Europa im Schatten des Ersten Weltkriegs. Группа авторов

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      Kelsen selbst beschreibt die Grundnorm in seiner Rechtslehre von 1934 als „hypothetische Grundlage“, „Bedingung aller Rechtsetzung, alles positiven Rechtsverfahrens“,35 „hypothetische Grundregel“ und „oberster Geltungsgrund“.36 Im Gegensatz zu den positiven Rechtsnormen wird sie nicht vom Menschen gesetzt, sondern vorausgesetzt.37 Damit erhält die Grundnorm die erkenntnistheoretische Funktion der Geltungsstiftung. Kelsen selbst erläutert den Inhalt der Grundnorm anhand des Beispiels, dass ein bisher monarchischer Staat durch eine Revolution gewaltsam gestürzt und schließlich durch die republikanische Staatsform ersetzt wird. Wenn nun das Verhalten der Menschen nicht mehr der alten, sondern der neuen Ordnung entspricht, der Umsturz also gelungen ist, wird eine neue Grundnorm vorausgesetzt, nämlich „nicht mehr jene, die den Monarchen, sondern eine, die die revolutionäre Regierung als rechtsetzende Autorität delegiert“.38

      Es besteht demnach ein gewisses Abhängigkeitsverhältnis zwischen der das Verhalten der Menschen regelnden Rechtsordnung und dem tatsächlichen Verhalten der Menschen. Kelsen spricht in diesem Zusammenhang bildlich von der „Spannung zwischen dem Sollen und dem Sein“.39 Hier wird implizit die Frage nach der Wirksamkeit von Normen aufgeworfen, bzw. nach dem Verhältnis von Geltung und Wirksamkeit.40 Jabloner betont in diesem Zusammenhang, „dass der Rekurs auf die Wirksamkeit nicht als Geltungsgrund, sondern als Geltungsbedingung anzusehen ist, als Voraussetzung dafür, die Grundnorm eben nur bestimmten Sollensordnungen voranzustellen“, nämlich jenen, die von den Menschen befolgt werden41. Zentral ist, dass aus der Grundnorm nur die Geltung und nicht der Inhalt einer Rechtsnorm abgeleitet werden kann.

      4. Die Rechtslehre als Lösung politischer Problemlagen am Beispiel der ‚Armeefrage‘

      Die Geltungsbegründung des Rechts durch eine hypothetische Grundnorm wurde hier als ein paradigmatisches Beispiel für die umfassende Lehre Kelsens gewählt, um deren absolute Loslösung von naturrechtlichen Ansätzen und radikale Ideologiekritik zu veranschaulichen. Dass Kelsens Ansatz viel Kritik und Widerstand1 provoziert hat, ist naheliegend. Jestaedt schreibt diesbezüglich: „Die Reine Rechtslehre ist mit ihrer alles zermalmenden juridischen Ideologiekritik für ihre Gegner eine veritable Zumutung, löst sie bei der Mehrzahl von ihnen doch traumatische Verlustängste aus.“2 Von den vielen Kritikpunkten, die Kelsens These provoziert haben, seien zwei wesentliche kurz erwähnt: Einerseits blende die Reine Rechtslehre gesellschaftliche Wirklichkeiten aus und sei somit praxisfern. Andererseits sei die Lehre politisch und ethisch problematisch, weil sie aufgrund der Betonung der ausschließlich formalen Aspekte von Recht inhaltliche Vorstellungen (von Gerechtigkeit) außer Acht ließe und somit potenziell jegliche Zwangsordnung, wie auch den Nationalsozialismus legitimiere.3 Kritik an der Rechtslehre gab und gibt es aus allen politischen Lagern – Kelsen selbst meint dazu: „Es gibt überhaupt keine politische Richtung, deren man die Reine Rechtslehre noch nicht verdächtigt hätte. Aber das gerade beweist besser, als sie selbst es könnte: ihre Reinheit.“4

      Was beide – die Kritik an der Theorie und Kelsens Verteidigung ihrer Reinheit – verkennen, ist, dass die Reine Rechtslehre selbst das Produkt konkreter gesellschaftlicher Wirklichkeiten ist und in der Zeit ihrer Genese durchaus praxisnah war. Begreift man, wie hier unternommen, Kritik als das Verstehen einer Theorie in ihrem Werden, so müssen Geburtstakt und Genesis der Reinen Rechtlehre noch genauer betrachten werden, sind doch Kelsens Aktivitäten im Ersten Weltkrieg von seinen rechtstheoretischen Überlegungen nicht zu trennen, ja erweisen sich geradezu als Abfolge von Versuchen, konkrete Probleme zu lösen. Busch spricht in diesem Zusammenhang von einem Schema, wie es sich ergebe, wenn Kelsens Lösungsvorschläge zu konkreten Verfassungsfragen aus seiner Zeit im Präsidium des Kriegsministeriums während des Krieges mit seinen Verfassungsarbeiten in der Staatskanzlei der neuentstandenen Republik verglichen werden: Immer handele es sich um verfassungsrechtliche Angebote, die auf dem Boden der realen politischen Gegebenheiten stehen, und es sind diese realen politischen Gegebenheiten, denen rechtlich beizukommen Kelsen von Seiten der Politik aufgetragen wurde.5

