Noch einmal sterben vor dem Tod (eBook). Tessa Korber

Noch einmal sterben vor dem Tod (eBook) - Tessa Korber


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zeigte. Steinberger schaute sich um und stellte es schließlich auf das mittlere Brett des Bücherbords.

      Er atmete ein. Der Geruch hier drinnen war fremd: Putzmittel, Kunststoff, ein wenig verstaubtes Polsterplüsch. Vorsichtig ließ er ihn in sich ein. Auch die Geräusche waren ihm unvertraut, das Gleiten seiner Schuhe auf dem seltsam federnden Boden, ein Hall, der vom Fehlen von Vorhängen und Kissen herrühren mochte, Stimmen irgendwo auf dem Gang. Ein Knacken in den Rohren, ein dumpfes Rauschen. Und er vernahm das leise Arbeiten des Aufzugs. Erträglich, befand er. Dennoch trieb ihn ein Impuls auf den Balkon.

      Ostseite, er würde Frühsonne haben. Gut für einen Frühaufsteher wie ihn. Und hier im achten Stock einen schönen Ausblick über den Reichswald. Ob er es hören würde, wenn im nahen Tiergarten die Löwen brüllten? Der Ruf eines Löwen trug weit. Mauritius Steinberger liebte die Tiere, mehr als die Löwen aber noch die Tiger. Ihre Bewegungen, ihre Kraft. Wäre er romantisch veranlagt gewesen, oder hätte er zur Unbescheidenheit geneigt, hätte er vielleicht von einer inneren Verbundenheit gesprochen. Von Jäger zu Jäger, von einem einsamen, mit den Jahren immer melancholischer werdenden Mann zum anderen. Verborgene Kraft und Traurigkeit, das war es, was er auffing und empfand, wenn er vor dem Gehege an der Sandsteinmauer lehnte und sich dem Strom seiner Gedanken überließ. Nichts davon hätte er jemals einem anderen Menschen gegenüber in Worte gefasst.

      Steinberger hatte bereits eine Jahreskarte für den Zoo besorgt. Spaziergänge durch den Tiergarten, das war einer seiner Pläne. An den Montagen und Donnerstagen vielleicht. Mittwochs und freitags dann an den Valznerweiher, im Restaurant speisen, Zeitung lesen, über Fußball sprechen, wenn es sich ergab. Für den Club empfand er nicht unähnlich wie für die Tiger, auch er war eine Konstante in seinem Leben. Und er hatte vor, auf diese Konstanten zu setzen für die Zukunft. Zukunft, seltsames Wort in seinem Alter, leicht adstringierend, mit aufsteigender Säure, und doch – immer noch – mit verheißungsvollem Aroma, wie der Saft von Zitronen.

      Dienstags würde er sich Lektüre erlauben, keine Fachbücher mehr, nein: die Klassiker. Er hatte jetzt die Zeit für einen Dickens, einen Tolstoi. Oder für die Reisebetrachtungen Fontanes. Die dicken Bände, die seinem Vater gehört hatten, warteten schon seit Jahrzehnten auf ihn. Bislang hatten sie unbeachtet im kaum gebrauchten Gästezimmer vor sich hin vegetiert, nicht mehr als eine Kulisse, die Bewohntheit vortäuscht. Wenn Steinberger sich einmal vor das Regal verirrt und eines der Bücher in die Hand genommen hatte – warum eigentlich? –, hatte es sich kalt angefühlt, so tot wie der unbeheizte Raum.

      Nun hatten diese Bände einen Platz im Herzen seiner Wohnung erhalten. Steinberger würde es endlich mit ihnen versuchen, würde, wie früher sein Vater, im Lehnsessel sitzen, ein Glas Single Malt in der Linken, im Schein einer Lampe mit grünem Schirm; das Bild stand Steinberger noch genau vor Augen. Es hatte ihn seine gesamte Kindheit über begleitet. Jetzt würde er hineinsteigen wie in ein verzaubertes Gemälde. Vielleicht waren zwischen den Buchseiten ja doch Weisheiten über das Leben verborgen, die er besser noch kennenlernen sollte.

      Sport stand ebenfalls auf seinem Programm; Kraftsport war für jeden Polizisten Teil des Lebens. Dort, wo andere Menschen ein Sofa platziert hätten, stand seine Trainingsbank mit den Hanteln. Auch Wandern wäre eine Option. Noch war er gut zu Fuß. Herrgott, er war schließlich erst vierundachtzig, ein Silver Surfer, wie seine Kollegen bei der Abschiedsfeier vollmundig erklärt hatten, ein Golden Ager. So viel Edelmetall war ihm allerdings fast verdächtig vorgekommen. Er hatte nichts dazu gesagt, er redete nie viel; jenseits des Mains hatte er als maulfauler Franke gegolten. Seine Frau hatte ganz andere Erklärungen für seine Schweigsamkeit gehabt, aber die waren jetzt hinfällig. So oder so kehrte er zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen zurück. Er war noch kein Greis, er würde in Bewegung bleiben. Aber in Maßen, mit Muße. Er würde …

      Es läutete an seiner Tür.

