Der schottische Bankier von Surabaya. Ian Hamilton

Der schottische Bankier von Surabaya - Ian  Hamilton


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ich glaube, es geht um mehr als zwanzig Millionen, aber um das mit Sicherheit sagen zu können, müssen Sie sich die Unterlagen ansehen. Deshalb haben wir das Treffen organisiert.«

      »Das Treffen?«

      »Wir haben alle gebeten, sich um neunzehn Uhr im Pho Saigon Ho Restaurant auf dem Highway 10 – Hurontario Street – in Mississauga einzufinden und ihre Unterlagen mitzubringen.«

      »Wann?«

      »Heute.«

      »Das ist kurzfristig.«

      »Unsere Leute können es alle einrichten. Es ist ihnen viel zu wichtig, um sich nicht darauf einzulassen. Und Ihre Mutter hat gesagt, Sie seien momentan arbeitslos.«

      Arbeitslos!, dachte Ava. Von zwei Frauen unter Druck gesetzt trifft es wohl besser. Warum hatte sie nicht nein gesagt, als sie sich in Orillia getroffen hatten? Warum hatte Onkel nicht nein gesagt? »Pho Saigon Ho?«, sagte sie und sah sich in der Falle.

      »Ja, dort gibt es ein Hinterzimmer, das wir nutzen können. Der Besitzer gehört zu denjenigen, die um ihr Geld gebracht wurden.«

      »Gut, ich werde da sein.«

      »Wunderbar! Vielen, vielen Dank.«

      »Und Theresa, bringen Sie mir bitte für alle Fälle das Kennzeichen des Wagens mit, aus dem Ihre Schwester Lam in Ho-Chi-Minh-Stadt hat aussteigen sehen.«

      »Ich habe es hier. Soll ich es Ihnen geben?«

      »Warum nicht«, sagte Ava.

      Während Theresa ihr das Kennzeichen durchgab, ging Ava eine der Maximen von Saul Alinsky, dem großen Wegbereiter des Community Organizing, durch den Sinn: Wenn du keine Entscheidung triffst, wird es jemand anders für dich tun. Sie hatte es vor sich hergeschoben, hatte versucht, Onkel die Entscheidung zuzuschieben, und am Ende hatte sie sich in den Erwartungen anderer verfangen. Alinsky hatte über Boris Pasternaks Protagonisten Doktor Schiwago geschrieben, der sich zwischen Lara, seiner Geliebten, und Tonya, seiner Frau, hin- und hergerissen fühlte. Er konnte sich nicht für eine der beiden Frauen entscheiden – sein Pech, dass er nicht Chinese war, dachte Ava. Dann hätte er beide haben können –, und als er eines Tages von Lara zu Tonya zurückreitet, erfüllt von Zweifeln und Schuldgefühlen, wird er im Wald von roten Partisanen aufgegriffen und gezwungen, jahrelang als Feldarzt für sie zu arbeiten. Wenn er eine Entscheidung getroffen hätte, so Alinsky, dann wäre sein Leben völlig anders verlaufen. Ava teilte seine Ansicht. Ihr selbst hingegen konnte man normalerweise eher nachsagen, dass sie zu entscheidungsfreudig war. Nun hatte Theresa quasi die Rolle der roten Partisanen übernommen.

      »Wie viele Leute werden da sein?«, fragte Ava.

      »Mindestens vierzig, vielleicht auch mehr.«

      »Wie viele verstehen und sprechen Englisch?«

      »Einige.«

      »Ich brauche jemanden, der oder die übersetzt. Ich möchte nicht, dass es irgendwelche Missverständnisse gibt.«

      »Der Restaurantbesitzer kann das übernehmen.«

      Ava hatte eine Vorlage ihres Standardvertrages auf ihrem Laptop, aber sie hatte keine Ahnung, wie viele Kopien sie brauchen würde. »Theresa, ich möchte, dass eine Person für jede Familie, für jede Partei unterschreibt. Wie viele werden das dann sein?«

      »Zumindest die zwölf, die ich bereits erwähnt habe.«

      »Gut, dann bringe ich auf alle Fälle zwanzig Vertragsausfertigungen mit.«

      Ava sah auf die Uhr und überlegte, Onkel anzurufen. Dann entschied sie sich dagegen. Sie wartete lieber ab, bis sie wusste, wie viel Geld genau sie hinterherjagen würden.

      6

      DEN FRÜHEN NACHMITTAG verbrachte sie damit, sich auf das abendliche Treffen vorzubereiten. Alles, was es wirklich erforderte, war, die Vertragsausfertigungen auszudrucken und ihren Schrank durchzusehen und die Röcke, Hosen und Blusen, die sie zu geschäftlichen Anlässen trug, herauszuholen. Ihre Business-Outfits hatten monatelang kein Licht gesehen. Sie probierte Verschiedenes an und stellte zu ihrer Überraschung fest, dass die Röcke und Hosen ein bisschen locker saßen. Die Blusen, eine breite Kollektion überwiegend von Brooks Brothers, alle mit Umschlagmanschetten, saßen so enganliegend wie zuvor. Für eine Chinesin hatte Ava große Brüste, und sie sah keinen Grund, dies zu kaschieren.

