Der schottische Bankier von Surabaya. Ian Hamilton

Der schottische Bankier von Surabaya - Ian  Hamilton


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freut es auch, dich zu sehen«, erwiderte sie und fragte sich, was genau in seinem Kopf vorgehen mochte. »Aber ehe ich die Flüge buche: Könntest du dir bestätigen lassen, dass Lam noch dort ist? Du hast das Haus seines Bruders erwähnt …«

      »Er ist dort. Unsere Leute haben ihn im Garten werkeln sehen.«

      »Woher wussten sie, dass er es ist?«

      »Ava, sie haben sein Passfoto.«

      »Natürlich«, sagte sie und kam sich dumm vor. »Sie haben aber nicht mit ihm gesprochen, oder?«

      »Keine Sorge. Sie haben sich ihm nicht genähert.«

      »Dann ist ja alles klar. Ich versuche, morgen Abend noch zu fliegen. Ich werde den Cathay-Pacific-Flug nach Hongkong nehmen und von dort aus weiterfliegen.«

      »Buch keinen Flug nach Ho-Chi-Minh-Stadt vor dem späten Vormittag oder frühen Nachmittag. Dann können wir zusammen frühstücken, ehe du weiterfliegst.«

      »Das mache ich. Und ich maile dir meine Flugdaten, sobald ich sie habe.«

      »Schön, dass du wieder im Einsatz bist«, sagte er.

      »Wir sehen uns in Hongkong«, erwiderte sie und beendete das Gespräch.

      Ich kehre an die Arbeit zurück, dachte sie.

      8

      AVA SCHLIEF UNRUHIG; ihr Vater tauchte wieder in ihren Träumen auf, und am Rande lungerte ihr Halbbruder Michael herum. Sie waren in irgendeiner großen Stadt in den Vereinigten Staaten, in einem Komplex bestehend aus Büros und Fabriken und Hoteletagen, alles vermischt, und sie mussten zum Flughafen. Ihr Vater schickte sie los, um ihrer beider Gepäck zu holen, während er auscheckte. Ava verirrte sich in einem Gewirr aus Gängen, stieg kopflos von einem Fahrstuhl in den nächsten, während die Zeit verrann. Türen öffneten sich zu Räumen mit Fließbändern, andere Räume waren mit Schreibtischen vollgestopft, und Büroangestellte hielten sie für verrückt, als Ava sie verzweifelt nach dem Eingang zum Hotel fragte. Während ihre Abreise näher rückte, wuchs ihre Panik. Das war der Augenblick, als Michael erschien, in einem Atrium zwei Stockwerke über ihr, und ihr zurief, sie solle zu ihm kommen. Sie traute sich nicht, die Fahrstühle zu nehmen, sondern lief im Treppenhaus hoch. Doch als sie zwei Stockwerke höher ankam, fand sie die Ausgangstür nicht. Dort war überhaupt keine Tür.

      Sie fuhr aus dem Schlaf hoch und warf einen raschen Blick auf ihren Wecker. Es war kurz nach sieben, und sie war froh, aufstehen zu können; sie fand es seltsam, dass der Traum mit seinem wiederkehrenden Thema vom verlorenen Vater und dem fernen Bruder sie in der zweiten Nacht, die sie wieder in der Stadt war, heimsuchte. Oben im Norden hatte sie geschlafen wie ein Stein.

      Ava ging zur Tür, um die Zeitung hereinzuholen, und kochte sich einen Instantkaffee. Sie setzte sich an den Tisch beim Fenster und las ein bisschen schneller als am Vortag. Sie hatte jetzt anderes zu tun.

      Als sie geduscht, sich angezogen und zwei weitere Tassen Kaffee getrunken hatte, ging sie drei Mal ihre Garderobe durch, ehe sie sich schließlich für zwei Hosen entschied, einen kurzen Rock, vier Businessblusen und zwei Paar Schuhe. Sie legte alles auf dem Bett aus und fügte dann ihr Reisenecessaire, BHs, Slips, drei T-Shirts, Joggingschuhe, Shorts, ihre Adidas-Nylonjacke und -Trainingshose hinzu. Ich werde einen richtigen Koffer brauchen, wenn ich das alles mitnehmen will, dachte sie, als sie den Haufen Kleidung auf ihrem Bett betrachtete. Zwei Blusen, der Rock und ein Paar Schuhe kehrten in den Schrank zurück. Wenn sie ihre Laufschuhe trug und ihr Adidas-Outfit, passte alles andere in ihre Shanghai Tang Ledertasche und damit ins Handgepäck.

