Noch einmal sterben vor dem Tod (eBook). Tessa Korber

Noch einmal sterben vor dem Tod (eBook) - Tessa Korber


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von Manschettenknöpfen und Hut war da eher ungewöhnlich erschienen. Als Quent ihm das erste Mal gegenüberstand, hatte der Mann Steinberger an eine Figur aus der Kindheit seines Sohnes erinnert, an Pan Tau. Und je länger das Essen dauerte, je ergebnisloser sein Umsehen blieb, umso mehr erschien es Steinberger so, als hätte er im Aufzug eine Märchengestalt gesehen, die nur an ihrem Hutrand zu wischen brauchte, um zu verschwinden. Am Ende hatte er nur einen Blick in seine eigene Vergangenheit getan, in die seltenen, so seltenen Nachmittage, an denen er mit seinem Sohn im Wohnzimmer gesessen und dessen Lieblingsserie geschaut hatte.

      Wie auch anders?, sagte sich der alte Kommissar. In diesem Stift wohnten keine Bankräuber und Mörder.

      Als er sich schon beinahe entspannt hatte und bereit war, an ein Hirngespinst zu glauben, fing Mauritius Steinberger aus den Augenwinkeln eine rasche Geste auf, ein Winken mit den Fingern, lässig, geringschätzig, beinahe tänzerisch. Wie oft hatte er diese Geste in Verhören bei Quent gesehen, Verhören, in denen sein, Steinbergers, »Ich seh dir bis ins Herz«-Blick nicht das Geringste bewirkt hatte. Ein unbekümmertes, souveränes Wischen war das gewesen, ausgeführt mit der unangezündeten Zigarette zwischen den Fingern, die zu rauchen im Befragungsraum nicht erlaubt war. Die Steinberger nicht zu rauchen erlaubt hatte. Und auch das schien Quent lediglich amüsiert zu haben. Unwillkürlich sprang Steinberger von seinem Stuhl auf. Halb aufgerichtet reckte er den Hals nach dem Urheber dieser Geste. Es war eine Dame mit androgynem Kurzhaarschnitt, großer Brille und einem baumelnden Medaillon vor dem Busen. Ihre langen Finger hielten einen Kugelschreiber, mit dem sie ein Kreuzworträtsel traktierte, unterstützt von ihren Tischgenossinnen. Nicht nur die erstaunten Blicke vom eigenen Tisch trafen Steinberger, der langsam wieder auf seinen Stuhl sank.

      »Entschuldigung«, sagte er. »Ich dachte, ich hätte einen Bekannten gesehen.«

      »Bekannte gehen ja noch«, meinte die spitznasige Dame links von ihm.

      »Genau«, warf der Besserwisser sofort ein. »Schlimm wird es, wenn sie glauben, ihre Eltern zu sehen.«

      »Wenn es bei mir so weit ist, hoffe ich, dass ich Claudia Cardinale sehen werde.« Der Siemensianer lachte dröhnend.

      Die »Arme« an seiner Seite seufzte, und Mauritius Steinberger begann zu ahnen, dass diese beiden miteinander verheiratet waren. Das Gespräch nahm seinen zögernden Fortgang. Der alte Kommissar entspannte sich. Peter Quent war eine Einbildung.

      Ein wenig mehr als das: Er war ein Schreckgespenst. Der einzige Fall, den er nicht gelöst hatte. Der einzige Verbrecher, den er nie hatte verhaften können. Der ihm eine Nase gedreht hatte. Sich aus allem rausgewunden. Ungreifbar. Steinberger würde nie den Moment vergessen, in dem er den tödlichen Unfall an der Bundesstraße bei Lauf und den Bankraub zusammenbrachte. Der Moment, in dem er sich über die Leiche des Jungen gebeugt hatte, von seinem Skateboard gefegt, am Straßenrand liegen gelassen, eine wütende Reifenspur im Grünstreifen, zeugend von der Fahrerflucht. »Wegen Ihrer Gier«, hatte er Quent damals entgegengeschleudert. »Weil Sie die 260.000 in Ihrem Kofferraum nicht aufs Spiel setzen wollten. 260.000 für das Leben eines Kindes.«

      »Sie delirieren«, hatte Quent damals gesagt, leicht amüsiert, gelassen. Und irgendwann: »Ich bin nicht Ihr großer, böser Wolf.«

      Mauritius Steinberger hatte ihm ins Gesicht gesehen und noch nie in seinem Leben so genau gewusst, dass er eine Lüge hörte. Und nie, nie zuvor hatte ihn der Mensch, der sie erzählte, so sehr abgestoßen. Mauritius Steinberger hasste die Menschen nicht, die er ins Gefängnis brachte. Nicht einmal die Mörder unter ihnen. Warum noch einmal war das bei Quent so anders gewesen? Er müsste in seinen kleinen schwarzen Heften nachschauen, warum er so reagiert hatte. Aber die hatte er nicht mit hierhergenommen. Hier war nur, was er für sein neues Leben brauchte: die Dauerkarte für den Zoo, ein Abonnement des Kicker, eine Wanderkarte für Nürnberg und Umgebung. Seine Hanteln. Seine Klassiker.

      »Noch ein Schälchen vom Obstsalat?«

      Mauritius Steinberger lehnte ab und ging auf sein Zimmer.

      Der Wagen wurde nie gefunden, das Geld ebenso wenig. Peter Quent lebte ein bürgerliches Leben.

