Noch einmal sterben vor dem Tod (eBook). Tessa Korber

Noch einmal sterben vor dem Tod (eBook) - Tessa Korber


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gewesen sein. Da war kein Raum für Hoffnung. Und doch starrte man.

      Bis endlich der professionelle Ruck durch ihn ging und er den Blick hob. Es dauerte einen Moment, bis er das offene Fenster im neunten Stockwerk gegenüber fand, den wehenden Vorhang. Und dahinter: War das eine Bewegung gewesen? Für einen kurzen Augenblick war er sich sicher: Er hatte Quents triumphierendes Gesicht gesehen. Waren seine Befürchtungen so schnell wahr geworden? Oder litt er unter Halluzinationen? Es gab nur einen Weg, das herauszufinden. Steinberger machte sich auf den langen Weg nach unten.

      Er ging so schnell er konnte durch die Passage, sah durch die Glasscheiben die Schaulustigen, die draußen zusammenhinkten und -rollten. Er winkte ab, als der Besitzer des Seniorenladens ihn ansprechen wollte, und erreichte ganz außer Atem das gegenüberliegende Wohngebäude, als draußen bereits in die Smartphones gesprochen wurde. Die Polizei und die Feuerwehr würden nicht lange auf sich warten lassen. Er lauschte einen Moment ins Treppenhaus, ob er flüchtende Schritte hörte, doch es blieb still. Daher entschied er sich für den Aufzug. Vielleicht bekam er eine Chance, das Appartement zu inspizieren, ehe die Kollegen auftauchten. Als er in den Gang des neunten Stockes trat, öffnete sich eine Tür und Irina Staufert trat heraus, auf dem Arm einen Stapel Handtücher.

      »Was machen Sie hier?«, fragte Steinberger die Etagenbetreuerin barsch.

      »Arbeiten?« Sie schaute ihn verständnislos an. »Brauchen Sie etwas?«

      Ohne weiteren Kommentar nahm er sie am Arm und zog sie zu der Tür, die er nach seiner Analyse der Architektur für die richtige hielt. »Machen Sie auf«, befahl er.

      »Unfug.« Sie entzog sich seinem Griff und richtete sich entschlossen zu voller Größe auf. »Das ist das Zimmer von Herrn von Arx. Der ist meistens zu Hause. Warum klopfen Sie nicht einfach? Was wollen Sie denn von dem Herrn von Arx?«, fügte sie dann misstrauisch hinzu.

      Steinberger entschied sich für die Schocktherapie. »Ihr Herr von Arx ist eben aus dem Fenster gesprungen und liegt tot auf dem Rasen.«

      »Jessas.« Die Etagenbetreuerin wurde mit einem Schlag blass. Ihre Hand zitterte, als sie nach ihrem Generalschlüssel kramte. »Jessas Maria«, wiederholte sie wieder und wieder.

      Dabei war ihr ganzes Suchen völlig unnötig, wie Steinberger merkte, als er ungeduldig um sie herum und nach der Klinke griff. Es war gar nicht abgesperrt. Was, fuhr es ihm kurz durch den Kopf, wenn der Mörder so dumm war, drinnen auf sie zu warten? Er verfluchte sich, nicht an den Totschläger gedacht zu haben, den er als Souvenir von einem Kleingangster erhalten und lange Jahre bei sich getragen hatte. Ersatzweise griff er sich aus dem Schirmständer gleich hinter der Tür einen Gehstock mit Metallgriff.

      Hintereinander stürmten sie in das Appartement, das ein spiegelverkehrtes Abbild seines eigenen war, allerdings üppig mit schweren Eichenmöbeln eingerichtet. Steinberger zweifelte keinen Augenblick daran, dass jedes der wuchtigen Möbelstücke eine Antiquität war, das Blattgold auf den Bilderrahmen echt, die vielen herumstehenden Reiseandenken von künstlerischem Wert und die geschnitzten chinesischen Statuetten vermutlich aus Elfenbein. Das Fenster stand offen, der Vorhang, den er schon von drüben gesehen hatte, wehte im Wind. Die Tür zum Balkon dagegen war geschlossen. Steinberger inspizierte ihn trotzdem und fand ihn menschenleer und ohne Spuren. Nein, der Tote musste aus dem Fenster gestürzt sein.

      Schnell registrierte Steinberger, dass es im Zimmer keine offensichtlichen Hinweise auf einen Kampf oder die Anwesenheit einer fremden Person gab: keine umgestürzten Möbel, keine zerbrochenen Vasen. Überall schien die Ordnung ungestört. Er entdeckte auch keine staubfreien Lücken auf den Möbeln, von denen kürzlich etwas entfernt worden wäre, keine leeren Stellen an den Wänden. Ein schneller, verstohlener Blick in die Schreibtischschublade zeigte ihm ein mit Scheinen prall gefülltes Portemonnaie, eine Schatulle mit Krawattennadeln, Manschettenknöpfen und einigen Krügerrand, die er mitgenommen hätte, wäre er in der Einbrecherbranche gewesen. Ebenso wie die Zigarren in der intarsiengeschmückten Box. Aber das war sein persönlicher Geschmack. Dennoch: Alles schien unverdächtig. Und leer.

