1177 v. Chr.. Eric H. Cline

1177 v. Chr. - Eric H. Cline


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Wirtschaftsraums? Welche minoisch-mykenischen Güter waren von solcher Anziehungskraft, dass sie aus dem heutigen Griechenland in das ägyptische Reich verschifft wurden?

      Es wäre vermessen, von Eric Cline auf alle diese Fragen eindeutige Antworten zu erwarten. Sein größter Verdienst ist es jedoch, die verschiedenen modernen Erklärungsansätze zusammenzuführen. Sein Blick beginnt dabei nicht erst mit dem Verfall der betreffenden Kulturen, sondern bereits mit ihrer Blütezeit. So gesehen ist »1177 v. Chr.« von Eric Cline ein Werk, das einen faszinierenden Einblick in die Geschichte des 15. bis 12. Jahrhunderts vor Christus gibt und dabei unsere Neugier auf die kulturellen Errungenschaft einer Zeit lenkt, die uns gestern noch so unendlich fern war.

      Hermann Parzinger

       Vorwort

      Die griechische Wirtschaft ist am Ende. In Libyen, Syrien und Ägypten ist es zu revolutionsartigen Aufständen gekommen, fremde Mächte und ausländische Soldaten gießen Öl ins Feuer. Die Türkei befürchtet, in die Konflikte mit hineingezogen zu werden. Jordanien ist überfüllt mit Flüchtlingen. Der Iran wetzt die Messer und übt sich in Drohgebärden, während es auch im Irak drunter und drüber geht. Sie glauben, dies seien ein paar Schlagzeilen aus den aktuellen Nachrichten? Das stimmt zwar. Aber genauso war die Situation bereits vor mehr als 3000 Jahren, im Jahr 1177 v. Chr., als die Zivilisationen der Bronzezeit rund um das Mittelmeer nacheinander zusammenbrachen und den Lauf der Geschichte für immer veränderten. Es war ein Wendepunkt in der Geschichte – und ein Wendepunkt für die antike Welt.

      Die Bronzezeit in der Ägäis, in Ägypten und im Nahen Osten dauerte fast 2000 Jahre, von etwa 3000 v. Chr. bis kurz nach 1200 v. Chr. Als sie nach vielen Jahrhunderten kultureller und technologischer Evolution zu Ende ging, kam es im Großteil der zivilisierten Welt rund um das Mittelmeer zu einem dramatischen Stillstand – in einem Gebiet, das sich von Griechenland und Italien im Westen bis nach Ägypten, Kanaan und Mesopotamien im Osten erstreckte. Große und kleine Reiche, die Jahrhunderte gebraucht hatten, um sich zu entwickeln, zerfielen binnen kurzer Zeit. Es folgte eine Übergangsepoche, die die Forscher früher als erstes »Dunkles Zeitalter« der Weltgeschichte bezeichneten. Erst mehrere Jahrhunderte später kam es in Griechenland und anderen betroffenen Regionen zu einer kulturellen Renaissance, die die Entwicklung unserer heutigen westlichen Gesellschaft in die Wege leitete.

      Auch wenn sich dieses Buch in erster Linie dem Zusammenbruch der Zivilisationen der Bronzezeit widmet und den Faktoren, die vor mehr als 3000 Jahren zu diesem Zusammenbruch geführt haben, vermittelt es hoffentlich auch Erfahrungswerte, die für die von Globalisierung und Transnationalisierung geprägten Gesellschaften von heute bedeutend sind. Sicher mag man einwenden, die Welt der späten Bronzezeit ließe sich nur schwerlich mit unserer hochtechnisierten Kultur vergleichen. Dennoch finden wir viele Ähnlichkeiten zwischen diesen beiden Epochen: diplomatische Bemühungen und Wirtschaftsembargos, Entführungen und Lösegelder, ermordete Herrscher, prunkvolle Hochzeiten und unangenehme Scheidungen, internationale Intrigen und vorsätzliche militärische Desinformation, Klimawandel und Dürren und sogar das ein oder andere Schiffswrack. Hier gewisse Ähnlichkeiten zwischen unserer Zeit und den Ereignissen, Menschen und Orten vor mehr als drei Jahrtausenden zu suchen, ist mehr als nur eine akademische Übung.1 Betrachtet man die Welt von heute, ihre globale Wirtschaft, Katastrophen wie den Tsunami in Japan, demokratische Revolutionen wie den »Arabischen Frühling« in Ägypten, Tunesien, Libyen, Syrien und Jemen, wird man feststellen, dass die politische und wirtschaftliche Entwicklung in den USA und Europa untrennbar mit einem internationalen System vernetzt ist, zu dem auch Ostasien und die erdölproduzierenden Länder des Nahen Ostens gehören. Wenn wir den Scherbenhaufen untersuchen, der beim Zusammenbruch ähnlich miteinander verflochtener Zivilisationen vor mehr als 3000 Jahren übrigblieb, können wir dadurch durchaus wertvolle Erkenntnisse gewinnen.