      Ihn zu vergessen war die einzige Lösung gewesen in all den Jahren. Peter Quent galt als unschuldig vor dem Gesetz. Seine Akte war längst geschlossen. Er ging ihn, Steinberger, nicht mehr das Geringste an. Vielleicht war er schon Jahre tot.

      Im achten Stock fand Steinberger seinen Namen am Klingelschild. Hier musste er zu Hause sein. Zum ersten Mal trat er ein, während alles schon an seinem Platz stand und ihn empfing. Das also war nun sein Reich. Hier würde er seine Tage verbringen. Sein neues Leben der Muße. Es war ein Dienstag, daher beschloss er, zu einem Buch zu greifen, um von Anfang an in den richtigen Takt zu kommen. Er hatte nicht auf den Einband geschaut, als er ins Regal langte; der Band war einfach nicht allzu dick gewesen. Steinberger setzte sich zurecht, griff zu seiner Lesebrille, schlug auf, atmete ein und las: »Jemand mußte Josef K. verleumdet haben ...« Der erste Satz berührte ihn unerwartet. Die presseverlautbarungsmäßige Abkürzung des Namens, der juristische Fachbegriff, all das war ihm sehr vertraut. Und gleich im zweiten Satzteil wurde zur Verhaftung des Mannes geschritten. Gut so! Vielleicht war tatsächlich etwas dran an der so viel gelobten Wirkung der Lektüre von Literatur. Andererseits. Steinberger ließ den Band auf die Schenkel sinken. Wie war das damals eigentlich gewesen, als er das erste Mal bei Quent geklingelt hatte? Wohlweislich zu fast noch nachtschlafender Zeit, um den Mann von vornherein in Bedrängnis zu bringen. Keine Köchin. Aber ein Hineinfahren in Hosen. Sehr noble Flanellhosen. Quent besaß keine Jeans; aber das sollte er erst später lernen.

      »Das wäre neu.« Hatte Quent nicht etwas ganz ähnlich Ironisches gesagt wie der Held dieses … wie hieß doch das Buch? Er nahm die Lesebrille ab, um den größer gedruckten Namen auf dem Einband entziffern zu können: Der Prozeß. Von einem Franz Kafka. Was war das: ein Gerichtsroman? Die Lebenserinnerungen eines Kriminalers? Er selbst war auch schon aufgefordert worden, seine Memoiren zu schreiben. Es gab Kollegen, die hatten das getan. Nach einigem Nachdenken aber hatte er das Vergessen und das Vergessenwerden vorgezogen. Hatte seine kleinen schwarzen Notizbücher entsorgt. Nicht ganz, musste er zugeben. Sein Blick wanderte hinüber zu der kleinen oberen Schublade in seinem Schreibtisch. Dort lag der Schlüssel zu dem Stauraum, den er angemietet hatte. Für Akten, Papiere. Alles, wovon er sich nicht hatte trennen können, ohne doch damit leben zu wollen. Und warum er beides nicht konnte, darüber wollte er eigentlich nicht nachdenken. Er wusste genau, wie die Kisten aussahen, in dem die Büchlein lagen, nummeriert nach Jahrgängen. Er sah sie alle genau vor sich. Und dabei würde es bleiben. Sechzig Jahre im Dienst der Verbrechensjagd waren genug.

      Entschlossen stand Steinberger auf. Er stellte diesen Kafka, der ihm ein Unruhestifter zu sein schien, zurück ins Regal. Griff zu einem Kreuzworträtselheft, zögerte nach einem Blick aus dem Fenster. Noch war sein Übergangstag. Vielleicht war es denkbar, einen Spaziergang durch die örtlichen Grünanlagen zu unternehmen? Im Prospekt waren sie als sehenswert beschrieben worden. Zwar waren Spaziergänge nur für Mittwoch und Freitag vorgesehen. Aber die Orientierung auf dem Gelände mochte als Ausnahme gelten. An einem Übergangstag, beschloss Mauritius Steinberger, waren Unregelmäßigkeiten erlaubt.

      Hinunter fuhr er mit dem jetzt leeren Aufzug. Im Erdgeschoss schlenderte er erst eine Weile durch die lange Ladenpassage, die die beiden Wohngebäude miteinander verband. Bank, Supermarkt, Friseur, Reinigung – alles da. Es war eine kleine Welt für sich. Steinberger bewunderte nicht nur das Angebot und die Auslagen, er merkte sich automatisch auch Details wie Öffnungszeiten, Räumlichkeiten, Notausgänge, Fluchtwege. Und er hatte, ohne das ausdrücklich zu wollen, schnell eine ziemlich klare Vorstellung davon, was sich wo in den Kassen befand und wie alles gesichert war. Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, wo die Kameras hingen, die Feuerlöscher, die Alarmknöpfe. Sollte hier je ein Verbrechen begangen werden: Er hatte die möglichen Szenarien dafür bereits im Kopf. Einem weniger korrekten Menschen als ihm hätte der Gedanke kommen können, dass er auf seine alten Tage genauso gut die Seiten wechseln und als Gangster agieren könnte. Und ein humorvollerer Mann als er hätte sich die Möglichkeiten dieses Szenarios vielleicht mit Genuss ausgemalt. Steinberger allerdings war ein überaus korrekter Mensch, der nicht dazu neigte, sich gehen zu lassen oder seltsamen Vorstellungen nachzuhängen. So machte er sich im Kopf nur eine Notiz,


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