Noch einmal sterben vor dem Tod (eBook). Tessa Korber

Noch einmal sterben vor dem Tod (eBook) - Tessa Korber


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passen gut auf Ihr Zeug auf!«

      Warum rief der Mann ihm das nach? War das ein Service­spruch, den er aufsagen musste? Steinberger bekam nicht genug Speichel zusammen, um eine passende Antwort zu geben. Langsam wurden die kreisenden Ringe kleiner, grüner, lösten sich in schwarzes Konfetti auf, und er konnte wieder sehen.

      Draußen am Tor, im gleißend-silbrigen Herbstsonnenlicht, saß Dorothea Kranz. Bei seinem Anblick stand sie auf.

      8

      »Sie haben Ihre Tüte stehen lassen«, sagte sie. Eine Hand vor den Augen gegen das Sonnenlicht, hielt sie ihm mit der anderen die Plastiktüte hin.

      »Wieso verfolgen Sie mich?« Steinberger setzte seine Füße breit, um nicht zu wanken.

      »Wollen Sie Ihre Bücher denn nicht wiederhaben?«

      Dieser Dutt, diese Kleinmädchenstimme. Unwirsch riss Steinberger ihr die Tüte aus der Hand.

      »Es ist alles noch da«, beteuerte sie überflüssigerweise. »Ich war in der Buchhandlung, wissen Sie. Aber ich war nicht sicher, ob Sie angesprochen werden wollten.« Sie neigte den Kopf. »Sie waren neulich nicht sehr höflich, als ich auf Frau Hohoff und Turner zu sprechen kam, wissen Sie noch? Aber als ich den Bildband sah, ich meine, der kostet locker fünfzig Euro. Da bin ich Ihnen halt nach.«

      »Durch ganz Gostenhof«, stellte er trocken fest.

      Sie lachte. »Man wird doch noch neugierig sein dürfen.« Gut gelaunt blinzelte sie in die Sonne. »Ich hab hier übrigens auch einen Raum«, stellte sie fest. »Wir hätten uns also genauso gut rein zufällig begegnen können.«

      Steinberger gab sich dieser Logik geschlagen. »Sie?«, fragte er, während er begann, seine Hefte in die Tasche umzupacken. So war es schon viel besser.

      »Ja«, erklärte sie. »Für meine Bilder. Ich male mehr, als ich zu Hause aufbewahren kann. Das ist für alle Künstler ein Problem, die kein Atelier haben.«

      Die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich eine Künstlerin nannte, verwunderte Steinberger. Andererseits konnte er nicht ausschließen, dass diese Malmaus tatsächlich etwas draufhatte. Nachher in der Gruppe würde er es ja vielleicht feststellen können.

      Noch immer kurzatmig richtete er sich auf. »Ich bin auf dem Heimweg«, stellte er fest. »Kann ich Sie begleiten?«

      »Wie ein echter Kavalier«, neckte sie ihn, nahm aber seinen Arm. »Rothenburger Straße, umsteigen am Plärrer.«

      »Ich weiß, ich weiß.«

      »An der Frankenstraße dann ab in die Greisenbahn.«

      »Heißt das so?«

      »Das erzählen mir meine Kursteilnehmer. Ich würde so etwas nie sagen.«

      »Man ist so alt, wie man sich fährt, was?«

      Sie gönnte ihm ein Schultertätscheln für diesen Kalauer.

      Zwei Stunden später, im Malatelier Zimmer 007 sitzend, vor sich eine farbbespritzte Tischplatte, ein leeres Blatt und einen Farbkasten, der ihn an Kindergarten denken ließ, bezweifelte Mauritius Steinberger den Wahrheitsgehalt dieser Aussage wieder. Da war keine gemeinsame Ebene, noch nicht einmal ein gemeinsames Trittbrett. Dorothea Kranz sprach von Dingen, die ihm nicht das Geringste sagten: dass er sich ausdrücken solle. Dass er es fließen lassen solle. Es zulassen. Ja, so weit käme es! Eine konkrete Aufgabe zu stellen, weigerte sie sich hingegen konsequent. Isolde Hohoff sekundierte ihr: Das sei doch gerade das Interessante, dass man an die Oberfläche kommen lasse, was verborgen sei.

      Mauritius Steinberger fand, die meisten Dinge seien aus gutem Grund verborgen. Gier, Wut, Mord, ganz, wie sie es bei ihrer ersten Begegnung aufgezählt hatte. Und gehoben werden sollten diese Gefühle nur, wenn ihre Existenz in irgendeiner Form justiziabel war. Ansonsten blieb alles besser schön, wo es war. Wenn er jetzt irgendetwas in sich aufsteigen ließe, würde er vermutlich ein Porträt von Quent malen, mit Teufelshörnern und einem sehr scharfen Dreizack in der Hand. Er versuchte zu scherzen: »Wenn ich mich frei ausdrücke, könnte das sehr unhöflich werden.«

      Zwei Damen mit flatternden Schluppenblusen begannen miteinander zu tuscheln.

