Der schottische Bankier von Surabaya. Ian Hamilton

Der schottische Bankier von Surabaya - Ian  Hamilton


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und einer Flasche Wasser auf einem Tablett zurück. Sie wich Avas Blick aus, und Ava verspürte einen Anflug von Mitleid mit ihr.

      »Also, Theresa, dieser Lam hat aufgehört, Ihnen Dividenden zu zahlen, und ist seit sechs Monaten verschwunden«, sagte sie, als Theresa ihnen die Getränke hingestellt und sich wieder hingesetzt hatte.

      »Ja, so in etwa.«

      »Und weder Sie noch irgendjemand von den anderen, die Geld verloren haben, hat sich an die Behörden gewandt – bis auf die eine Person, die zur Polizei gegangen ist, dann aber einen Rückzieher gemacht hat.«

      »Ja, so ist es.«

      »Sie haben also absolut nichts unternommen, um zu versuchen, Ihr Geld zurückzubekommen?«

      »Wir haben versucht, Lam ausfindig zu machen.«

      »Wie?«

      »Wir haben einen Privatdetektiv engagiert. Einen Kanadier. Ich glaube nicht, dass er uns wirklich ernstgenommen hat.«

      »Und was hat er herausgefunden?«

      »Nichts.«

      »Und wieso glauben Sie, ich könnte mehr Erfolg haben?«

      »Wir glauben zu wissen, wo Lam jetzt ist.«

      »Sie glauben es?«, fragte Ava.

      »Vor vier Tagen hat mich meine Schwester angerufen, die zusammen mit meiner Mutter Verwandte in Saigon besucht – Ho-Chi-Minh-Stadt, wie es heute heißt, aber für uns ist es immer noch Saigon. Sie hatten unsere Cousins und Cousinen zum Essen ins Hyatt im Zentrum eingeladen, und als sie gingen, fuhr ein großer BMW vor dem Hotel vor. Meine Schwester schwört, dass sie Lam aus dem Wagen steigen und ins Hotel gehen sah.«

      »Woher wusste sie, dass er es war?«

      »Sein Foto war in allen hiesigen vietnamesischen Zeitungen, als die Fondsgesellschaft in Schwierigkeiten geriet, und meine Schwester sagt, dass sie ihn von dem Foto her erkannt hat. Und natürlich hat sie ihn bei seinem Namen gerufen. Sie hat gesagt, er habe sich sofort umgedreht, sie angesehen und sei dann ins Hotel gerannt.«

      »Er war es«, sagte Jennie und nickte Theresa zu.

      Theresa erwiderte ihr Nicken und schaute dann Ava an. Aus ihren Augen war die Ungewissheit verschwunden und von einem Zorn ersetzt worden, der an Hass grenzte. »Ich war gleichzeitig aufgebracht und glücklich. Ich habe mit meiner übrigen Familie gesprochen, und wir haben meine Schwester gebeten, jeden Abend zu dem Hotel zurückzukehren und zu sehen, ob sie mit ihm sprechen könnte. Er hat sich nicht wieder blicken lassen. Unterdessen habe ich Ihrer Mutter alles erzählt, und sie war so freundlich, auf die Möglichkeit hinzuweisen, dass Sie uns vielleicht helfen könnten.«

      »Ich habe keine Versprechungen gemacht«, versicherte Jennie Ava. »Ich habe Theresa nur erzählt, dass du und der Mann in Hongkong, mit dem du zusammenarbeitest, sehr gut darin seid, Geld wiederzubeschaffen. Das stimmt doch schließlich, oder?«

      »Ja, mehr hat sie nicht gesagt«, bestätigte Theresa.

      Ava verspürte den Druck dennoch. »Sie müssen wissen, dass nicht ich entscheide, welche Fälle wir übernehmen und welche nicht. Ich muss mit meinem Boss in Hongkong sprechen. Sie haben uns nicht gerade viele Anhaltspunkte geliefert. Ich meine, ein mögliches Auftauchen vor einem Hotel –«

      »Meine Schwester hat sein Autokennzeichen aufgeschrieben – das haben Sie also auch.«

      »Gut, das ist hilfreich, aber die Summe, um die es geht, spielt ebenfalls eine Rolle. Ich möchte Sie nicht beleidigen, Theresa, oder die Bedeutung herunterspielen, die sie für Sie hat, aber es ist weniger, als wir normalerweise in Erwägung ziehen würden.«

      Theresa warf Jennie einen flehenden Blick zu.

      »Aber du wirst mit Onkel reden, ja?«, fragte Jennie.

      Ava seufzte. Sie wusste, dass ihre Mutter kein Nein als Antwort akzeptieren würde. »Okay, ich rede mit ihm. Aber ich verspreche nichts.«

      »Danke«, sagte Theresa.

