Richter und Henker - Roland Benito-Krimi 8. Inger Gammelgaard Madsen

Richter und Henker - Roland Benito-Krimi 8 - Inger Gammelgaard Madsen


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Kurt Olsens Handy – bestimmt, um den neuen Angestellten nicht beim ersten Treffen mit seiner Abteilung zu stören.

      Kurt Olsen lauschte, während es um ihn herum wieder ganz still wurde.

      „Selbstmorde? Kann das denn nicht warten?“, fragte er ein wenig gereizt und warf Anker Dahl, der seinen Krawattenknoten zurechtmachte und eine Augenbraue hob, einen verstohlenen Blick zu. Dort wo er herkam war es bestimmt nicht üblich, unterbrochen zu werden, daran würde er sich wohl noch gewöhnen müssen. Kurt Olsen konnte es selbst nicht leiden, doch darauf wurde selten Rücksicht genommen.

      „Okay, also die Leichenschau ist bereits im Gange? Okay, danke.“

      Er legte auf. Aus einer alten Gewohnheit heraus richtete er seinen Blick auf das Tischende und traf Anker Dahls Blick. Er war nicht barsch, dunkel und mild zugleich wie Roland Benitos – es war ein wasserblauer, kühler Blick, dazu fähig, sich in jegliches schlechte Gewissen einer unehrlichen Person zu bohren.

      „Noch ein Selbstmord?“, fragte Mikkel Jensen mit brüchiger Stimme vom gegenüberliegenden Ende des Tisches. Er war derjenige, den die Veränderungen der letzten Zeit am meisten berührten. Er war auch über viele Jahre hinweg Rolands treuer Arbeitspartner gewesen, daher behandelten ihn alle mit Mitgefühl und Verständnis.

      „Sieht so aus. Drei junge Burschen haben sich in der Schlachthalle in der alten Tulip-Ruine bei Brabrand erhängt. Die Rechtsmedizinerin meint aber, dass wir einen genaueren Blick darauf werfen sollten. Einer der Jungen hat eine Wunde am Arm, die ihrer Meinung nach von einem Projektil stammen könnte.“

      „Hat man Schusswaffe, Patronenhülsen oder Projektile am Tatort gefunden?“ Anker Dahl war schnell bereit, sich in den Kampf zu stürzen.

      „Nicht, soweit ich weiß. Die Untersuchungen sind bestimmt noch am Laufen.“

      „Kann ein Zusammenhang mit der Schießerei im Sportladen gestern Abend bestehen?“, fragte Isabella Munch. „Andere gab es wohl nicht, oder?“

      „Niemand kann jetzt schon sagen, ob es eine Dienstwaffe war, die …“

      „Eine Dienstwaffe?“, unterbrach Dahl und blickte ihn mit einer hochgezogenen Augenbraue an.

      Kurt Olsen räusperte sich. Es war mehr als nur Roland Benitos überraschender Rücktritt, der die Stimmung im Präsidium beeinflusste. Was hielt der neue Kommissar bloß von seinem neuen Arbeitsplatz? An Anker Dahls Gesichtsausdruck war deutlich zu erkennen, dass er ihm die Geschichte erklären musste.

      „Gestern Abend gab es einen Einbruch in einem Sportgeschäft am Telefonplatz. Gegen die Angestellten wurde Pfefferspray eingesetzt. Ein lungenkranker Verkaufsassistent mittleren Alters hat leider nicht überlebt. Die Polizei wurde gleich gerufen und der nächste erreichbare Streifenwagen war auch rasch zur Stelle. Einer der Polizeibeamten hat die Täter verfolgt, die durch den Bustunnel Richtung Åboulevard geflohen sind. Zeugen haben ausgesagt, dass es sich um vier junge Männer handelte. Der Polizist hat ihnen nachgerufen. Einer von ihnen hat sich umgedreht und etwas auf ihn gerichtet, das er für eine Pistole hielt. Zu dem Zeitpunkt wusste er aber noch nicht, wie der Mann im Laden umgekommen war. Er hat also einen Warnschuss abgefeuert, war aber selbst nicht der Meinung, etwas oder jemanden getroffen zu haben, weil er absichtlich weit daneben gezielt hatte. Man hat jedoch Blutspuren an dieser Stelle gefunden. Die Diebe sind mit einem gestohlenen Wagen verschwunden.“

      „Ist die Angelegenheit mit dem Polizeibeamten gemeldet worden?“, fragte Anker Dahl.

      Kurt Olsen nickte und sah die anderen mit gerunzelter Stirn an. „Und diese Geschichte soll nun etwas mit den erhängten Jungen zu tun haben?“, fragte Dahl weiter und bemerkte offensichtlich nicht, dass die Stimmung gedrückter war denn je.

