Noch einmal sterben vor dem Tod (eBook). Tessa Korber

Noch einmal sterben vor dem Tod (eBook) - Tessa Korber


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Vortrag dazu halten? Der Konzertsaal hier hatte bekanntlich eine ausgezeichnete Akustik. Mauritius Steinberger verschob das Vorhaben auf unbestimmte Zeit. Er war ein Mann an einem Übergangstag. Was er morgen wäre, war noch ungewiss.

      Er schritt ins Freie.

      3

      Der alte Kommissar mied die üppigen Rosenbeete, von denen manche noch immer blühten, und auch die japanische Bogenbrücke, auf der einige Bewunderer verweilten. Er suchte abgelegenere Wege. Einmal sah er Halbprofil und Schulter eines Mannes, der seinem Vater ähnlich sah, um die Ecke verschwinden und erschrak. Ein andermal leuchtete von Weitem ein rot kariertes Hemd, wie sein erster Chef es gerne getragen hatte. Er wischte den Eindruck weg wie eine Altweiberspinnwebe, doch lästig wie diese blieb er kleben. Was, überlegte Mauritius Steinberger, wenn seine Tischnachbarn recht hatten und er begann, Gespenster zu sehen? Peter Quent war vielleicht nur der Erste gewesen. Was, wenn er umgeben war von Gespenstern seiner Vergangenheit, die ihm nun nach und nach erschienen? All die Verurteilten, die Verfolgten und Verbitterten – wenn sie alle nur darauf gewartet hatten, dass er aufhörte zu arbeiten, zu laufen, blind weiterzumachen, um ihn jetzt einzeln und in Grüppchen aufzusuchen und zur Rede zu stellen? Die Vergessenen, die Rachsüchtigen, die, die seine Beute geworden waren? Was, wenn er um die nächste Baumgruppe herumginge und dort, zierlich und in Gelb, seine Frau mit dem müden Blick stünde und den Mund öffnete, um ihm zu sagen, was sie nie gesagt hatte?

      Ich habe mir nichts vorzuwerfen, sagte sich Mauritius Steinberger und öffnete seine Strickweste, denn ihm wurde warm, trotz der mäßigen Temperaturen an diesem schönen Spätsommertag. Es gab keine Gespenster. Er wurde auch nicht dement, wie seine Besucherin mit dem Rollator. Er war einfach nur alt und hatte zu viel gesehen. Da wurde jeder Mensch zu einem Typus, einem aus einer Reihe, deren Merkmale man schon kannte. Es gab einfach nichts Neues mehr.

      »Mauritius? Mauritius Steinberger?«

      Steinberger fuhr herum und starrte entgeistert in das vertraute Gesicht. Abwehrend hob er die Hand. Doch es wich nicht zurück und verwandelte sich auch nicht. Es handelte sich auch um kein Gespenst, keine Vision, nein, es war unabweislich vorhanden. Alle seine Theorien wurden hinfällig.

      Er stand vor seiner früheren Hausärztin. Eigentlich Brigittes Ärztin, korrigierte er sich; er selbst war nie krank gewesen, beinahe nie. Brigittes wegen allerdings hatte er die Praxis oft aufgesucht. Er erinnerte sich gut an die Gespräche, die sie zu dritt geführt hatten, zwischen seinen vielen Auslandsaufenthalten, um zu klären, wie sie mit Brigittes zurückgekehrtem Krebs umgehen sollten, der Chemo, den Diäten, den Jahren des Wartens. Er wusste noch, wie quälend diese Sitzungen gewesen waren, das gedämpfte Licht im Zimmer, die drückende Hoffnungslosigkeit, Brigittes leises Weinen, nichts, was man hätte tun können, um alles zu lösen. Sie, Frau Doktor Hohoff, war der einzige Lichtblick gewesen, der einzige Grund, warum er nicht aufgesprungen und hinausgerannt war.

      Gesagt hatte er ihr das nie. Er erinnerte sich nicht, überhaupt je ein privates Wort mit ihr gesprochen zu haben. Er erinnerte sich vage an ihr angenehm beherrschtes Wesen, ihre abwartende Gelassenheit, eine Stimme, die nach Zigaretten und Whisky klang, als gäbe es ein Leben jenseits des weißen Kittels, jenseits dieser Misere hier, in das er aber keinen Einblick erhielt. Irgendwann waren sie dann umgezogen. Brigitte hatte, soweit er wusste, den Kontakt bis zu ihrem Tod gehalten, mit Weihnachtskarten und Urlaubsgrüßen.

      Frau Doktor Hohoff war ungewöhnlich groß für eine Frau, eher knochig als schlank; in ihrem Sessel versunken, hatte sie über ihre hohen Knie hinweg zu dem Ehepaar Steinberger hinübergeblickt. Sie hatte damals schon ungefärbtes, jetzt endgültig weißes, langes Haar, das sie in einem Nackenknoten trug. Er konnte sie sich in Gummistiefeln bei der Gartenarbeit vorstellen. Ihre großen Augen dominierten das faltige Gesicht. Das einst scharf leuchtende Blau war milchig geworden, was sie aber insgesamt weicher aussehen ließ. Ja, es schien ihm, als strahle die ganze Frau ein mildes Licht aus. Mauritius Steinberger begann, eine Ahnung davon zu bekommen, was morgen sein könnte.