      »Herr Steinberger? Einen schönen guten Tag.« Die junge Dame streckte ihm die Hand entgegen. Sie mochte Mitte zwanzig sein, klein, aber nicht ganz schlank, mit einem wippenden, losen Dutt mitten auf dem Kopf, der sie fröhlich und unkonventionell aussehen ließ. Ihr Rock war bodenlang und bunt, die hochgeschlossene weiße Bluse dazu ein bewusster Kontrast. Er sah Farbflecken auf ihren Händen. Keine Gesundheitsschuhe, kein Jackett. Sie war nicht vom Heimpersonal, schloss er, weder Pflege noch Verwaltung.

      »Dorothea«, stellte sie sich vor. »Ich leite den Kreativkreis. Wir sind ein aufmüpfiges Grüppchen.« Sie lachte in sein regloses Gesicht. »Und ich dachte, ehe Sie irgendwelche Gerüchte über uns hören ...« Sie ließ den Satz ausklingen und betrachtete ihn. Sie war jemand, der genau hinsah, trotz der etwas fahrig wirkenden Munterkeit, das entdeckte er sofort. Er ließ sie zappeln.

      »Jedenfalls: Herzlich willkommen. Und falls Sie mal Lust haben, sich im Malen oder Zeichnen zu versuchen. Oder mit Ton«, sie suchte offenbar nach dem roten Faden. »Jedenfalls: Männer sind bei uns immer herzlich willkommen.« Wieder dieses Lachen. Verlegen war sie nicht. »Es gibt nicht so viele, die sich gern kreativ versuchen. Männer, meine ich.«

      »So wie ich.« Machen wir es kurz, dachte er.

      »Sagen Sie das nicht.« Sie ließ sich offenbar nicht so leicht abwimmeln. »Ich habe Ihre Akte gesehen, Sie sind ein ganz spannender Mensch. Stimmt es, dass Sie für das BKA gearbeitet haben? Und sogar für Langley?« Sie sprach den Namen des CIA-Sitzes perfekt aus. Er tippte auf eine Vorliebe für Kinofilme über Serienkiller. Ihr Blick wanderte über seine Schulter hinweg in seine Wohnung. »Ist das eine Phantomzeichnung?«, fragte sie.

      Er hätte hinterher nicht zu sagen vermocht, wie sie an ihm vorbeigelangt war. Im nächsten Moment schon stand sie vor einem Bild, das sie entdeckt hatte.

      »Ein Selbstporträt«, sagte Steinberger. »Der Mann hat es mir aus dem Gefängnis geschickt.« Er machte eine Pause. »In das ich ihn gebracht habe. Er schreibt mir noch manchmal.«

      »Haben Sie alle geschnappt?«, fragte sie.

      Die Frage behagte ihm nicht. »Keiner schnappt alle.«

      »Aber Sie jede Menge, nach allem, was man hört.« Sie beendete ihre Inspektion des Bildes und wandte sich ihm wieder zu. »Vielleicht könnten Sie einmal bei uns über Ihre Arbeit referieren, was meinen Sie?«

      »Ich meine, Frau, äh …«

      »Dorothea. Dorothea Kranz«, ergänzte sie, als er auffordernd schwieg. Und sie fügte hinzu: »Ich studiere an der Kunstakademie nebenan. Hier im Stift verdiene ich mir was dazu. Wir machen auch Ausstellungen. Wenn Sie sich für Kunst interessieren.«

      »Tu ich nicht.«

      »Das glauben viele von sich. Aber Sie sind ein Mensch, der sich mit den grundlegenden Dingen des Lebens befasst hat: Sterben, Tod, Verlust, Wut, Gier. Und genau darum geht es in der Kunst.« Für einen Moment verlor sie ihre unverbindliche Heiterkeit. Ihr Blick hing nachdenklich an der Zeichnung. »Sie würden staunen, was passiert, wenn man einen Pinsel in die Hand nimmt und einfach mal die Tür öffnet.«

      In ihrem Ton war etwas, das ihn aufhorchen ließ. Steinberger fürchtete sich vor dem Moment, da ihr Blick zu seinem Gesicht wandern würde. »Sie lassen also in Ihren Malstunden Tod, Wut und Gier heraus?« Er versuchte ironisch zu klingen.

      Und wieder lachte sie, diese junge Frau, vergessen der seltsame Moment, in dem sie sich zu begegnen drohten. Sie schien einfach und voll Freude über alles und jeden. »Ich sag mal, wir malen nicht nur Blumenbildchen.« Sie zog die Brauen hoch. »Die Heimleitung steht natürlich in gewisser Weise auf Blumenbilder. Sachen, die man in den Gängen aufhängen kann und so.« Sie schlug sich die Hand vor den Mund. »Sie verraten mich doch nicht? Ich brauch den Job hier wirklich.«

      Er ließ sich zu einem leichten Nicken herab. Beinahe zu einem Lächeln.

      »Und falls Sie doch mal neugierig werden auf das, was in Ihnen steckt: Wir treffen uns immer mittwochs um drei, Raum 007. Ups, das war keine Anspielung. Und anschließend gehen wir ins Café. Bye!«

      Er nahm den Flyer, den sie ihm in die Hand drückte, und legte ihn auf die jungfräuliche Schreibtischplatte.

      Das nächste Klingeln bescherte ihm eine Frau mittleren Alters mit mütterlichem Gesicht und der Frage, ob er den


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