      Solche Zusammenbrüche zu erforschen sowie den Aufstieg und Fall verschiedener Imperien zu vergleichen, ist natürlich an sich nichts Neues. Schon im 18. Jahrhundert hat Edward Gibbon in seinem Standardwerk The History of the Decline and the Fall of the Roman Empire dasselbe getan; ein Beispiel aus der jüngeren Zeit ist Jared Diamonds Werk Collapse: How Societies Choose to Fail or Suceed.2 Allerdings untersuchten jene Autoren immer nur, wie ein einziges Reich bzw. eine einzige Zivilisation unterging – die Römer, die Maya, die Mongolen usw. Wir wollen hier eine globalisierte Welt betrachten; ein System mit mehreren Zivilisationen, die alle miteinander interagierten und (zumindest teilweise) voneinander abhängig waren. Es gibt nur wenige Fälle in der Weltgeschichte, in denen ein solches globalisiertes System existierte; zu den besten Beispielen dafür gehören tatsächlich die Welt der späten Bronzezeit und die von heute. Die Parallelen zwischen diesen Epochen – besser gesagt, die Vergleichsmomente – sind mitunter wirklich faszinierend.

      Ein Beispiel: Die britische Akademikerin Carol Bell stellte erst kürzlich fest, dass »Zinn in der späten Bronzezeit … ähnlich strategisch bedeutend war wie heute das Rohöl«.3 Damals kam Zinn in größeren Mengen lediglich in bestimmten Minen in Badachschan in Afghanistan vor. Das Zinn wurde über Land bis nach Mesopotamien (im heutigen Irak) und in den Norden Syriens transportiert; von dort aus brachte man es weiter nach Norden, Süden und Westen, auch über das Meer bis in die Ägäis. Dazu Bell: »Die Verfügbarkeit von genügend Zinn, um … waffenfähige Bronze herzustellen, muss für den Großkönig in Hattuša und den Pharao in Theben einen ähnlichen Stellenwert gehabt haben, wie heute für den US-Präsidenten die Verfügbarkeit von genügend Benzin für die amerikanischen SUVFahrer.«4

      Die Archäologin Susan Sherratt, die früher im Ashmolean Museum in Oxford tätig war und heute an der Universität von Sheffield lehrt, sprach sich vor zehn Jahren erstmalig für einen solchen Vergleich aus. Wie sie feststellte, gibt es einige »wahrlich nützliche Analogien« zwischen der Welt von 1200 v. Chr. und der von heute – dies erstreckt sich u.a. auf eine wachsende politische, soziale und wirtschaftliche Fragmentierung und auf den direkten Austausch »auf einem bislang beispiellosen sozialen Level und über nie gekannte Distanzen hinweg«. Von besonderer Relevanz ist dabei ihre Beobachtung, dass die Situation am Ende der Spätbronzezeit eine Analogie zu unserer eigenen »immer homogeneren und dennoch immer weniger kontrollierbaren globalen Wirtschaft und Kultur« darstellt, in der »politische Unsicherheiten auf der einen Seite der Welt Volkswirtschaften beeinflussen, die sich mehrere tausende Meilen entfernt befinden«.5 Der Historiker Fernand Braudel sagte einst: »Die Geschichte der Bronzezeit bietet Stoff für ein Drama: Sie ist voll von Invasionen, Kriegen, Plünderungen, politischen Katastrophen, Beispielen eines langwierigen wirtschaftlichen Kollapses und den ersten Zusammenstößen zwischen verschiedenen Völkern.« Er wies aber auch darauf hin, dass sich die Geschichte der Bronzezeit »nicht nur als Saga der Dramatik und der Gewalt, sondern auch als Geschichte positiver Kontakte« schreiben ließe, in puncto »Handel, Diplomatie (auch schon zu dieser Zeit) und vor allem Kultur«.6

      Braudels Vorschläge habe ich mir zu Herzen genommen, und so möchte ich Ihnen hiermit die Geschichte (oder besser gesagt: Geschichten) der späten Bronzezeit als Schauspiel in vier Akten präsentieren, mit vielen erzählerischen Elementen und diversen Rückblenden, die als Kontext dazu dienen werden, einige der wichtigsten Akteure jener Zeit einzuführen, und zwar jeweils an dem Punkt, wo sie die Bühne der Weltgeschichte betreten: vom Hethiterkönig Tudhalija über Tušratta, den König von Mitanni, und Pharao Amenophis III. von Ägypten bis hin zu Aššur-uballiṭ von Assyrien (ein »Dramatis Personae« betiteltes Glossar hinten im Buch soll dazu dienen, Namen und Daten schnell nachschlagen zu können).

      Mitunter bedient sich die Erzählung sogar ein wenig der Stilmittel der Detektivgeschichte – mit unerwarteten Wendungen, falschen Fährten und signifikanten Indizien. Um Hercule Poirot zu zitieren, jenen legendären belgischen Detektiv aus der Feder Agatha Christies (die übrigens selbst mit einem Archäologen verheiratet war7), werden wir unsere »kleinen grauen Zellen« brauchen, um am Ende unserer Chronik die verschiedenen Stränge der Beweisaufnahme miteinander zu verweben, wenn wir versuchen werden, die Frage zu beantworten, warum ein stabiles internationales System plötzlich zusammenbrach, nachdem es mehrere Jahrhunderte lang geblüht hatte.

      Um wirklich zu verstehen, was im Jahr 1177 v. Chr. geschah und warum jenes Jahr für die Geschichte des Altertums von so entscheidender Bedeutung


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