      »Jetzt also auch auf der Insel der Seligen?«, fragte sie nach der Begrüßung.

      Er lachte sonor als Bestätigung.

      »Oh, entschuldigen Sie, mein Beileid«, fügte sie hinzu, als ihr einfiel, warum er hier war. »Ich habe einen Kranz zur Beerdigung geschickt.«

      Er nickte, als erinnere er sich daran. »Ein wunderbarer Park«, stellte er dann fest. »Gehen Sie oft hier spazieren?«

      Sie ließ ein, zwei Sekunden verstreichen, ehe sie antwortete. Ihr Blick ruhte dabei auf ihm, wie damals, sanft taxierend. Aber nicht wertend. »Jeden einzelnen Tag«, erwiderte sie dann. »Es ist eine Gnade.«

      Gnade, das war kein Wort, das er zu verwenden pflegte. Er lachte erneut, verlegen. »Es ist wohl eher das Resultat guter Gene und Gewohnheiten.«

      »Wir sind alle auf ein Stück Gnade angewiesen«, erwiderte sie. Ihr Blick hielt ihn noch immer, doch er spürte, wie sich etwas, was darin gewesen war, leise vor ihm verschloss. Zu seiner Überraschung versetzte ihn das in eine leichte Panik.

      »Nun ja, vielleicht erweisen Sie mir ja einmal die Gnade eines gemeinsamen Spaziergangs«, entfuhr es ihm zu seinem eigenen Erstaunen. »Vielleicht zum Valznerweiher, in das Insellokal?«

      »Vielleicht«, sagte sie.

      Er zog es vor, ihren Ton nicht zu interpretieren. Er wusste nicht, was in ihn gefahren war. Er war ausgebucht, montags bis freitags. Er hatte einen Plan, bei dem er bleiben sollte. »Vielleicht an einem Wochenende«, hörte er jemanden sagen, der er selbst sein musste. Sein Gesicht dabei war gequält; er war es nicht gewohnt, sich als Trottel zu sehen.

      »Vielleicht«, echote sie wiederum. Machte sie sich etwa über ihn lustig?

      Wie zur Bestätigung ertönte ein Lachen von hinter der Hecke. Es gehörte zu einem Mann, der jetzt auf den Weg und zu ihnen trat. Mauritius Steinberger wurde es mit einem Schlag kalt und hohl zumute. Dann flammte Hitze in ihm auf. Er kannte dieses Lachen: laut, raumgreifend, aufmerksamkeitsheischend.

      »Peter Quent«, presste er hervor.

      Der Mann stellte sich neben die Ärztin, vertraulich nah, wie Steinberger registrierte. Noch immer war er ausgesucht gepflegt gekleidet, mit einem handgenähten Hemd, Anzughosen und Jackett und, Steinberger ignorierte es, gestreiften Socken im selben dezenten Rosa, das seine Krawatte zierte. Was für eine perfekte, zynische Maskerade. Steinberger dachte an den Jungen mit dem Skateboard und unterdrückte eine leichte Übelkeit.

      Quent musterte ihn mit freiem Blick, gelassen, die Hände in den Hosentaschen, wie es seine Art war. Für unbefangene Unschuld hatten die meisten dieses Benehmen gehalten. Steinberger wusste es besser: Es war ungenierter Egoismus, eine Ungeniertheit dämonischen Ausmaßes, die nichts kannte als sich selbst. Die nichts dabei fand, wenn Menschenleben ihr zum Opfer fielen. Er war überzeugt davon, dass Quent sich selbst im Innersten für unschuldig hielt. Weil es in Quents Augen kein Verbrechen war, wenn andere für sein Wohlergehen leiden mussten. Jetzt wusste Steinberger auch wieder, warum er den Mann hasste, der gerade seine Hand zur Begrüßung auf den Arm von Frau Hohoff legte und sie Isolde nannte und, mit amüsiertem Zwinkern in Richtung Steinberger: »Meine Gnädigste.«

      Der Kommissar setzte eine steinerne Miene auf.

      »Und ich dachte schon«, sagte Peter Quent, »Sie erkennen mich am Ende gar nicht mehr.«

      4

      »Ich glaube, ich verliere den Verstand. Oder aber die Welt wird verrückt. Neulich sagte der Kaminkehrer aus heiterem Himmel zu mir: ›Zieh dich aus.‹ Ich habe mit dem Gehstock ausgeholt und ihn erschlagen. Es war Notwehr. Was gedenken Sie zu unternehmen?«

      Die Pressereferentin des Stifts, Martina Hinterbauer, schaute die zarte alte Frau mit dem goldenen Perückenhelm an, die ihr auf ihren Rollator gestützt diesen Vortrag hielt, und seufzte. Es war wirklich an der Zeit, dass sie für Frau Sörgel einen Platz im Demenzbereich des Stiftes fanden. Sie hatten schon genug mit dem Tod zu tun, auch ohne dass dauernd jemand Leichen dazuerfand. Sie hatte mit diesen Themen im Grunde gar nichts zu tun. Das hier war ein Fall


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