Europa im Schatten des Ersten Weltkriegs. Группа авторов
Raum wie Lewis B. Namier oder Alfred F. Přibram, knüpften an die Geschichtsschreibung von Edward Gibbon aus dem 18. Jahrhundert an. Sein Werk über den Fall des Römischen Imperiums popularisierte eine Geschichte des decline and fall – des „Verfalls und Untergangs“.9 Die frühe britische Geschichtsschreibung zum Thema Donaumonarchie wurde auch durch die späten Ansätze der Macauley’schen sogenannten whig-history beeinflusst. Schilderungen politisch aktiver Historiker und Journalisten wie Henry Wickham Steed (1871–1956) und Robert William Seton-Watson (1879–1951), insbesondere auf die Lage der Südslawen konzentriert, prägten dabei ein politisch motiviertes Bild der Donaumonarchie als „Völkerkerker“.10 Die Habsburgermonarchie zu untersuchen, war in vielerlei Hinsicht eine zeitgemäße Angelegenheit: Die politische Krise und die Nationalitätenkämpfe in der Habsburgermonarchie haben den Kontext zu den jüngsten politischen Entwicklungen in Mittel- und Südosteuropa in den 1920er und 1930er Jahren sowie auch in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg geboten. Dabei sollte man sich an die zahlreichen Werke der anglo-amerikanischen Geschichtsschreibung erinnern: vom ausschlaggebenden Essay über den Zerfall der Monarchie in 41 Punkten von Lewis B. Namier (1888–1960)11 bis zu den synthetischen Werken von Arthur J. May, Robert A. Kann, A. J. P. Taylor, C. A. Macartney und zahlreichen anderen Historikern.
Natürlich hatten politische Umstände früher wie auch heute einen bestimmten Einfluss auf die Geschichtsschreibung. Nach 1918 war es nicht nur wichtig, den Zerfall großer europäischer Imperien zu analysieren, sondern gewiss auch neue „grand narratives“ für Nachfolgestaaten zu gestalten; der Habsburger „Völkerkerker“ spielte dabei eine wichtige Rolle. Anderseits wurde im Kalten Krieg wieder vieles umgedacht: der „Eiserne Vorhang“ und die Sowjetisierung Ost-Mitteleuropas und Osteuropas ließ schnell den „Völkerkerker“ vergessen. Heute werden wiederum in Bezug auf die Europäische Union Parallelen mit dem Habsburger Vielvölkerstaat gezogen, wobei sich diverse Kolumnisten und Journalisten fragen, ob man von Franz Joseph und der Doppelmonarchie noch etwas lernen könnte.12 Diesbezüglich sind Historiker aber vorsichtiger geworden, als dies der Fall nach 1918 oder nach 1945 war.
Zusammen mit den Arbeiten österreichischer und deutscher Historiker bieten diese synthetischen Werke eine Fülle von Thesen und Argumenten über den Zusammenbruch der Habsburgermonarchie. Dabei fallen mindestens zwei oder drei miteinander verbundene, aber grundsätzlich unterschiedliche Denkrichtungen auf. Hinzuweisen wäre in diesem Zusammenhang vor allem auf die mehrbändige österreichische Edition Die Habsburgermonarchie 1848–1918, die seit 1973 erscheint und verschiedene Historiker aus Österreich und anderen Ländern verbindet; dieses Werk bietet zwar keine Synthese, stattdessen werden aber in seinen voluminösen Bänden diverse Themen vertieft.
Die erste historiographische Richtung bringt einen detaillierten Überblick der inneren politischen Situation in der Habsburgermonarchie und rückt dabei die Analyse der Reform- und Reorganisationsbestrebungen in den Vordergrund. Nach dieser Interpretation sei die Donaumonarchie von inneren Faktoren, vor allem von miteinander zerstrittenen Nationalitäten, die niemals „von oben“ befriedigt wurden, geschwächt und endgültig im Krieg zertrümmert worden. Oftmals kommen dabei Magyaren oder Slawen als überwiegend destabilisierende Faktoren vor. Vereinfacht gesagt, würde das eine Geschichte der „verpassten Chancen und Gelegenheiten“ zur Reform des Staatswesens der Dynastie Habsburg und somit zur Rettung der immer mehr anachronistischen Habsburgermonarchie bedeuten. Der ungarische Soziologe und Historiker Oszkár Jászi (1875–1957), selbst in der letzten Periode der Monarchie politisch aktiv und nach 1925 in den USA tätig, befürwortete diesen Zugang in seinem einflussreichen Werk The Dissolution of the Habsburg Monarchy (1929).13 Ein ebenso analytisches Panorama der konstitutionellen und politischen Probleme der Donaumonarchie bietet das Buch Das österreichische Staats- und Reichsproblem des Juristen und Historikers Josef Redlich (1869–1936).14 Diese Ausrichtung erreichte ihren wissenschaftlichen Höhepunkt mit den Werken des US-Historiker Robert A. Kann (1906–1981).