      Wissenschaftlich flankiert wurden diese Auftragsarbeiten von Kelsens Begegnung mit Vertretern der Marbacher Schule unmittelbar vor dem Ausbruch des Krieges. Sie bewirkt eine Öffnung für die Rechtsphilosophie, welche Kelsen selbst nachträglich wie folgt beschreibt:

      Mit der Vertiefung in die auf höchste Methodenreinheit abzielende Kantische Philosophie Marburger Richtung schärfte sich mein Blick für die zahlreichen höchst bedenklichen Trübungen, die die juristische Theorie durch bewusste oder unbewusste politische Tendenzen der Autoren erfährt. […] Nunmehr erkannte ich auch den dritten und bedeutungsvollsten Dualismus, der der herrschenden Lehre zugrunde liegt, den Gegensatz von Recht und Staat, der die beiden früher genannten Gegensätze von subjektivem und objektivem, privatem und öffentlichem Recht fundiert.6

      Im kritischen Rekurs auf die herrschende Lehre vollzieht Kelsen eine Denkbewegung, in der die juristische Theorie von den Trübungen durch politische Tendenzen gereinigt, der Gegensatz von Recht und Staat in Zweifel gezogen und die Reine Rechtslehre selbst nicht nur zur Normwissenschaft, sondern zur normativen Grundlage staatlicher Ordnung erklärt wird. Ob es sich bei diesem Akt der Geltungsstiftung nicht selbst (wieder) um eine Trübung der Rechtstheorie durch eine politische Tendenz handelt, wäre an anderer Stelle zu diskutieren. Hier ist entscheidend, dass Kelsen, eben weil er während der Kriegsjahre „den alltäglichen politischen Missbrauch der Personifizierung und metaphysischen Überhöhung des Staates – und die eigene Verstrickung in diese – vor Augen“7 hatte, nach einer Form suchte, die einem solchen Staatsverständnis entgegenzuwirken vermag. Die von Kelsen während des Krieges und in der Zwischenkriegszeit verfassten Schriften sind dann auch vor diesem Hintergrund zu lesen, angefangen von Reichsgesetz und Landesgesetz nach der österreichischen Verfassung (1914), Eine Grundlegung der Rechtssoziologie (1915), Die Rechtswissenschaft als Norm- und Kulturwissenschaft von 1916, die Denkschrift Vom Wesen und Wert der Demokratie (1920) bis hin zur Reinen Rechtslehre (1934).

      Zugespitzt ließe sich von Auftragsarbeiten sprechen, die Kelsen zwangen, den festen Grund bestehenden Rechts zu verlassen und ins Rechtsphilosophische auszuschweifen. Die Aufträge selbst zielten auf die Lösung von Problemen, die sich mit Busch wie folgt konkretisieren lassen: Immer handelt es sich bei Kelsens Angeboten um einen Interessenausgleich zwischen politischen Gegenpolen, der sozialtechnisch durch eine dem Gegenstand angemessene Verrechtlichung des politischen Konfliktpotentials erreicht wird, welche sich wiederum im Kern oft als „Vergerichtlichung“ entpuppe, da die Konfliktaustragung nun auf dem Rechtsweg und nicht auf dem Weg reiner Machtpolitik erfolgt, was Konzessionen auf beiden Seiten des politischen Konflikts wissentlich voraussetzt. Dieses zunächst in der „Versuchsstation des Weltuntergangs“ zur Anwendung gebrachte Prinzip wird weitergetragen von den zwischen 1918 und 1920 vorgelegten Verfassungsarbeiten auf die „Weltbühne internationaler Beziehungen“ bis hin zu den Vereinten Nationen und der „Peace Through Law“ Bewegung.8 Busch spricht in diesem Zusammenhang gar von einer persönlichen, Kelsen eigentümlichen Form der Vergangenheitsbewältigung seiner intensiv erlebten Weltkriegs- und Umbruchsjahre als Rechtsberater der untergehenden Monarchie wie auch der entstehenden Republik.9

      Innerhalb der Forschung wird dieser Abschnitt der Biographie Kelsens kontrovers diskutiert. Kelsens eigener, betont unpolitisch gehaltener und von Teilen der Wissenschaft verlängerter Beschreibung stehen hier äußerst kritische Arbeiten gegenüber.10 Fest steht, dass Kelsen auf seinen Stationen zwischen Offiziersausbildung, Studium und Kriegsdienst nicht nur prägende Erfahrungen, sondern auch bedeutsame Bekanntschaften machte, wie etwa die mit dem deutschen Staats-, Verwaltungs- und Völkerrechtler Walter Jelinek, der 1908 die verwaltungs- und prozessrechtliche Studie Der fehlerhafte Staatsakt und seine Wirkungen veröffentlicht hatte, sowie jene mit dem deutschen Staatsrechtslehrer Gerhard Anschütz.11 Wenn Lindström heute Kelsen (neben Robert Musil) zu den „two high profile Austrian intellectuals“ zählt, deren Karrieren geformt waren vom historischen Prozess der Bildung der österreichischen Staatselite, so weil zu ihren fundamentalen Aspekten die weitreichende Beschäftigung mit Ordnungs-, Verwaltungs- und Verfassungsfragen zählt.12 Diese Beschäftigung vermengte sich bei Kelsen bereits vor Ausbruch des Krieges mit der wissenschaftlichen Tätigkeit und kann zumindest tendenziell als Ausgriff in den Raum der politischen Bildung verstanden werden.13

      Während


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