Richter und Henker - Roland Benito-Krimi 8. Inger Gammelgaard Madsen

Richter und Henker - Roland Benito-Krimi 8 - Inger Gammelgaard Madsen


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ihre Lippen aneinander, um den Lippenstift zu verteilen und nahm das orangefarbene Mikrofon mit dem TV2-Logo, das er ihr reichte. Sie standen vor der stillgelegten Tulip-Schlachtanlage in Brabrand, die mit dem Sperrband der Polizei abgezäunt war. Die Leichen der drei Jungen waren bereits abgeholt worden, nur die Kriminaltechniker waren noch an der Arbeit im Gebäude, doch viel mehr war nicht dran an der Story. In letzter Zeit hatten sich die Selbstmorde gehäuft, sodass die Leute schon fast abgestumpft wirkten, aber das Gerücht darüber, dass es möglicherweise der Schuss aus der Dienstwaffe eines Polizisten war, der einen der erhängten Jungen verletzt haben könnte, bot großen Sensationswert. Niemand aus dem Polizeipräsidium Aarhus wollte sich dazu äußern, was die ganze Sache noch suspekter machte.

      Der Kameramann nickte ihr ein Startzeichen zu und sie hörte die Stimme des Moderators in ihrem In-Ear-Kopfhörer. Sie hatte eine schnelle Zusammenfassung dessen bekommen, was gefragt werden würde, doch für die Vorbereitung der Antworten war nicht viel Zeit geblieben. Jetzt war sie auf Sendung. Live. Das rote Licht an der Kamera leuchtete. Ein Lächeln eignete sich nicht für diese Situation, daher setzte sie eine ernste Miene auf und verstellte ihren Tonfall, sodass sie ein wenig wie Jytte klang, der sie schon einige Male zugehört hatte.

      „Nein, wir haben noch keine Informationen darüber, wer die drei Jungen sind und ob es tatsächlich die Diebe waren, auf die die Polizei gestern Abend nach dem Einbruch im Sportladen am Telefonplatz geschossen hat“, antwortete sie auf die Frage des Moderators im Studio und blickte direkt in die Kamera, justierte den Kopfhörer, der dabei war, ihr aus dem Ohr zu gleiten, zurück auf seinen Platz und lauschte. „Nein, es wurde noch nicht bestätigt, dass das Projektil, von dem eines der Opfer getroffen wurde, aus der Dienstwaffe stammt. Soweit ich informiert bin, wurde das Projektil noch nicht gefunden.“ Sie lauschte erneut der Stimme aus dem Kopfhörer und nickte, um zu zeigen, dass sie ihn hörte und verstand. Der Moderator konnte im Studio dasselbe sehen, was auf den Bildschirmen in den Wohnzimmern all jener zu sehen war, die jetzt TV2 Ostjütland schauten.

      „Gibt es Neuigkeiten über den Polizisten, der schoss?“, fragte der Moderator.

      Anne schüttelte den Kopf.

      „Die DUP, die Dänische Unabhängige Polizeibeschwerdestelle, wird auf den Fall angesetzt. Selbstverständlich bleiben wir dran.“

      Sie wusste, dass sie zuvor einen Filmclip von der Schießerei gezeigt hatten, der von einem Zeugen mit seinem Smartphone aufgenommen und auf YouTube gestellt worden war. Es war jedoch dunkel und die Bilder unscharf und verwackelt, sodass schwer zu erkennen war, wer schoss und worauf geschossen wurde. Deshalb konnten die Täter anhand der Bilder nicht identifiziert werden. Der Moderator bedankte sich bei der Journalistin Anne Larsen und versprach, um 19.30 Uhr mit weiteren Neuigkeiten zurück zu sein. Die Verbindung brach ab. Anne zog den Stöpsel aus dem Ohr und bemerkte erst jetzt, dass ihr Herz chaotisch galoppierte.

      „Gut gemacht, Anne! Fast schon professionell. Super für das erste Mal jedenfalls“, sagte der Kameramann und stupste ihr mit der Faust kameradschaftlich gegen die Schulter. „Außerdem siehst du verdammt gut aus, wenn du so zurechtgemacht bist.“ Er zwinkerte ihr schmeichelnd zu.

      Annes dankbares Lächeln zitterte in den Mundwinkeln; jetzt brauchte sie eine Zigarette. Als sich der Geschmack einer weißen Kings in Mundhöhle und Kehle breitmachte, erlebte sie eine Reaktion wie nach einer geglückten Sportleistung – glaubte sie jedenfalls, denn besonders viele solcher Art hatte sie nicht gemacht. Jedenfalls hatte sie es nicht vermasselt oder irgendeinen Fehler gemacht, keine peinlichen Pausen gehalten oder sich nervös an ihrer Spucke verschluckt; ihr Mund war trocken gewesen, aber das hatte man nicht hören können, hoffte sie. Es war ein richtig tolles Gefühl, etwas mündlich anstatt schriftlich zu vermitteln. Irgendwie mächtiger.

      „Bereit für die nächste Show?“, fragte der Kameramann.

