Europa im Schatten des Ersten Weltkriegs. Группа авторов
in der Justizabteilung des Kriegsministeriums wird. Folgt man Busch, so vermag Kelsen in dieser Zeit nicht nur weiter wissenschaftlich zu arbeiten, sondern auch routinemäßig Gegenstände mit völkerrechtlichem Bezug zu bearbeiten. Der von Kelsen selbst vertretenen „Version vom ruhigen Durchtauchen durch alle damit [dem Krieg, Anm. C. M. und J. Ch.] verbundenen Schrecken und Wirrnisse in einer davon unberührten Zentraldienststelle“14 widerspricht Busch entschieden. Mehr noch: Er sieht in den von Kelsen gemachten Erfahrungen und Einblicken in die Militärjustizverwaltung die Veranlassung dafür, dass dieser sich als Berater des letzten k.u.k. Kriegsministers aktiv einzubringen vermochte. Um zu veranschaulichen, inwiefern diese Aktivitäten mit der Genese der Kelsen’schen Rechtslehre korrelieren, empfiehlt sich seine Beratung im Fall der sogenannten „Armeefrage“; eine Fragestellung, bei deren Beantwortung deutlich zutage tritt, wie sehr sich Kelsen um eine Einbeziehung der Militärverwaltung in das Rechtsstaatsgefüge und mithin in eine Setzung des Rechts als neue Grundnorm bemühte.
Worum handelt es sich bei der „Armeefrage“? Zusammenfassend lässt sich sagen, dass dahinter die Problematik steht, bei welcher Reichshälfte (Ungarn oder Österreich), nach der Teilung des Staatsgefüges die militärische Kommandogewalt bleiben soll. Die Lösung der Problemstellung erlangte Wichtigkeit in der Donaumonarchie, als ein „Ausweg aus der schwierigen und umstrittenen staatsrechtlichen Situation der Heereskompetenz nach dem Ausgleich 1867“ gesucht werden musste.15 Drängend wurde sie, als Ende August 1917 zur Durchsetzung von Wahlrechtsreformplänen für die ungarische Reichshälfte ein entsprechender Regierungsbildungsauftrag des Kaisers an den ungarischen Ministerpräsidenten Alexander Wekerle erging. Letzterer verständigte sich mit seinem König auf Konzessionen in der „Armeefrage“, woraufhin der Landesverteidigungsminister in Budapest, zuständig für die königlich-ungarische Verteidigung einschließlich der kroatisch-slawonischen Landwehr, konkrete, auf eine Teilung der gemeinsamen Armee hinauslaufende Reformpläne vorlegte. Diese brachten den k.u.k. Kriegsminister Generaloberst Rudolf Freiherr von Stöger-Steiner in eine Notlage, die, wie Busch es formuliert, „nun zeitlich mit dem Erscheinen einer militärpolitischen und militärverfassungsrechtlichen Schrift Kelsens ‚Zur Reform der verfassungsrechtlichen Grundlagen der Wehrmacht Österreich-Ungarns’ im August 1917 zusammen(fällt)“.16
Das glückliche Zusammentreffen von Politik- und Wissenschaftsgeschichte ist überaus bemerkenswert und kann als Schulbeispiel der Ideengeschichte gelten. In seiner Schrift zur Reform der verfassungsrechtlichen Grundlage der Wehrmacht regte Kelsen, sich auf das preußische Militärkabinett berufend, an, die Kommandogewalt neu zu organisieren und die ministerielle Militärverwaltung von der obersten Kommandogewalt des Kaisers strikt zu trennen. Die Heereskompetenz würde sich so in einem Armeeoberkommando (AOK) bündeln, zusammengesetzt aus ausgewählten Agenden der Kommandogewalt des Monarchen, welches auch in Friedenszeiten weiterbestehen sollte. Praktisch liefe eine solche Reorganisation auf eine Machtübernahme des Landesverfassungsministeriums hinaus. Das Kriegsministerium wäre überflüssig, da die beiden Landesverfassungsministerien die gesamte Militärverwaltung übernähmen und mithin die gesamte Militärverwaltung unter die Rechtskontrolle der Verwaltungsgerichtshöfe der beiden habsburgischen Reichshälften käme.
Kelsen selbst sah in seinem verfassungsrechtlichen Vorstoß auf dem umkämpften Gebiet des Militärwesens eine „sichtliche Anerkennung der Souveränität des ungarischen und österreichischen Staates“, während Busch diesbezüglich von einem „Aufsehen erregenden und militärpolitisch ‚häretischen‘ Gedanken“ spricht, der als solcher eine Disziplinierung durch den Minister nach sich zog.17 Dabei sei es Kelsen nicht um die „hehre Idee des Habsburgerreiches“ gegangen, sondern um die „rechtliche Kittung eines durch die Verquickung von Wahlrechtsreform und Armeefrage von Kaiser Karl herbeigeführten innenpolitischen Dilemmas“.18 Kelsen bietet einen juristischen Ausweg aus dem Dilemma, indem er eine neue gemeinsame rechtsstaatliche Klammer für die beiden Reichsteile konstruiert. Das höchste Interesse der Heeresverwaltung müsse demnach dem Bestreben gelten, dass der durch die Reform geschaffene Zustand durch je ein gleichlautendes österreichisches und ungarisches Gesetz – gleich welchen Inhalts – klar und unzweideutig fixiert werde.