      »Was machen Sie da?« Die Stimme der Etagenbetreuerin war scharf vor Misstrauen.

      Steinberger schloss die Lade rasch und stellte den Stock zurück. Eine Antwort sparte er sich. Stattdessen trat er an das Fenster. Mit der Hand hielt er den unruhig zuckenden Vorhang zurück. Er konnte die Menschen sehen, die auf den Balkonen gegenüber standen. Aber es war zu weit weg, um auch nur einen von ihnen mit Sicherheit zu erkennen. Schlagartig wurde es ihm klar: Er konnte Peter Quent nicht hier am Fenster gesehen haben. Er blinzelte und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Er musste auf sich aufpassen.

      Als er sich umdrehte, stand Irina Staufert mitten im Zimmer. Ihre runde Gestalt versperrte ihm den Weg zur Tür. Sie wirkte völlig desolat; noch immer hielt sie den Stapel Handtücher auf dem Arm, mit dem er sie auf dem Flur angetroffen hatte.

      »Wir müssen die Polizei alarmieren.« Als er an ihr vorbei wollte, fielen ihr die Handtücher runter, und sie bückte sich, um sie umständlich aufzuheben. Er wollte helfen, sie wehrte ihn mit einer Geste ab. Ihre Hände zitterten noch immer. Irina Staufert stapelte ihre Handtücher neu und tupfte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. »Wie konnte er das nur tun?«, fragte sie kopfschüttelnd.

      »Sie meinen, es war Selbstmord?«, wollte Steinberger wissen. »Wie kommen Sie darauf?«

      »Ich weiß nicht.« Mit feuchten Augen, schaute sie ihn an. »Muss doch einsam gewesen sein.«

      »Einsam?«, wiederholte Steinberger. »Wer erbt denn das alles?«

      »Was?«, murmelte die Etagenbetreuerin in ein frisch gezücktes Taschentuch. »Wieso erben?«

      »Na, wenn er allein war, wie Sie sagen, und keine Familie hatte«, half Steinberger ihr nach. »Da fragt man sich doch, wer das erbt.«

      »Sie stellen seltsame Fragen.« Irina Staufert musterte ihn voller Abneigung. »Das sollten Sie nicht tun.«

      Er hob die leeren Hände in einer halb entschuldigenden, halb abwehrenden Geste. »Alte Polizistengewohnheit.«

      »Wir müssen gehen«, murmelte sie. »Ich muss der Heimleitung Bescheid sagen.« Sie erinnerte sich ihrer Aufgaben. »Und Sie gehen jetzt auch.«

      Steinberger trat nonchalant an die Wand mit den vielen goldenen Rahmen heran und stupste einen davon, eine kleine Landschaft im Abendlicht, mit dem Finger an, ehe er der Aufforderung nachgab. »Das Bild hing schief«, erklärte er. Dann räumte er das Feld.

      Als sie auf den Flur traten, während die Etagenbetreuerin die Tür gewissenhaft abschloss und Steinberger noch dachte, dass das den Tatortbefund verfälschen würde, fiel sein Blick auf die Tür gegenüber. Statt des Normklingelschildes, wie es an den anderen Türen und auch seiner eigenen üblich war, hing dort ein poliertes Messingschild, ein kleiner metallener Schnörkel im Renaissancestil, auf dem eingraviert war: Peter Quent.

      6

      Die Kreativgruppe würde am Nachmittag beginnen. Daher beschloss Mauritius Steinberger, gleich nach dem Frühstück mit dem Bus in die Stadt zu fahren. Der Valznerweiher musste warten. Erst wollte er wissen, was seine ehemaligen Kollegen in Sachen Ewald von Arx unternahmen. Ab Frankenstraße könnte er in die U1 umsteigen und dann ganz bequem bis an den Jakobsplatz fahren, um das Präsidium zu besuchen. Das Mittagessen würde er in seinem alten böhmischen Stammlokal unterhalb der Burg einnehmen. Er wäre problemlos rechtzeitig zurück, um Isolde Hohoff beim Malen zu treffen. Er hatte sich vorgenommen, in einer nahe gelegenen Buchhandlung auch noch nach Bildbänden über Turner Ausschau zu halten. Alles ganz einfach.

      Im Bus kam er sich seltsam vor; es dauerte mehrere Stationen, ehe nicht mehr alle Insassen grauhaarig waren und das Publikum sich wieder mischte. Als die ersten Mütter mit Kindern einstiegen, atmete er auf. Grüppchen arabischer Jugendlicher kamen dazu, afrikanische Familienväter, türkische Frauen mit schweren Einkaufstüten, dazwischen Geschäftsleute mit Rollköfferchen, die offenbar von der Messe kamen, Schüler aller Altersstufen, Menschen, Menschen. Gerade mal eine Woche, dachte der alte Kommissar, und schon bist du den Trubel nicht mehr gewohnt.

      Im Präsidium


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