      Als sie mit dem Packen fertig war, setzte sie sich in die Küche und griff zum Telefon. In schneller Abfolge rief sie Maria, Mimi und ihre Schwester Marian an und erzählte ihnen, dass sie einen Auftrag übernommen hatte und zumindest einige Tage außer Landes sein würde. Keine von ihnen schien überrascht. Marian meinte: »Ich hatte mich schon gefragt, wie lange es wohl dauern würde, bis du wieder im Einsatz wärst.« Mimi bat sie, in Verbindung zu bleiben. Und Maria, die, so befürchtete Ava, sich um ihre Anwesenheit beraubt fühlen würde, fragte bloß: »Die Frau in der Kirche?« Ava war leicht konsterniert über den allgemeinen Mangel an Besorgnis, aber dann wurde ihr klar, dass keine von den dreien von der Seelenforschung wusste, die sie in den vergangenen Monaten betrieben hatte. Sie dachten, es wäre business as usual, und das bedeutete, dass Ava in ein Flugzeug stieg und irgendwo hinflog.

      Ihre Mutter rief sie als Letztes an. Für Jennie war es immer noch ein bisschen früh, und ihre Stimme war schwer vor Schlaf. »Du fliegst heute?«

      »Woher weißt du das?«

      »Theresa hat mich gestern am späten Abend angerufen. Sie ist dir sehr dankbar. Und ich auch.«

      »Ich habe keine Versprechungen gemacht, und das solltest du auch nicht. Ich werde mein Bestes tun.«

      »Ich bin einfach nur froh, dass du es versuchst.«

      »Versuchen ist das richtige Wort.«

      »Fliegst du über Hongkong?«

      »Ja.«

      »Bleibst du länger dort?«

      Ava zögerte. Sie wusste, worauf das hinauslief. »Nur ein paar Stunden. Ich habe gerade Zeit genug, mich mit Onkel zu treffen.«

      »Ruf deinen Vater dennoch an, wenn du da bist. Wenn dich jemand sieht und ihm erzählt, dass du in Hongkong warst und du ihn nicht mal angerufen hast, wird er gekränkt sein.«

      »Ich werde ihn anrufen.«

      »Gut. Wenn ich heute Abend mit ihm spreche, sage ich ihm, dass du dich melden wirst.«

      Ava wollte protestieren, zügelte sich aber. Marcus und Jennie telefonierten täglich miteinander, und sie war überzeugt, dass es nicht einen Tag gab, an dem sie und Marian nicht auch Thema waren. Und wenn Jennie mit Marcus sprach, würde Marcus es Michael gegenüber erwähnen und Michael Amanda gegenüber und Amanda May Ling gegenüber. Sechs Monate zuvor war Avas Leben entschieden einfacher gewesen.

      Ihr Handy klingelte.

      »Mummy, mein anderes Telefon … Ich muss rangehen.«

      »Ruf mich zwischendurch mal an.«

      »Nur wenn du versprichst, mich nicht zu fragen, wie ich mit Theresas Fall vorankomme.«

      »Ava, sei nicht so gemein.«

      »Hab dich lieb.« Ava beendete das Gespräch und griff nach ihrem Handy.

      Es war Theresa Ng, die deprimiert klang. »Ich habe mit Joey Lac gesprochen. Er weiß nicht, ob er sich mit jemandem treffen möchte.«

      »Er weiß es nicht oder er will es nicht?«

      »Sie werden ihn anrufen müssen, um es herauszufinden.«

      »Theresa, als Sie gesagt haben, dass Ihr Bruder ihn geschlagen hat – was genau ist da passiert?«

      »Sie haben sich gestritten, und mein Bruder hat die Beherrschung verloren.«

      »Hat er Lac verletzt?«

      »Ein bisschen.«

      »Was heißt das?«

      »Er hat ihn mit einem Baseball-Schläger am Bein erwischt.«

      »Du lieber Himmel!«

      »Es tut mir leid, Ava. Aber ich glaube nicht, dass sein Bein gebrochen ist oder so. Es ist nur eine Prellung, denke ich.«

      Kein Wunder, dass Lac nicht auf ein Treffen erpicht ist, dachte Ava. »Geben Sie mir seine Telefonnummer«, sagte sie gereizt.

      Ava wählte die Nummer – sie gehörte einer Steuerberatungskanzlei in Richmond Hill – und hing einige Minuten in der Warteschleife. Sie fing schon an zu glauben, dass Lac sich weigerte, ihren Anruf anzunehmen, als er sich schließlich mit einem schüchternen »Hallo« meldete.

      »Mr. Lac, mein Name ist Ava Lee, und


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