      Anne zog an ihrer Zigarette und nickte eifrig. Sie würde das hier noch zu schätzen wissen, auch wenn sie ihre Bedenken gehabt hatte, als sie sich wieder dazu entschlossen hatte, Freelance-Journalistin zu werden und sich TV2 Ostjütland dann auch noch völlig unerwartet mit einer Aufgabe für sie gemeldet hatte. Sie hatten wohl ihren Diskussionsbeitrag in der dänischen Tageszeitung Politiken gelesen, diese Kritik an der Berichterstattung im Media House Denmark, die ihr Kündigungsschreiben endgültig besiegelt hatte und von dem Anne zuerst befürchtet hatte, sie hätte sich dadurch alle Aussichten verbaut. Es hätte jedoch auch so gedeutet werden können, dass sie eine ehrliche Journalistin war, die die Informationen, die die Bevölkerung bekommen sollte, egal worum es sich dabei drehte, nicht zensieren wollte, und das passte gut mit den Vorstellungen des kleinen TV-Senders zusammen. Aber das Fernsehen – war das etwas für sie? So viele Jahre lang waren Printmedien ihr täglich Brot gewesen und sie hatte Bedenken gehabt, ob sie sich auf das neue Medium würde einstellen können. Doch die Arbeit als Journalistin war ja im Grunde genommen die gleiche, und als TV2 Ostjütland später fragte, ob sie sich vorstellen könnte, ein Praktikum als Journalistin in der Nachrichtenredaktion zu machen, gab es nicht viel zu überlegen. Sie war jedoch immer noch in der Ausbildung und hätte sich nie vorstellen können, so schnell selbst als Reporterin vor der Kamera zu stehen und im Live-TV zu berichten.

      Ein schwarz-weißer Gaardhund schnüffelte an ihrem Hosenbein und holte sie zurück auf die Erde. Vor langer Zeit hatte sie der Hund ihrer Großeltern, die gleiche Rasse gewesen sein Rasse, gebissen, sodass sie in die Notaufnahme musste. Obwohl sie damals noch ein kleines Mädchen gewesen war, hatte sie das nicht vergessen. Die Narben an ihrem Knöchel waren noch zu sehen, seither hatte sie Angst vor Hunden, besonders vor den kleinen.

      „Sigurd Karlsson“, stellte sich der Mann vor, der den Hund stramm an der Leine hielt. „Sie wollten mit mir sprechen?“

      Das musste der Mann gewesen sein, der die drei Jungen gefunden hatte. Genauer gesagt, hatte der Hund sie gefunden. Sie betrachtete das Tier skeptisch und schüttelte die Hand, die ihr Sigurd Karlsson entgegenstreckte.

      „Genau, danke, dass Sie gekommen sind“, sagte sie und lächelte.

      Es war Jytte Thomson gewesen, die die Verabredung getroffen hatte, doch Anne hatte den Mann ausfindig gemacht.

      „Was möchten Sie gerne wissen?“ Mit einem kräftigen Ruck an der Leine zog Sigurd Karlsson den Hund von ihr weg; er winselte leise.

      „Können Sie uns erzählen, wie Sie die Jungen gefunden haben?“

      „Wird das gefilmt?“, fragte er und folgte dem Kameramann mit den Augen, als dieser sich mit der schweren Kamera auf der Schulter näherte.

      „Natürlich wird das aufgenommen!“ Jytte kam ganz außer Puste in hochhackigen Stiefeln über den matschigen Asphalt angelaufen.

      „Tut mir leid, ich bin zu spät. Mein Sohn hatte einen Unfall. Wir filmen natürlich nicht, wenn Sie das nicht wollen“, fügte sie hinzu und streckte ihm die Hand, schon lange bevor sie angekommen war, zum Gruß entgegen.

      Sigurd nickte nur. „Es macht mir nichts aus. Wie ich höre, war es vielleicht gar kein Selbstmord“, sagte er besorgt.

      „Woher wissen Sie das?“ platzte es aus Anne heraus, obwohl es sonnenklar war. Twitter und Facebook waren schneller mit den Neuigkeiten draußen, als die Journalisten damit fertig sein konnten.

      „Meine Frau hat das gesagt. Hat ihr bestimmt meine Tochter erzählt …“

      „Sollen wir in das Gebäude gehen, wo Sie die Jungen gefunden haben?“

      „Das dürfen wir nicht. Die Kriminaltechniker sind noch immer an der Arbeit“, sagte Anne und konnte die Enttäuschung in ihrer Stimme nicht ganz verbergen. Jetzt hatte sie sich schon auf noch einen Kick vor der Kamera gefreut und nun war Jytte gekommen.

      „Shit. Na gut, dann müssen wir es hier draußen machen. Stellen Sie sich hierhin.“

      Jytte bugsierte den Mann mit dem Hund näher an das Gebäude.

      „Das Bonbonband von der Polizei soll mit ins Bild“, kommandierte sie den Kameramann herum.

      Der Countdown lief. Anne hielt sich brav im Hintergrund und half Flash mit einer reflektierenden Folie, die das Licht fangen und


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