      Sie legte einen schwarzen Rock heraus, der bis zum halben Knie ging, und dazu eine weiße Leinenbluse mit abgewandeltem Italienischem Kragen. Dann schaute sie auf die Uhr. Sie hatte noch Stunden vor sich, ehe sie sich auf den Weg nach Mississauga machen musste. Ihr Bak-Mei-Lehrer unterrichtete in einem Haus ein Stück nördlich von ihrem Apartment, gleich westlich der Avenue Road. Er hatte nur eine Bak-Mei-Schülerin und einen -Schüler, sie und Derek. Seinen Hauptlebensunterhalt verdiente er damit, große Abendklassen in anderen Kampfkünsten zu unterrichten. Derek und Ava trainierten separat – Bak Mei wird stets eins zu eins unterrichtet –, und wenn sie in der Stadt war, stimmten sie ihre Stunden miteinander ab. Großmeister Tang mussten sie nicht anrufen. Die Nachmittage waren immer offen, und er war nahezu immer da und freute sich, Ava oder Derek zu sehen.

      Ava beschloss, Derek nicht anzurufen. Es war nur ein kurzer Weg bis zu dem Haus, und wenn Tang nicht da war oder Derek bei ihm war, würde sie wieder heimgehen. Sie hatte im frühen Teenageralter mit dem Kampfkunstunterricht angefangen und rasch Talent gezeigt. Sie war schnell, wendig und furchtlos, und sie liebte das Training. In wenigen Monaten hatte sie alle anderen in der Gruppe der Gleichaltrigen überflügelt, so dass ihr Lehrer sie mit den Erwachsenen trainieren ließ. Zwei Jahre später hatte sie ein Niveau erreicht, das an das ihres Lehrers grenzte. Er nahm sie beiseite und fragte sie, ob sie Interesse habe, Bak Mei zu lernen. Seitdem ging sie zu jenem Haus in Toronto, um von Großmeister Tang zu lernen.

      Bak Mei ist nahezu die perfekte Kampfkunst für Frauen. Die Schläge sind schnell, leicht und kurz und quasi explosiv, wenn die geballte Energie freigesetzt wird. Bak Mei erfordert nicht viel körperliche Kraft, um wirkungsvoll zu sein. Bak-Mei-Angriffe zielen darauf ab, Schaden zuzufügen. Sie zielen auf die empfindlichsten Stellen des Körpers wie Ohren, Augen, Kehle, Unterarme, Seiten, Magen und Leisten. Tritte erfolgen in den unteren Bereich, selten oberhalb der Taille.

      Ava war es nicht leichtgefallen, sich Bak Mei anzueignen. Derek war vermutlich der Begabtere von ihnen, aber sie war beharrlich geblieben. Und auch wenn sie ihm kräftemäßig unterlegen war, machten ihre blitzschnellen Reflexe und ihre Fähigkeit, Schwachpunkte mit unfehlbarer Präzision zu treffen, sie zu einer überragenden Kämpferin.

      Der Großmeister lebte in einem unscheinbaren zweistöckigen Backsteinhaus. Er hatte keinen Grund, in der Nachbarschaft oder unter den Kampfkunststudierenden Werbung für sich zu machen. Alle in Toronto, die sich auch nur im Geringsten für Kampfkünste interessierten, wussten, wer er war und wo er zu finden war.

      Ava klingelte an der Eingangstür mit dem eingelassenen Fenster. Wenn er da war, würde er aufmachen. Sie wartete annähernd eine Minute, ehe sie ihn die Treppe herunterkommen sah. Sie hatte keine Ahnung, wie alt er war, vielleicht Mitte fünfzig, doch seine übliche Kluft aus Jeans und einem weißen T-Shirt zeigte den Körper eines Zwanzigjährigen. Er lächelte, als er sie sah, und Ava winkte ihm zu. Tang öffnete die Tür und neigte kaum wahrnehmbar den Kopf. »Willkommen daheim«, sagte er.

      Sie trainierten zwei Stunden und konzentrierten sich auf sämtliche Grundformen. Auf sich allein gestellt neigte Ava dazu, sich auf den Panther, die Schlange und manchmal den Kranich zu konzentrieren. Tang verwendete fast eine halbe Stunde auf den Drachen und dann eine weitere längere Zeitspanne auf den Tiger. Er kannte Avas Vorlieben und er kannte ihre Schwächen, und er sah keinen Grund, nicht nach Perfektion zu streben. Ava wuchs mit der Herausforderung.

      Es war nahezu fünf Uhr, als sie in ihre Wohnung zurückkehrte. Ihr ganzer Körper fühlte sich so geschmeidig an wie ein Gummiband. Sie duschte schnell und zog sich an. Im Cottage oben im Norden hatte sie nicht nur keine formelle Kleidung getragen, sondern auch keinen Schmuck.


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