Der schottische Bankier von Surabaya. Ian Hamilton

Der schottische Bankier von Surabaya - Ian  Hamilton


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haben Sie Lam das letzte Mal gesehen oder von ihm gehört?«

      »Als ich mich mit ihm getroffen habe, um ihn zu bitten, meinem Onkel sein Geld zurückzugeben.«

      »Hat er jemals über die Bank gesprochen?«

      »Nicht ein Wort.«

      »Und Sie glauben wirklich nicht, dass Lam sich mit dem Geld aus dem Staub gemacht hat?«

      Lac warf den Kopf in den Nacken und kniff die Augen zusammen. »Nein, aber ich wünschte, ich würde es glauben. Das wäre einfacher, denn dann bestünde zumindest die leise Hoffnung, es zurückzubekommen. Aber es sieht Lam nicht ähnlich, Geld zu veruntreuen. Das ist nicht seine Art.«

      »Das sagen Sie«, entgegnete Ava. »Aber wenn er es nicht veruntreut hat, wo ist es dann abgeblieben?«

      10

      AVA ÖFFNETE DIE AUGEN und blinzelte in das grelle Kabinenlicht. Sie blickte aus dem Fenster auf das Südchinesische Meer, das in der Morgensonne glitzerte und mit Schiffen gesprenkelt war, deren Anzahl mit jedem Kilometer, den sie sich Hongkong näherten, zunahm. Ava stand auf und streckte sich, dann ging sie in den Waschraum, um sich frischzumachen und einen klaren Kopf zu kriegen.

      Chek Lap Kok International gehörte zu einer Reihe von neueren asiatischen Flughäfen – wie Bangkok, Singapur, Kuala Lumpur und Beijing –, die einzig darauf ausgerichtet waren, Menschen und Gepäck so effizient wie möglich durchzuschleusen. Der Flughafen besaß nichts von dem Charme des alten Kai Tak Airport in Kowloon, den man nach einer scharfen Kurve entlang der Berge direkt über die Hochhäuser Hongkongs zur Landebahn im Victoria Harbour angeflogen hatte, so dass die zum Trocknen aufgehängte flatternde Wäsche fast die Flügel des Flugzeugs zu streifen schien.

      Lap Kok war auf einer künstlich erheblich veränderten Insel etwa zwanzig Kilometer von Hongkong entfernt errichtet worden. In Avas Augen besaß dieser Flughafen den Vorzug, dass sie nur etwa fünfzehn Minuten brauchte, um aus dem Flugzeug zu steigen, den Zoll zu passieren und ihr Gepäck (sofern sie es aufgegeben hatte) abzuholen. Um ins Stadtzentrum zu fahren, konnte sie den Airport Express-Zug nehmen oder mit dem Taxi die sechsspurige Schnellstraße in Küstennähe zurücklegen. Kai Tak war zwar nur eine zehnminütige Taxifahrt von Onkels Wohnung entfernt gewesen, aber es hatte länger gedauert, die Pass- und Zollkontrolle hinter sich zu bringen – die Schlangen in der Ankunftshalle reichten oft bis in die Gänge hinein – und für ein Taxi anzustehen, als die Fahrt von Chek Lap Kok aus.

      Wie gewöhnlich, war Ava binnen Minuten durch die Pass- und Zollkontrolle und in der Ankunftshalle. Sie strebte auf den Taxistand zu, als sie hörte, wie jemand hinter ihr ihren Namen rief. Sie wandte sich um und erblickte Sonny. Er stand unter dem Zeichen mit der Aufschrift MEETING POINT.

      Sie blinzelte und hielt dann nach Onkel Ausschau. Er war nirgends zu sehen. Sonny winkte unbeholfen. Ava ging auf ihn zu, und ihr stiegen Tränen in die Augen. Bei ihrer letzten Begegnung hatte er sie auf seinen Armen aus dem Haus in Macao getragen. Für die andere Seite war die Auseinandersetzung böse ausgegangen: drei Tote und ein Schwerverletzter; Ava war die Einzige, die auf ihrer Seite verwundet worden war. Sonny hatte ihr vermutlich das Leben gerettet.

      »Hey, Boss!«, sagte er. Er trug einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd und eine schwarze Krawatte, was ihn aber nicht weniger bedrohlich aussehen ließ. Er war gut eins achtzig groß, stämmig und trotz seiner Masse unglaublich agil. Ava kannte keinen Mann, der körperlich mehr zu fürchten war.

      »Sonny«, sagte sie und streckte die Arme aus.

      Sie umarmten einander – das war neu in ihrer Beziehung; das hatte Macao verändert.

