Noch einmal sterben vor dem Tod (eBook). Tessa Korber

Noch einmal sterben vor dem Tod (eBook) - Tessa Korber


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durch die aufrecht stehen gebliebenen Astern ringsum, den Teilabdruck von etwas, das ein Absatz sein mochte. Jedenfalls war es keine Schweinepfote.

      »Und die Spur führt hinaus«, erläuterte Steinberger. »Nicht hinein. Was immer da lag, muss quasi vom Himmel gefallen sein.«

      Unwillkürlich ging ihrer beider Blick die Häuserfassade hinauf, wo sich Stockwerk an Stockwerk die Balkone reihten.

      »Manchmal«, sagte Dorothea zögernd, »springen sie. Meistens aus den oberen Stockwerken. Wir reden hier nicht viel darüber.«

      »Wer hier gesprungen ist, der wurde nicht auf einer Bahre weggetragen.« Steinberger musterte das Bauwerk. »Er ist auf dem Hintern gelandet, aber auf seinen heilen zwei Beinen weggelaufen. Und er hat mit niemandem hier über sein Abenteuer gesprochen.«

      »Ein Einbrecher, jetzt verstehe ich, wie Sie darauf kommen.« Dorothea überlegte. »Es könnte aber auch ein Romeo gewesen sein, meinen Sie nicht? Eine missglückte Balkonszene oder der geglückte Versuch, vor einem überraschend heimkehrenden Gatten zu flüchten.« Als sie seinen Blick sah, fügte sie hinzu: »Wir haben einige Paare hier im Stift. In den Zweizimmerappartements ist das keine Seltenheit.«

      Steinberger grunzte.

      »Oder ein Betrunkener«, rätselte Dorothea weiter. »Dem es nachher peinlich war. Falls er überhaupt etwas davon mitbekommen hat.«

      Steinberger stand da wie eine Statue.

      »Wieso«, fragte Dorothea, »sind Sie so sicher, dass es ein Einbruch war? Sie brüten da doch an etwas herum.«

      Jetzt wandte er sich zu ihr um, schwieg jedoch.

      »Mir können Sie es doch sagen«, drängte sie.

      Er hielt ihren Blick fest. »Genau da bin ich mir nicht sicher.«

      Sie blinzelte nicht. »Was haben Sie zu verlieren?« Als er nicht antwortete, fügte sie hinzu: »Ich glaube, ich habe ein bisschen Talent zum Detektiv. Ich könnte Ihnen wertvolle Tipps geben.«

      Jetzt lächelte der Kommissar, ein wenig gönnerhaft, einen Tick überheblich.

      Bis sie sagte: »Ich könnte Ihnen zum Beispiel den Tipp geben, dass die Frau Hohoff jeden Mittwoch bei mir in der Kreativgruppe sitzt. Sie aquarelliert gerne und nicht mal ohne Talent. Ihr Lieblingsmaler, nur zur Information, ist William Turner.« Sie blinzelte. »Der Herr Quent ist übrigens nicht dabei.«

      5

      Jetzt hatte Mauritius Steinberger schon zwei Rätsel zu lösen: Zum einen, wie er mit Quents Anwesenheit im Stift umgehen sollte, und zum anderen, warum diese junge Frau so schnell durchschaut hatte, dass er sich für Isolde Hohoff interessierte. Sicher, er hatte sich beim Service erkundigt, ob er an ihren Tisch umgesetzt werden könnte. Und er kannte ihre Spazierwege gut genug, um ihr an den unterschiedlichsten Stellen des Parks wie zufällig über den Weg zu laufen. Umgesetzt hatte er das aber erst zweimal, und beide Male hatten sie über das Wetter gesprochen. Er wusste außerdem, dass Montag ihr Pediküretag war, und hatte sich den Folgetermin reservieren lassen. Aber woher zum Teufel wusste diese kleine Dorothea das? Auge des Künstlers? Ein angeborener Sinn fürs Kriminalistische? Oder war er so durchschaubar geworden?

      Sie lachte nur, wann immer er sie danach fragte. Ohne Zweifel war ihr ein wenig langweilig gewesen in ihrem Dasein zwischen Kunstakademie und Altenstift. Die große Frage war: Konnten alle anderen das Gleiche sehen? War er mit seinen Gefühlen ein offenes Buch für seine Umwelt? Auf dem Gebiet des Kriminalistischen fühlte Steinberger sich sicher. Er wusste, wer das Wild war und wer der Jäger. Auf amourösen Pfaden hingegen fühlte er sich hilflos. Hätte Dorothea mit ihren Anspielungen ihn nicht mit der Nase darauf gestoßen, er wäre sich nicht einmal ganz klar darüber gewesen, dass er überhaupt auf einer Art Freiersfüßen wandelte. Und diese Unklarheit über die eigenen Empfindungen hätte er im Übrigen liebend gern noch eine Weile beibehalten.