Einen anderen Blickwinkel bieten Synthesen, die die Dominanz der Außenpolitik zu unterstreichen versuchen: Damit wird die These aufgestellt, dass die innere Nationalitätenfrage – vor dem Ausbruch des Weltkrieges sekundär – eigentlich von Außenfaktoren beeinflusst und durch die Inkompetenz der Habsburger bzw. Kaiser Franz Josephs sowie seiner politischen Ratgeber verschärft worden sei. Solche Ansätze können bei A. J. P. Taylors (1906–1990) Werk über die Habsburgermonarchie gefunden werden: Für Taylor ist die Monarchie ein merkwürdig anachronistisches System für die Außenpolitik und im Grunde ein Werkzeug des europäischen Kräftegleichgewichts gewesen. Taylors „grand narrative“ wird in den Arbeiten von Roy Bridge mit analytischer Quellenkritik der diplomatischen Dokumente ersetzt.15 Aber dieser Blickwinkel gipfelt erst in der Synthese des britischen Historikers Alan Sked unter dem Titel Decline and Fall of the Habsburg Empire (1989),16 wobei auch wirtschaftliche Faktoren eine Rolle spielen: besonders ergiebig waren in dieser Hinsicht die Werke von Richard Rudolph, David F. Good, John Komlos, usw., in denen eine äußerst differenzierte Perspektive auf die ökonomische Lage der Habsburgermonarchie durchgesetzt wurde.17 Zwar direkt mit der früheren britischen Schule der Habsburgerstudien (mit A. J. P. Taylor als Schlüsselfigur) eng verbunden, präsentierte diese Synthese von Alan Sked dennoch neue Perspektiven und ergänzte dabei eine Reihe von neuen Ansätzen. Die deutsche Version des Buchs unter dem Titel Der Fall des Hauses Habsburg. Der unzeitige Tod eines Kaiserreichs schildert vielleicht besser die Intention des Autors, der von einem „Fall ohne Niedergang“ (fall without decline) spricht und dabei noch behauptet, dass die lokalen Formen des Nationalismus bis 1914 keine ernstere Bedrohung für die Donaumonarchie dargestellt haben.18 Also stellte gerade Sked in seiner provokativen, aber gut argumentierten Interpretation fest, dass die Existenz der Habsburgermonarchie zwischen dem Ausgleich von 1867 und 1914 keiner größeren Gefahr ausgesetzt war.
Einen dritten und sehr spezifischen Ansatz bietet das äußerst interessante, 1968 veröffentlichte Werk The Habsburg Empire von C. A. Macartney (1895–1978). Es analysiert extensiv innenpolitische Wandlungsprozesse im österreichischen wie auch im ungarischen Teil der Donaumonarchie, darüber hinaus auch diplomatische und außenpolitische Faktoren im „langen 19. Jahrhundert“.19 Macartneys Antwort auf die Frage vom Zerfall der Habsburgermonarchie ist zweiseitig: zum einen stellt er strukturelle Fehler und Probleme fest, die bis 1914 immer mehr Wirbel auslösten, auf der anderen Seite sieht er auch die außenpolitische Lage vor 1914 als problematisch an. Macartney schreibt:
The Austo-Hungarian Monarchy did not survive the conflict which it unleashed when it declared war on Serbia. The end of the war was also the end of the Monarchy. Many is the book which has been written on the question whether this consummation was forced on it, unnaturally, by foreign enemies, some of which have become so only by accident, or whether it was the natural and inevitable result of the forces of decay within its own organism.20
Hinsichtlich der analytischen Breite und des periodenübergreifenden Ansatzes ist der Arbeit Macartneys eine weitere Studie verwandt: die Synthese des britischen Historikers Robin Okey, die einen politisch- und gesellschaftshistorischen Überblick der Geschichte der Habsburgermonarchie von 1765 bis 1918 bietet.21 Dabei verweist Okey auf langfristige Strukturen, die desintegrativ wirkten (Nationalismus) oder einen Zerfall unvermeidlich machten (Modernisierungsprozesse der Aufklärung), darüber hinaus auch auf andere strukturelle Fehler. Aber auch kurzfristige Ereignisse (Weltkrieg) zählen bei Okey zu den Schlüsselfaktoren des Umbruchs:
In the case of the Habsburg Monarchy and the First World War the big issues concern the outbreak and conduct of the war but above all the break-up of the old state at its end. What is the balance between individual and structural factors, and between shorter- and longer-term ones, in shaping what came about?22
Nachfolgende Generationen von Historikern hatten durch diese Bücher ihre ersten Begegnungen mit der Geschichte der Donaumonarchie. Sie entwickelten jedoch auch eine kritisch differenzierte Perspektive. Der sogenannte cultural turn fand auch in den Habsburgerstudien statt: William M. Johnston, Carl Schorske, Edward Timms, Allan Janik, Steven Beller sowie österreichische Historiker wie Moritz Csáky, Wolfgang Maderthaner und viele andere beleuchteten mit ihren Werken kulturelle, intellektuelle, gesellschaftliche und geistesgeschichtliche Aspekte. Gerade kultur- und geistesgeschichtliche Beiträge von Johnston und Schorske (1915–2015) oder Péter Hanák (1921–1997)23 erinnerten