      »Schön, dich zu sehen. Wir waren nicht sicher, ob du zurückkommen würdest.«

      »Ich auch nicht.«

      Er griff nach ihrem Handgepäck. Sie wehrte sich dagegen, aber nur für einen Moment. Seite an Seite gingen sie zum Ausgang. Neben Sonny war sie sich immer klein vorgekommen, und jetzt, wo die Erinnerungen an Macao sie bestürmten, umso mehr. Sie hatte nicht über die Ereignisse nachgedacht, wie sie feststellte. Oder hatte es vorgezogen, alles zu vergessen. Wie auch immer – mit Sonny kam nun alles zurück.

      »Ich habe Onkel gebeten, nicht zum Flughafen zu kommen«, sagte sie.

      »Er hat mich trotzdem geschickt.«

      Sie verließen das Flughafengebäude und hatten nur wenige Schritte bis zu dem silbernen S-Klasse-Mercedes, Onkels neuem Wagen. Er stand in einer Parkverbotszone; daneben ein Polizist. Der lächelte Sonny an, und einen Augenblick dachte Ava, er würde ihnen die Türen öffnen. Stattdessen nickte er leicht und entfernte sich. Ava wollte die Beifahrertür öffnen, aber Sonny legte ihr die Hand auf den Arm und öffnete die hintere Tür. »Onkel nimmt immer hinten Platz, wie du weißt.«

      Sie zögerte und sah, wie Sonny die Stirn runzelte. Sie glitt auf den Rücksitz und stellte ihr Handy an, während sie das Terminal verließen. Es gab eine Sprachnachricht von Maria, die sehr viel niedergeschlagener klang als zuvor, als Ava verkündet hatte, dass sie ihre Arbeit wieder aufnehmen würde. In Toronto war es früher Abend, und Ava hätte sie erreichen können. Sie entschied sich dagegen. Wenn sie einem Auftrag nachging, versuchte sie ihr Privatleben und alle Ablenkungen, die damit verknüpft sein mochten, im Hintergrund zu halten. Es war eine gute Angewohnheit, die sie gleich wieder annahm.

      »Wir fahren nicht ins Mandarin«, sagte Sonny und sah sie im Rückspiegel an. »Onkel hat gesagt, als du das letzte Mal hier warst, hättet ihr jook in Kowloon gegessen und das hätte euch Glück gebracht. Er möchte dich in demselben Restaurant treffen.«

      »Ist gut«, sagte Ava.

      Den ersten Teil der Fahrt nach Hongkong legten sie schweigend zurück. Sonny war selbst zu besten Zeiten nicht besonders gesprächig, Ava empfand Stille als absolut angenehm, und so war Schweigen für sie beide völlig natürlich. Doch als sie die Tsing-Ma-Brücke überquerten und Hongkong in Sicht kam, sagte Sonny: »Ich kann dir gar nicht sagen, wie glücklich er ist, dass du hier bist und dass ihr beide zusammen wieder einen Auftrag übernommen habt.«

      »Ich freue mich auch, ihn wiederzusehen.«

      »Er hat das gebraucht.«

      »Was meinst du damit?«, fragte Ava.

      »Er hat etwas gebraucht, das sein Interesse wieder weckt«, erklärte Sonny. »Lourdes und ich haben uns Sorgen um ihn gemacht.«

      »Du machst mir Angst«, sagte Ava hastig. »Gibt es etwas, das ich wissen sollte?«

      Sonny wandte sich kurz zu ihr um. »Wir sind uns nicht sicher.«

      »Sonny, rede mit mir – bitte!«

      »Im Grunde gibt es nichts, über das wir reden müssten. Es gibt keinen echten Grund zur Besorgnis. Es ist bloß so, dass es Tage gegeben hat, an denen er nicht aus dem Haus gegangen ist, und du weißt ja, dass das gar nicht seine Art ist. Und dann wieder gab es Tage, an denen er allein unterwegs war, ohne mir etwas zu sagen. Das ist auch nicht seine Art.«

      »Weißt du, wo er war?«

      »Nein.«

      »Das ist wirklich merkwürdig.«

      An seinen Augen im Rückspiegel sah sie, dass er unschlüssig war. »Lourdes denkt, dass er einfach bloß alt wird.«

      »Er ist alt.«

      »Natürlich ist er das, aber er hat sich nie alt verhalten. Sein Verstand war immer so scharf, und körperlich war er nie ein Mann, der Wehwehchen und Zipperlein hatte.«

      »Was hat sich verändert?«

      Sonny zögerte, und sie wusste, dass es ihm schwerfiel, über Onkel auf eine andere Weise zu reden als mit äußerstem, bedingungslosem Respekt. Selbst ihm gewöhnliche menschliche Gebrechlichkeit zuzuschreiben musste ihm wie eine Art Verrat vorkommen.

      »Wir sind wie eine Familie, Sonny«, sagte sie.

      »Er hat mit mir über die alten Zeiten


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