Richter und Henker - Roland Benito-Krimi 8. Inger Gammelgaard Madsen

Richter und Henker - Roland Benito-Krimi 8 - Inger Gammelgaard Madsen


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freigelassen worden und trotzdem fühlte es sich nicht wie Freiheit an. Das, was passiert war, würde ihn weiterhin gefangen halten, bis er ausgleichende Gerechtigkeit bekam. Die gleiche Gerechtigkeit, die denjenigen, die ihn hier hineingebracht hatten, ihrer Ansicht nach zuteil geworden war. Oder war es Rache, was er sich herbeiwünschte? Was war eigentlich der Unterschied?

      Er drehte dem Gebäude wieder seinen Rücken zu und versuchte, in den Rhythmus desselben entschlossenen Schrittes wie früher zu kommen, doch plötzlich waren seine Schritte zögerlich geworden. War er dafür bereit? Hatte ihn der Zustand der letzten vier Jahre so sehr verändert, dass er nicht einmal einen gewöhnlichen Tag, ohne ums Überleben kämpfen zu müssen, genießen konnte? Wie Soldaten, die nach ihrer Heimkehr wieder ihr normales Leben aufnehmen sollten. Hatte er es geschafft, sich ausreichend zu verbessern?

      Die Tasche war schwer und der Riemen schnitt in seine Schulter. Die Haltestelle des Busses Nr. 110 lag an der Frodesdalstraße, ein Stück weit von den zwei „Unbefugten ist der Zutritt untersagt“-Schildern entfernt, die an beiden Seiten des Weges angebracht waren. Erst nach diesen Schildern fühlt man die Freiheit, hatte ein Häftling einmal gesagt, einer, der kurze Zeit nach der Entlassung wieder in die Falle getappt und zurückgekommen war. Er musste diesen knappen Kilometer hinuntergehen und er hatte genug Zeit. Der Bus fuhr nach Horsens, wo er den Zug nach Aarhus nehmen sollte. Der Schlüssel zu ihrem Reihenhaus befand sich in seiner Manteltasche. Sie hatte ihn ihm diskret zugesteckt, als ihm seine Sachen und das Geld, das er sich bei der Arbeit in der Werkstatt verdient hatte, übergeben wurden. Niemand hatte es gesehen. Zuerst ließ sie ihn auf den Boden fallen und tat, als wäre es sein Schlüssel, als sie ihn aufhob und ihm überreichte. Eine listige Füchsin war sie. Aber das musste man sein, wenn man an so einem Ort arbeitete. Besonders als Frau.

      Er trippelte mit tief in den Manteltaschen vergrabenen Händen auf der Stelle hin und her, um sich warm zu halten, während er nach dem Bus Ausschau hielt. Hier gab es keinen Schutz vor dem Wind, der die Frostgrade noch kälter wirken ließ. Wohin man auch sah, hier gab es nur offene Felder. Unfruchtbarkeit und Tod warteten hier auf bessere Zeiten, genau wie er selbst. Mit gefrorenen Fingern wühlte er nach der Zigarettenschachtel in seiner Manteltasche. Mit dem ersten Zug unter freiem Himmel fühlte er sich endlich wieder lebendig. Vor vier Jahren war es ihm gelungen, mit dem Rauchen aufzuhören und ein halbes Jahr lang nach seiner Verhaftung hatte er keine Zigarette angerührt, doch im Gefängnis war es unvermeidbar. Ohne sie hätte er es nicht ausgehalten.

      Endlich kam der Bus. Schnell ließ er die Zigarette auf den Boden fallen, obwohl sie erst zur Hälfte abgebrannt war, trat die Glut auf dem Asphalt aus, rückte die Tasche zurecht und betrat die Stufen, die zum Busfahrer führten. Er trug eine moderne Brille in seinem fetten Gesicht und hatte sein Haar über die Glatze gekämmt. Verachtung schimmerte in seinen blassen Augen, als er das Geld entgegennahm. Er wusste ohne Zweifel, dass es mit Gefängnisarbeit verdient war, wie es auf die meisten zutraf, die an dieser Haltestelle zustiegen. Nicht viele Leute waren im Bus. Es roch nach Leberwurst und Banane, als hätte jemand gerade einen Snack verdrückt. Vielleicht der Fahrer in seiner Pause. Benjamin Trolle setzte sich auf den hintersten Sitz. Der Bus fuhr an. Er fühlte den Blick des Fahrers oben im Spiegel, wusste, dass der gerade überlegte, wofür er gesessen hatte. Der Fette hörte ein Wunschkonzert im Radio. Ungesunder Job, zu viele Zigaretten, Alkohol und zu wenig Bewegung, schätzte er. Willkommen zurück in den Trivialitäten des Alltags. Ausgelaugt ließ er den Kopf in den Sitz sinken und schloss die Augen. Diesmal drehte er sich nicht um.

