Der schottische Bankier von Surabaya. Ian Hamilton

Der schottische Bankier von Surabaya - Ian  Hamilton


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war Richmond Hill, Ontario, so chinesisch wie Richmond, British Columbia.

      Das Lucky Season befand sich in einem Einkaufszentrum namens Times Square, das der Hongkonger Mall gleichen Namens nachempfunden war. Es war kein schickes Restaurant, aber man bekam ein köstliches und preisgünstiges Dim Sum. Jennie hatte das Lokal Jahre zuvor entdeckt und besuchte es seitdem mehrmals in der Woche. Jedes Dim-Sum-Gericht kostete zwei Dollar zwanzig, also etwa die Hälfte von dem, was man in den meisten anderen Lokalen am Highway 7 bezahlte, und vielleicht ein Viertel von dem, was die angesagten Restaurants wie das Lai Wah Heen in der Innenstadt von Toronto in Rechnung stellten. Das Lokal bot Platz für etwa vierhundert Gäste und war immer voll.

      Ava kannte die Frau am Empfang – eine weitere von Jennie Lees unzähligen Freundinnen – und wurde sofort an einer Gruppe wartender Gäste vorbei zu einem Tisch geleitet. Niemand beklagte sich über die Vorzugsbehandlung. Beziehungen zu haben war akzeptierter Bestandteil des Alltagslebens in Richmond Hill; es wurde einem keineswegs geneidet – es wurde bewundert.

      Die Restaurantmitarbeiterin erkundigte sich nach Jennie. Ava erklärte, dass ihre Mutter den Sommer in einem Cottage verbracht hatte. Die Frau – sie war in flachen Schuhen mindestens eins fünfundachtzig groß und hatte im Basketballteam der chinesischen Frauen mitgespielt – sah ungläubig zu Ava herunter. »Ich dachte, sie wäre nach Hongkong gefahren oder so. In einem Cottage kann ich sie mir nicht vorstellen.«

      Ava zuckte die Achseln. »Sie hat es überlebt.«

      »Möchten Sie Sauer-Scharf-Suppe?«, fragte die Frau.

      »Ja, wie immer. Die bestelle ich jetzt schon. Und alles andere, wenn mein Gast eingetroffen ist.«

      Wenn es ums Essen ging, war Ava erklärtermaßen voreingenommen. Sie glaubte, dass die chinesische Küche in all ihrer unglaublichen Vielfalt und ihrer Wertschätzung frischer Zutaten nicht zu übertreffen war. Und wenn sie nur ein einziges Gericht würde wählen dürfen, dann wäre es Sauer-Scharf-Suppe. Sie hatte sie, so meinte sie, buchstäblich tausendfach in Hunderten von Restaurants gegessen. Und jedes Mal, wenn sie sie aß, war sie anders – nicht nur von Restaurant zu Restaurant, sondern selbst in ein und demselben Restaurant an verschiedenen Tagen. Die fortwährende Überraschung entzückte sie. Die Vielfalt, was die möglichen Zutaten anging, sowohl die unabdingbaren als auch die wahlweisen, war so breit gefächert, dass kleine Abweichungen hier und da das ganze Geschmacksprofil verändern konnten. Wie der Name schon sagte, musste die Suppe scharf sein, deshalb gehörten Pfeffer- und Chilischoten auf jeden Fall hinein. Sie sollte außerdem eine leicht saure Note haben, also musste dem Hühnerfond, der die Grundlage bildete, Essig zugegeben werden, zusammen mit – und hier wurden Köchinnen und Köche wirklich kreativ – einer Kombination aus Tofu, Schweinefleisch, Bambussprossen, Mu-Err- und Shiitake-Pilzen, Sojasauce, Sesamöl, Zucker, Frühlingszwiebeln, Shrimps, Jakobsmuscheln und Entenfleisch.

      Jedes Restaurant, das eine gute Sauer-Scharf-Suppe zu kochen wusste, konnte auf Ava zählen. Das Lucky Season servierte eine hervorragende und gehörte auf alle Fälle zu ihren Top Three. Ava mochte ihre Suppe besonders scharf, und der Koch im Lucky Season sparte nicht an schwarzem Pfeffer und Chili, ging maßvoll mit dem Essig um und fügte Streifen von roter und grüner Paprika hinzu. Seine Suppe war von hellbrauner Farbe, aber Ava hatte auch schon rote, rosa und dunkelbraune Varianten gegessen. Sie tunkte ihren Löffel ein und holte einen hellrosa Shrimp heraus, um den ein Mu-Err-Streifchen gewickelt war. Sie aß ihn und lächelte.