      „Das ist das, was wir untersuchen sollen. Es sieht ja nicht gerade nach Selbstmord aus, wenn …“

      „Und davon gab es mehrere, wie ich höre?“

      „Ja, die Zahl ist in der dunklen Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr auf mehr als das Übliche gestiegen.“

      „Um wie viele handelt es sich?“

      „Fünf, im Abstand von mehreren Wochen. Vier haben sich erhängt – alles Männer – und eine Frau, die anscheinend nach der Einnahme von Gift umgekommen ist.“

      „Hmm. Aber sonst nichts Auffälliges?“

      „Die Rechtsmedizinerin konnte in keinem der Fälle ein Verbrechen nachweisen, daher sind sie als Selbstmorde archiviert worden.“

      „Wer hat die Jungen gefunden?“, fragte Mikkel Jensen.

      Er war offenbar darauf erpicht, sich durch Arbeit von all den anderen Unglücksfällen abzulenken, die das Präsidium einstecken musste.

      „Ein Hundebesitzer, dessen Hund heute Vormittag abgehauen und in die Schlachthalle gelaufen ist. Dort hat er die Jungen entdeckt.“

      „Sind sie schon identifiziert worden?“

      „Noch nicht. Sie hatten nichts bei sich, weder Handys noch Geldbeutel oder irgendetwas anderes, was an sich schon verwunderlich ist. Ich kontaktiere die Rechtsmedizin und sehe mir an, worum sich die Mordkommission kümmern könnte.“

      Anker Dahl nickte.

      „Wir werden uns den Fall noch mal ansehen, wenn wir mehr wissen.“

      Dahl fing die Blicke der Gruppe ein, als würde er ihnen eine Zustimmung abverlangen, doch sie saßen stiller und stummer vor ihm, als sie es sonst zu tun pflegten, was er natürlich nicht wissen konnte.

      Mit einem Gefühl der Erleichterung lehnte sich Kurt Olsen zurück in seinen Bürostuhl. Da war es wieder, dieses wir. Zwei Mal sogar. Der neue Mann schien dasselbe Feuer in der Seele zu haben wie Roland Benito. Vielleicht würde seine letzte Zeit hier auf dem Präsidium doch nicht so belastend werden, auch wenn Benito nicht mehr da war.

      Kapitel 4

      Schneehaufen, Eis und Schmelzwasser vermischten sich in der Sonne auf den dem Winter trotzenden Feldern mit grau verdorrtem Gras. Der Himmel war klar und blau, die Luft rau und mit einem Hauch Frost versetzt, der die ländlichen Gerüche verharmloste, von denen er wusste, dass sie da waren.

      Benjamin Trolle kniff die Augen zusammen, denn er wollte nicht nach seiner Sonnenbrille suchen, die sich irgendwo in seiner Tasche befand. Mit resolutem Schritt marschierte er vorwärts, nachdem die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, und plötzlich überkam ihn das enttäuschende Gefühl, dass es nicht so war, wie er es sich all die Jahre lang vorgestellt hatte. Er hatte den festen Entschluss gefasst, sich, wenn der Tag einst käme, nicht mehr umzudrehen. Er wollte nicht zurückschauen. Doch der Drang war zu groß; noch bevor er den Parkplatz verlassen hatte, hatte er es getan, hatte sich umgedreht und die topmodernen Gebäude angesehen, die gar nicht mehr dem glichen, was sie einmal gewesen waren. Rechteckige, gelbe Backsteinfassaden und an die ländliche Umgebung angepasste Zinkdächer. Nur die sechs Meter hohe, beidseitig mit Stacheldraht versehene Ringmauer, die Masten mit den Kameras und die mit Sensoren ausgestatteten Kabel, die an den Zaun aus Jurassic Park erinnerten und jeglichen Gedanken an Flucht lächerlich machten, verrieten, dass es sich hierbei nicht um einen modernen Kurort, ein Krankenhaus oder etwa einen hübschen neuen Wohnkomplex handelte, sondern dass hier wilde Tiere eingesperrt waren. Monster, die nicht das Recht hatten, gemeinsam mit normalen, rechtschaffenen Menschen zusammenzuleben, die einer sicheren Umgebung bedurften. Vor hier aus sah die Strafanstalt Ostjütlands leer und verlassen aus, doch er wusste nur zu gut, dass sich hinter den Mauern viel mehr abspielte, als sich in der prächtigen Fassade widerspiegelte.

      Vögel erhoben sich von der Umzäunung und flogen gen Himmel. Er dachte an die Schwalben im Sommer. Sie wirkten immer so unbeschwert und sorgenfrei, wenn sie fröhlich am Himmel tanzten. Jeden Morgen hatte er sie durch die Gitterstäbe des Balkons beobachtet und beneidet, wie sie über den kleinen See mit seinen Schwänen und Enten und über den fein säuberlich getrimmten Rasen zwischen den Gebäuden schwebten. Noch mehr sogar, wenn sie im Herbst dann Richtung Süden zogen. Wie ein Verrückter hatte er sich nach dieser Freiheit gesehnt. Doch die Vögel


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