      Der Hauptbahnhof von Aarhus war einer größeren Renovierung unterzogen worden, seit er das letzte Mal dort gewesen war. Jedenfalls konnte er sich nicht daran erinnern, dass die Verstrebungen über den Gleisen rot gewesen wären. Auch die Anzeigetafeln waren neu und die Beleuchtung anders. In vier Jahren hatte sich viel getan. Der Verkehr war jedoch derselbe. Lange blieb er auf der Treppe stehen und schaute sich um, wie ein Krieger, der nach einem Marsch ins Feindesland in die Heimat zurückkehrte. Jedoch ohne Siegesgefühl. Im Gegenteil. Was macht man am ersten Tag in Freiheit? Er umklammerte ihren Schlüssel fest in der Manteltasche; das Metall war kalt und bohrte sich in seine Handfläche. Der Schmerz tat gut. Er lenkte ihn von dem Schmerz in seinem Inneren ab. Dann fasste er einen Entschluss, warf sich die Tasche über die Schulter und machte sich auf den wohlbekannten Weg ins Dr. Watson, von dem er hoffte, dass es noch existierte. Dort konnte er sich in der Dunkelheit und dem Geruch der Kneipe verbergen, bis er nach Hause kam.

      Erneut blieb er stehen und nahm alle Eindrücke auf. Betrachtete eine ganze Weile lang die Fassade und den Fries mit den hüpfenden Melonen über den Fenstern – oder waren es Ufos? Darüber hatten er und seine Kumpels oft gewitzelt, wenn sie betrunken von hier aus nach Hause gegangen waren. Das war lange her. Eine Ära. So kam es ihm vor.

      Das Personal war natürlich nicht mehr dasselbe. Die Jukebox schwieg, funktionierte bestimmt nicht mehr, doch der Fernseher lief mit leisem Ton, der sich mit dem Geräusch aus einem der drei Spielautomaten vermischte. Er bestellte einen „Aarhuser Satz“, denn da wusste er, was er bekam – das gängige Lokalbier Ceres Top und einen Schluck Arnbitter. Seine Augen klebten am Bildschirm, ohne wirklich wahrzunehmen, was sie sahen. Aus dem Augenwinkel heraus bemerkte er die Person am Spielautomaten. War das etwa Skipper? Selbstverständlich würde er jetzt schon hier auf einen von ihnen stoßen. Nicht gerade das, was er jetzt brauchte. Er hatte gehofft, es wäre noch zu früh am Tag gewesen. Oder dass sie diese schlechten Angewohnheiten hinter sich gelassen hatten. In ihrem Leben weitergekommen waren. Es war ihm zu früh, jetzt schon zur Rechenschaft gezogen zu werden. Seine erste Überlegung war, aufzustehen, zu bezahlen und sich aus dem Staub zu machen, doch dann entdeckte ihn Skipper ebenfalls. Seine Augen wurden groß und rund und sein Mund öffnete sich halb, als hätte er ein Gespenst gesehen. Einen Moment lang war auch er versucht, wegzulaufen, das war ihm anzusehen, oder zumindest so zu tun, als würde er ihn nicht erkennen. Vielleicht tat er das wirklich nicht, nach all den Jahren. Trolle hatte keine Ahnung, wie sehr er sich über die Jahre eigentlich verändert hatte. Doch dann erhob sich der große Mann doch noch, holte sein zur Hälfte geleertes Glas aus der Ecke des Schanktisches und wankte auf ihn zu. Es war nicht sein erstes Glas. Er musste sich auf dem Weg zu ihm an der Theke abstützen.

      „Was zur Hölle, Trolle! Bist du abgehauen?“

      „Natürlich nicht, niemand kommt da raus, Mann.“

      Er betrachtete seinen alten Freund. Der Lauf der Zeit hatte eine Veränderung mit sich gebracht, jedoch bestimmt keine Renovierung. Der Bierbauch war größer geworden, die Haare auf dem Kopf spärlicher und die Augenringe dunkler. Seine Kapitänsmütze, die ihm den Namen Skipper verlieh, hatte er jedoch immer noch auf. Er zog sich den Stuhl neben Trolle zurecht und setzte sich.

      „Stimmt, das habe ich in einer Fernsehserie auf TV2 über euch gesehen. Die Gefangenen.“ Er sprach das Wort aus, als wäre es der Titel eines Horrorfilms. „Heutzutage sagt man anscheinend ,Hotel‘ zum Gefängnis. Ihr werdet da ja zu richtigen TV-Stars, da werd’ ich ganz neidisch. Warum hat man nichts von dir gesehen?“

      Trolle zuckte mit den Schultern.

      „Wir sind gefragt worden, ob wir mitmachen wollen.“

      „Und für’s Rampenlicht hattest du noch nie was übrig, was, Trolle? Aber wie ich sehe, hast du eine Tätowierung gekriegt. Gehört wohl dazu, oder?“

      Trolle zog unwillkürlich seinen Ärmel weiter nach unten.

      „Das ist eine längere Geschichte“, murmelte er.

      Ja, es gehörte dazu, um in dieser Welt zu bestehen. Es war schwer, das zu erklären, denn was wusste Skipper schon? Er hätte an so einem Ort nicht lange durchgehalten.

      Auch Skipper richtete seinen Blick auf den Bildschirm. Trolle sah flüchtig, dass der Ehering an seiner Hand, die sich um das Bierglas klammerte und an eine zu groß geratene Babyhand erinnerte, fehlte. Vielleicht passte er ihm einfach nicht mehr, so sehr, wie er zugelegt hatte.

      „Und, fühlt es sich gut an, ein freier Mann zu sein?“, fragte Skipper schließlich, ohne ihn dabei anzusehen, und zog sich die Mütze tiefer ins Gesicht, als wollte er seine Gedanken verbergen oder sich in Gegenwart eines Ex-Häftlings unsichtbar machen.

      Trolle zuckte erneut mit den Schultern.


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