste, kamen in ihm hoch. Graffitikünstler hatten sich mit bunten Farben an den weißen Fliesen ausgetobt. Vielleicht sollte das schön aussehen, er hatte jedenfalls kein Gespür dafür. Ein seltsamer Kontrast zwischen Verfall und Kunstinstallation. Immer wieder pilgerten Amateurfotografen zu diesem Gebäude, um Bilder zu schießen, wie ihm zu Ohren gekommen war; jetzt verstand er besser, warum.

      Er betrat einen großen Raum. Die Schlachthalle. Er stellte sich vor, wie sie damals ausgesehen hatte: die toten Schweine, wie sie an ihren Haken hingen und die Schlachthausmitarbeiter, die fleißig mit ihren scharfen Messern zugange waren; der Geruch von Blut und


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