      Joey Lac kam pünktlich. Ava hatte ihre Suppe bereits gegessen und plauderte mit der Restaurantmitarbeiterin, als sie einen Mann an der Tür stehen sah, der den Blick über den Gastraum schweifen ließ. Er war größer, als sie erwartet hatte, annähernd eins achtzig, und ziemlich gewichtig. Ava stand auf und winkte ihm zu. Er sah sie an und schaute dann um sich, als wolle er sich vergewissern, dass sie wirklich allein war. Theresas Bruder hat ihn paranoid gemacht, dachte Ava.

      Schwerfällig kam er auf sie zu, Schweißperlen zeigten sich auf seiner Oberlippe und der Stirn. Ava streckte ihm die Hand hin. »Danke, dass Sie gekommen sind.«

      »Sie sind anders, als ich erwartet hatte«, sagte er.

      »Wieso?«

      »Ich hatte jemand Älteren erwartet, eine Vietnamesin. Sie sind keine Vietnamesin, oder?«

      »Nun, ich bin älter, als ich aussehe, und nein, ich bin keine Vietnamesin. Ich bin Chinesin. Warum überrascht Sie das?«

      »Sie trauen nicht vielen Menschen, die keine Vietnamesen sind.«

      »Vielleicht bin ich ihre einzige Hoffnung, ihr Geld zurückzubekommen. Oder vielleicht müssen sie, nach dem, was Lam ihnen angetan hat, neu einschätzen, wem sie vertrauen können.«

      »Ich denke, es ist am wahrscheinlichsten, dass Sie ihre einzige Hoffnung sind«, erwiderte Lac und ließ sich bedächtig auf dem Stuhl ihr gegenüber nieder.

      Ava setzte sich ebenfalls. »Wie dem auch sei. Noch einmal danke, dass Sie gekommen sind.«

      »Ich wollte nicht, aber es ist besser, als wenn Sie in meinem Büro aufgekreuzt wären. Dort hat es schon genug Ärger gegeben, und mit meiner Familie ebenfalls. Ich kann von Glück sagen, dass ich meinen Job noch habe.«

      Sofort tauchten Fragen in Avas Kopf auf, aber sie zügelte sich und nahm sich vor, nichts zu überstürzen. Lac war bereits nervös genug. »Lassen Sie uns was zu essen bestellen, und dann können wir reden«, schlug sie vor. »Gibt es etwas Bestimmtes, das Sie mögen oder nicht mögen?«

      »Ich mag Hühnerfüße.«

      »Entenfüße?«

      »Die auch.«

      Ava füllte das Dim-Sum-Menü aus und hielt es hoch, damit eine Bedienung es nahm, abzeichnete und zur Küche brachte.

      »Ich habe außerdem Har Gau, mit Fischpaste gefüllte Auberginen und frittierten Tintenfisch bestellt.«

      »Super«, sagte er ohne Enthusiasmus.

      »Wo haben Sie studiert?«, fragte Ava.

      »York University.«

      »Ich auch. Welcher Jahrgang?«

      »1990.«

      »Ah, ich war ein paar Jahre nach Ihnen dort.«

      »Was Sie nicht sagen«, erwiderte er und sah sie zum ersten Mal direkt an. »Erzählen Sie mir, was das für ein Unternehmen ist, für das Sie arbeiten. Und wieso glauben Sie, dass Sie Lam finden können und, falls es Ihnen gelingt, dass Sie einen Teil des Geldes wiederbeschaffen können?«

      »Meine Firma ist in Hongkong angesiedelt«, antwortete sie, erfreut, dass er zur Sache kommen wollte. »Aufträge wie diesen übernehmen wir seit mehr als zehn Jahren. Menschen, die um ihr Geld gebracht werden und es auf traditionelle Weise nicht zurückbekommen, wenden sich an uns. Unsere Klientel sitzt vorwiegend in Asien. Wir haben eine außerordentlich hohe Erfolgsrate.«

      »Am Telefon haben Sie gesagt, dass Sie wissen, wo Lam sich aufhält. Stimmt das?«

      »Ja.«

      »Spielt aber auch keine Rolle. Ich glaube nicht, dass er das Geld hat«, fuhr Lac fort.

      »Irgendjemand hat es. Das Geld ist irgendwo hingegangen.«

      »Und Sie werden es finden?«

      Ava zuckte die Achseln. »Sie hatten Ärger auf der Arbeit deswegen?«

      »Ein Klient hat Geld in den Fonds investiert.«

      »Und mit Ihrer Familie?«

      »Einer meiner Onkel.«

      »Wie heißt er?«

      »Louis Lac.«

      Der Name klang vertraut. Ava holte ihr Notizbuch hervor und ging die Einträge durch, die sie in dem vietnamesischen Restaurant gemacht hatte. Da war er – er war um zwei Millionen Dollar betrogen worden.

      »Ihr Onkel ist einer meiner Klienten. Er gehört zu denen, die uns beauftragt haben.«

      Die


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