Die von Kelsen vorgelegten Reformentwürfe lassen sich als rechtstheoretische Lösung eines konkreten politischen Problems lesen, wie es die Donaumonarchie insbesondere nach dem Ausgleich massiv belastete. Weitergehend und pointierter könnte man sagen, dass Kelsen auf die Staatskrise – Lindström spricht von einem „state that had strenuously avoided identifying itself“19 – mit der Umklammerung der politischen Ordnung durch das Recht bzw. mit der Konzeption des „Rechts-Staats“20 antwortete. Oder, noch einmal anders und in unmittelbarem Rückbezug auf die im vorangestellten Kapitel näher ausgeführte Reine Rechtstheorie formuliert: Mit der „Armeefrage“ sind wir an dem Punkt, an dem Kelsen erstmals die Theorie an der Praxis (und umgekehrt) zu erproben anhebt, indem er versucht, seine Grundnorm des Rechts zu setzen und dieser zur Geltung zu verhelfen. Die Geltungsstiftung, von der es in der Theorie heißt, sie sei die erkenntnistheoretische Funktion der Grundnorm, tritt hier aus der Theorie heraus und wird zum Akt. Wenn, wie Kelsen am Beispiel des Ersetzens der monarchischen durch eine republikanische Staatsform illustrierte, Revolutionen und politische Umstürze möglich sind, und sich die Faktizität des Wechsels politischer Ordnungsmodelle oder auch Formen als Beleg dafür nehmen lässt, dass das Setzen einer neuen Grundnorm möglich ist, dann kann (und soll) auch die eigengesetzliche Form des Rechts zu jener Grundnorm werden, auf der weitere Sollensordnungen aufbauen können.
5. Fazit und Ausblick
Der Geburtsakt und die Genese der Reinen Rechtstheorie sind an die politische Geschichte des 20. Jahrhunderts gebunden. Angesichts politischer Spaltung, Differenzierung, Sezession und Krieg generiert sie das Recht als Recht, das heißt als eine menschengemachte und nichtsdestoweniger verbindliche Form mit eigenen Gesetzen. Wird ihm Geltung zugeschrieben und entfaltet es Wirkung, kann das Recht leisten, was vormals vielfach Politik und Militär oblag: die Legitimation und Aufrechterhaltung einer Ordnung (gleich welcher). Als Antwort auf die „Armeefrage“ ist sie gescheitert. Kelsen kommentierte die Niederlage nüchtern mit den Worten:
Nach dem Durchbruch der Bulgarischen Front war es jedermann, der die Verhältnisse in der Armee kannte, klar, dass der Krieg endgültig verloren war. Da die Armee das einzige war, was die Monarchie zusammenhielt, hatte ich keinen Zweifel mehr, dass ihre Auflösung unvermeidlich war, wenn nicht irgendein Versuch gemacht würde, sie in völlig neuer Form zu erhalten.1
Die von Kelsen angesichts des Untergangs der Donaumonarchie aufgerufene völlig neue Form des Rechts-Staats betritt gezwungenermaßen staatstheoretisches Neuland und lässt sich als eine jener „utopische[n] Geste[n] bei der Formulierung langfristiger sozialer und politischer Zukunftsmodelle“2 verstehen, wie sie laut Reimann aus der Erfahrungswelt des Krieges hervorgingen. So gesehen, ist die Reine Rechtlehre vor allem eins: Die Form, in der der Vertrauensverlust in die Kompetenz und Autorität der politischen und militärischen Eliten seinen Ausdruck findet.3
Für das realpolitische Gebilde der Donaumonarchie und die Opfer des Krieges kam die utopische Geste aus dem Raum der Rechtswissenschaft und ihrer Theoriebildung zu spät, und dies, wie Busch lakonisch kommentiert, „um mindestens einen ganzen Weltkrieg“.4 Doch liegt die Leistung der Reinen Rechtslehre nicht darin, dass sie einen Krieg verhinderte, an dem Kelsen als Verfassungsexperte beim Kriegsministerium selbst maßgeblich beteiligt war, sondern in der Vorlage eines Entwurfs, mit dem die Grundlagen des gesellschaftlichen Lebens auf der Basis des Rechts dauerhaft neu gelegt werden. Die Theorie bzw. der Text aber ist noch in seiner reinsten Form von seinem Kontext nicht zu trennen. Kelsen selbst wusste das, als er im Jahr 1934, aufgrund seiner jüdischen Herkunft der Professur in Köln verlustig gegangen und nach Genf ausgewandert, im Vorwort zu seiner Reinen Rechtslehre auf deren Relevanz verweist in einer „durch den Weltkrieg und seine Folgen wahrhaft aus allen Fugen geratenen Zeit, in der die Grundlagen des gesellschaftlichen Lebens aufs tiefste erschüttert […] sind“.5
Nicht allein an die Reine Rechtstheorie, sondern auch und vielleicht mehr noch an ihre Genese wäre zu erinnern, wenn es heute in einem Einführungswerk in die Politische Theorie und Ideengeschichte heißt:
Wir leben in politisch bewegten Zeiten. Eine Krise folgt auf die nächste, die