      Dorothea Kranz hingegen strahlte. »Das ist ja das Tolle an der Malerei«, erklärte sie, »dass es da auf höflich oder unhöflich einfach nicht ankommt. Im Gegenteil, aus der ungefilterten Wucht unserer Gefühle können wahre Meisterwerke entstehen. Sie sind die Basis jeder wahren Leistung. Goyas Zeichnungen würde man wohl kaum als höflich bezeichnen, oder?«, fragte sie in die Runde. »Oder die Bilder von James Ensor. Oder von Edvard Munch. Sein Schrei oder die nackte Madonna wurden von vielen Zeitgenossen sogar als ziemlich unhöflich empfunden.«

      Isolde Hohoff lachte. Steinberger, dem die Namen alle nichts sagten, lachte vorsichtig mit.

      »Wir machen hier keine Konversation«, feuerte Dorothea Kranz ihre zaghafte Runde an. »Wir schaffen wahre Kunstwerke.« Sie kam zu ihm und drückte ihm einen Bleistift in die Hand. »Setzen Sie ihn aufs Papier und sehen Sie, was passiert.«

      »Und wenn nichts passiert?«

      Sie lächelte. »Es wird etwas passieren.«

      Isolde Hohoff neigte sich zu ihm und flüsterte ihm zu: »Im Zweifelsfall: einfach mal kreisen lassen. Wie einen Adler.«

      Mauritius Steinberger dachte an den Adler über dem Eingang zum Präsidium. Dann starrte er auf das weiße Papier, einen Bogen, wie er ihn zuletzt als Schüler vor sich gehabt hatte. Sie hatten eine Vase abmalen müssen, im richtigen perspektivischen Winkel. Dazu einen Apfel, eine Stange Lauch und ein Glas. Eine rundliche Vase, die ihm bis zum Ende der Stunde nicht in der richtigen Weise rund gelingen wollte. Und was zum Teufel hatte der Lauch dort zu suchen gehabt?

      Dann betrachtete er seine Hand mit dem Stift. Darauf stand Faber-Castell HB. Immerhin ein einheimisches Produkt, befand er. Das war doch zu loben. Ob B für Bleistift stand? Und wofür war dann das H? Die Zigarettenmarke fiel ihm ein, mit dem wütenden Männlein, das ihn immer an seinen Vater erinnert hatte. Seine Hand kreiste.

      Er hatte gar nicht gemerkt, dass sie damit angefangen hatte. Doch jetzt kreiste sie. Zaghaft zuerst, ganz langsam, dann zunehmend sicherer. Wie ein Adler, hatte Isolde gesagt. Aber zu seiner Überraschung dachte Mauritius Steinberger in diesem Moment nicht an Adler, die kreisend in die Lüfte stiegen und Ausschau hielten, auch nicht mehr an Bleistifte oder an Zigaretten und ihren kreisförmig aufsteigenden Rauch. Er starrte die Bögen und Spiralen an, die unter seiner Hand entstanden, und dachte, zu seiner Überraschung, an Eislaufen. An langsame, von Kufen gezogene Kreise auf dem Eis. Stumpf vom Schneestaub inmitten des Geglitzers. Er sah eine sanfte Uferlinie vor sich, Schilf unter dem Schnee, vereinzelte Bäume. Die könnte er dazumalen. Seine Hand hob sich und zögerte. Oder lieber die Kufen oder doch …

      »Schlittschuhe?«, fragte ihn eine Stimme. Seine Hand rutschte aus. Eine dunkle Schramme aus Graphit fuhr zwischen die Linien, wie eine Wunde oder ein Sprung.

      »Entschuldigung.« Peter Quent lüftete seinen Hut, legte ihn auf dem freien Platz zu Steinbergers Rechten ab und setzte sich. »Ich dachte, ich versuche es auch einmal, mit Ihrer Erlaubnis.« Er nickte Dorothea Kranz zu.

      Die beeilte sich, ihn willkommen zu heißen und mit Werkzeug zu versorgen. »Gleich zwei Männer an einem Tag«, stellte sie fest. »Wir wachsen über uns hinaus.« Die Schluppenblusendamen kicherten.

      Isolde Hohoff neigte sich von links über Steinbergers Bild. »Interessant, dass Sie das mit Eislaufen assoziieren«, meinte sie zu Quent, die Linien studierend. »Mir kam es eher vor wie ein Wolkengebilde.«

      »Aber da ist doch eindeutig der Stiefel, zumindest die gebogene Kufe«, widersprach Quent fröhlich und deutete auf die Figur, die er meinte.

      Steinberger, zwischen den beiden eingeklemmt, war noch immer verwirrt von dem Geschehen, doch nicht gewillt, Peter Quent auch nur ein Stück weit recht zu geben. Wie durch einen Nebel sah er, was sich auf dem eben noch jungfräulichen Teich, den er auf sein Blatt gemalt hatte,


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