      »Und dann ist da noch unser Honorar. Wir kommen für unsere Auslagen auf – für alle –, aber wir behalten dreißig Prozent ein von dem, was wir eintreiben. Ist das annehmbar für Sie?«

      »Und wenn Sie nichts zurückholen?«

      »Dann sind die Ausgaben dennoch unsere Kosten, nicht Ihre.«

      Theresa nickte. »Siebzig Prozent von etwas ist besser als hundert Prozent von nichts.«

      »Müssen Sie mit Ihrer Familie sprechen?«

      »Nein, ich kann die Entscheidung treffen, und ich denke, dass es ein faires Angebot ist.«

      »Okay. Ich muss dennoch mit Hongkong sprechen, um grünes Licht zu bekommen.«

      »Ava, kannst du ihr nicht jetzt gleich zusagen?«, drängte Jennie sie.

      »Mummy, das geht nicht.«

      »Aber du gibst dein Bestes, was Onkel angeht, ja?«

      »Ja, ich gebe mein Bestes, aber ich kann nichts versprechen.«

      »Ava.« Jennie ließ nicht locker.

      »Ich kann nichts versprechen«, wiederholte Ava.

      3

      DAS LABOUR DAY WOCHENENDE hat eine besondere Wirkung auf die kanadische Psyche, und Ava war keineswegs immun dagegen. Das Wochenende signalisiert das Ende des Sommers, den Beginn eines neuen Schuljahres für praktisch jedes Kind im ganzen Land und das Aufschlagen einer neuen Seite im Leben vieler Menschen. Es markiert auf seine Weise, dass die Zeit des Müßiggangs vorüber ist und die Zeit der ernsthaften Arbeit wieder einsetzt. Einen Plan gefasst zu haben wäre ein guter Anfang gewesen, aber Ava hatte keinen Plan. Sie wusste nichts mit sich anzufangen und litt unter der Art von Melancholie, wie sie Menschen oft am 2. Januar heimsucht.

      Am Freitagabend holte sie Maria an der Bushaltestelle vor dem Rama ab. Sie machten sich ein faules Wochenende; sie aßen, tranken, gingen spazieren, lasen, liebten sich. Maria war einer der am wenigsten fordernden Menschen, denen Ava je begegnet war. Sie schien zufrieden zu sein, wenn sie auch nur kleine Dinge taten – oder auch überhaupt nichts –, solange sie nur mit Ava zusammen war. Manchmal fühlte Ava sich deswegen schuldig, und sie stellte fest, dass sie es wettzumachen suchte, indem sie Aktivitäten plante, die sie, wäre sie allein, nie in Erwägung gezogen hätte. Und so fuhren sie am Sonntag gen Norden nach Midland, um die Kirche Martyrs’ Shrine zu besuchen.

      Sie waren beide katholisch, beide trugen sie Kruzifixe und beide beteten sie oft auf ihre je eigene stille Weise. Genau wie Jennie versäumte Maria kaum jemals eine Sonntagsmesse, aber da sie wusste, mit welcher Abneigung Ava der Institution Kirche begegnete, verzichtete sie bei ihren Wochenendtrips in den Norden darauf. Und so kam es als Überraschung für sie, als Ava diesen Ausflug nach Midland vorschlug. Ava überlegte, ob sie ihre Mutter einladen sollte, sich ihnen anzuschließen, aber da sie am Montag alle drei zusammen im Auto in die Stadt zurückkehren würden, ließ sie es bleiben. Eine gemeinsame Fahrt genügte ihr vollauf.

      Sie verließen das Cottage um kurz nach acht, und auf den Straßen war es so ruhig, dass sie die Kirche um kurz vor neun erreichten und damit früh genug für die Zehn-Uhr-Messe waren. Sie spazierten über das weitläufige Gelände und standen dann hinter der Kirche und lasen die grausigen Einzelheiten über das Martyrium der Missionare. Die meisten von ihnen waren von den Huronen ausgiebig gefoltert worden. Maria war besonders betroffen von dem Leiden Jean de Brébeufs und bestand darauf, Ava die Einzelheiten vorzulesen.

      Maria war Kolumbianerin. Sie hatte einen Studienabschluss in Englisch und Betriebswirtschaft von der Universität von Bogotá. Sie war stellvertretende Handelskommissarin im kolumbianischen Generalkonsulat in Toronto, und zwar mit einem auf vier Jahre befristeten Vertrag, von denen zwei bereits verstrichen waren – eine Tatsache, über die sie nicht sprachen. Ava verstand nicht recht, wie der Katholizismus bei all der akademischen Bildung noch so wirkmächtig durch


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