      Trotzdem blieb seine größere Sorge Quent. Er hatte eine Nacht und einen Tag damit vergeudet, sich einzureden, dass Quents Anwesenheit im Stift nichts bedeutete. Der Fall war abgeschlossen, Quent offiziell ein unbescholtener Bürger und freier Mann. Steinberger hatte es vor über fünfundzwanzig Jahren schriftlich von einem seiner Vorgesetzten bekommen, dass er ein Sturkopf sei, der sich verrannt habe. Sein Beharren auf Quents Schuld hatte ihm damals den einzigen Knick in seiner Karriere beschert, ein Umweg von ein, zwei Jahren, nicht mehr, ehe es für ihn wieder bergauf ging und er seine ansonsten makellose Karriere zum guten Schluss noch mit dem Wechsel zur Bundesbehörde krönen konnte.

      Steinberger seufzte beim Nachdenken. Er sollte die guten Ratschläge von damals beherzigen: es hinter sich lassen. Aber nach nunmehr vierundzwanzig Stunden, in denen er diese Sätze mantraartig wiederholt hatte, war ihm klar geworden, dass das nicht funktionieren würde. Spätestens, als er gestern gesehen hatte, wie Isolde Hohoff beim Tanztee von diesem Menschen aufgefordert wurde und er daran hatte denken müssen, dass dieselben Hände, die gerade die Ärztin über die Tanzfläche schoben, einen anderen Menschen das Leben gekostet hatten. Dass sie Waffen gehalten und Unschuldige bedroht hatten, ohne Gewissensbisse. Was, wenn er Isolde verletzte? Das würde Steinberger sich nie verzeihen.

      Dann war da die seltsame Sörgel mit ihren Geschichten von Leichen. Sie war irre, klarer Fall. Aber ihre Erzählungen mussten doch irgendeinen wahren Kern haben, so weit kannte er sich mit Irren aus. Er hatte sich von ihr zu diesem Asternbeet zerren lassen, und ihm war schnell klar geworden, dass sie zumindest in einem recht hatte: Hier hatte ein Mensch gelegen. Der Gedanke an einen flüchtigen Räuber, der von einem Balkon gesprungen war, war sofort in ihm aufgeblitzt und gleichzeitig mit diesem Gedanken der Name: Peter Quent. Er war ein Räuber, Dieb und Betrüger, ein sehr geschickter zudem. Die Liste der Verbrechen, die möglicherweise auf seine Rechnung gingen, war lang. Dass er nie zur Verantwortung gezogen wurde, zeigte nur, wie gerissen er vorging. Und dass es dabei nur einmal einen Toten gegeben hatte – nur einmal, von dem sie wussten – hieß nicht, dass es nicht wieder geschehen konnte. Quent kannte keine Grenzen, wenn es um seine Interessen ging.

      Seit er wusste, dass Peter Quent hier lebte, sah Steinberger das Stift mit anderen Augen: Hier war viel Geld zu Hause. Und es war in den Händen von alten, kranken und schutzlosen Menschen, die leicht zu betrügen und leicht zu überwältigen waren. Das Altenstift war für einen gewieften Einbrecher oder Betrüger ein reich gedecktes Buffet. Die hysterische Reaktion der Verwaltungsdame hatte ihn in diesem Verdacht nur bestätigt. Quent unter diesen Alten, das war ein Fuchs im Kaninchenbau, ein Wolf im Haus der sieben Geißlein. Quent hier, nicht den Armen der Gerechtigkeit zugeführt, das war schlicht unerträglich.

      Mauritius Steinberger war sich immer sicherer, dass er aufgerufen war, etwas dagegen zu unternehmen, zum Wohle der Allgemeinheit. Allerdings würde er mehr tun müssen, als einen Vortrag über sicheres Wohnen zu halten. Er hatte die Lage am Asternbeet noch einmal in Augenschein genommen und war zu dem Schluss gekommen, dass der Einbrecher, so er existierte und so es sich um Quent handelte, der auch nicht mehr der Jüngste war, maximal aus dem Fenster im ersten Stock hätte springen können. Dort lebte, seinen Recherchen zufolge, ein Paul Schwebel. Es wäre einfach, dem Mann einen Besuch abzustatten und sich bei ihm umzusehen. Ihn kennenzulernen. Zu hören, ob er Dinge von Wert besaß – worauf Steinberger hätte wetten mögen. Zu hören, ob er Dinge von Wert vermisste.

      Trotzdem saß Steinberger auf seinem Balkon und zögerte. Sein Eifer gegen Peter Quent hatte ihn schon einmal zu weit geführt. Seinerzeit hatte er sich wieder aus der Sackgasse herausgearbeitet, hatte die auferlegte Therapie absolviert, den Karriereknick durch harte Arbeit wieder ausgebügelt, sich verlorenes Vertrauen zurückerobert. Er hatte den Platz in der Gemeinschaft wieder eingenommen, den er um ein Haar verloren hätte, aber damals war er noch jünger, härter, ein Macher. Jetzt war er, bei allem Respekt vor sich selbst: ein Greis. Was konnte er tun?

      Da hörte er den Schrei. Er war nicht durchdringend, nicht besonders alarmierend. Und nur gerade laut genug, dass Steinberger den Kopf in die Richtung wandte und aus dem Fenster schaute. Im nächsten Moment sah er den Körper. Er fiel die Fassade hi­nunter und schlug auf dem Grün auf. Das Auge sah es und glaubte es nicht. Wie alle, die Zeuge der Szene geworden waren, starrte Mauritius Steinberger einige Momente


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