Zanderblut. Wolfgang Wiesmann

Zanderblut - Wolfgang Wiesmann


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sich an den Angelteichen abgespielt hatte. Fey hoffte nun auf zusätzliche Informationen aus der Öffentlichkeit. Sie beabsichtigte genau das zu erreichen, was der Urheber der ganzen Aufregung bezweckte: den Mörder von damals aufzuschrecken.

      Sie mochte nicht daran denken, dass gleich ihr Chef aufkreuzen würde, um den Fall aus seiner Sicht aufzurollen. Ihr männlicher Kollege war wegen Leukämie in stationärer Behandlung und Carstensen hatte stellvertretend seinen Posten übernommen. In diesem Fall hätte sie sich eine Frau als Partnerin gewünscht. Es ging um Einfühlungsvermögen und da war Carstensen ein Banause. Die Frage nach der Identität der jungen Frau brannte Fey besonders unter den Nägeln. Sie sah Carstensen in sein Büro gehen und wider Erwarten legte er seinen Mantel nicht ab, sondern kam gleich zu ihr.

      „Frau Amber, machen wir uns nichts vor, eine Straftat ist bisher nicht nachzuweisen.“

      „Herr Carstensen, warum dann die Aufregung? Haben wir nun einen Fall oder nicht?“

      Carstensen musterte sie und war sichtlich verdutzt, dass Fey ihm Kontra bot.

      „Bringen Sie mich auf den aktuellen Stand.“

      Fey referierte die neusten Einzelheiten und wartete auf die Antwort zu ihrer Frage.

      „Wir brauchen eine Leiche, alles andere ist Kasperletheater. Da glaubt womöglich ein Klugscheißer, er könne die Polizei zum Affen machen. Wir fallen drauf rein und sind Deutschlands größte Lachnummer. Deswegen sage ich: klarer Schnitt. Wir verlassen ab sofort die Bühne, bis wir eindeutig von einem Fall sprechen können.“

      „Okay, Sie wollen eine Leiche. Ich liefere Ihnen eine. Geben Sie mir Ihr Einverständnis.“

      „Wie bitte? Ist Ihnen nicht gut? Nach Indizienlage wäre eine mögliche Leiche bereits fünfzig Jahre alt und der Mörder könnte an Altersschwäche gestorben sein. Nach fünfzig Jahren ist nichts mehr von der Leiche übrig. Das wissen Sie genau.“

      „Am Schreibtisch lässt sich der Fall aber auch nicht lösen.“

      „Sprechen Sie nicht von einem Fall“, fuhr Carstensen sie scharf an. „Hatte ich mich nicht klar genug ausgedrückt?“

      „Ich brauche Informationen aus der Bevölkerung, um einen Fall daraus zu machen.“

      „Nein, dann scheuchen Sie die Hühner auf. Die Presse kriegt sofort Wind davon, wenn wir weiter öffentlich recherchieren. Sie arbeiten intern. Das ist mein letztes Wort.“

      Carstensen ging so energisch hinaus, wie er gekommen war. Fey fühlte sich abgekanzelt und missverstanden. Der von ihrem Chef so viel gepriesene Teamgeist hatte sich als Phantom entpuppt. Dennoch verspürte sie, wie sich eine Idee Raum verschaffte. Carstensen wollte eine Leiche. Die würde es nicht geben, aber das schloss nicht aus, dass es zumindest eine Nachbildung des Opfers geben könnte. Wer sonst sollte diese Idee realisieren, wenn nicht sie selbst? Fey war plötzlich Feuer und Flamme. Sie wusste jetzt, was ihr gefehlt hatte, um sich voll auf den Fall einzulassen: Die Nähe zur Person der Ermordeten, zu ihren Gefühlen und ihrer Lebensgeschichte. Normalerweise gab es zumindest Fotos oder Tagebuchaufzeichnungen, trauernde Freunde, die dem Opfer nachträglich Leben einhauchten. Aber eine fünfzig Jahre alte Wasserleiche – davon wollte sie sich keine Vorstellung machen. Ihr Entschluss stand fest: Die ermordete Frau musste Gestalt annehmen, so wie der Fall langsam an Gestalt gewann. Es war zu erwarten, dass der Polizei weitere Fundstücke in die Hände fielen. War das Szenario tatsächlich intendiert, um die Polizei zu involvieren? Dann war sie die erste und zurzeit einzige Ansprechpartnerin. Für wen? Gut, das war noch unklar.

      Etwas mutlos sagte sie sich, dass sie mit der Umsetzung ihrer Idee möglicherweise zu weit vorpreschte, denn im Grunde wusste sie, dass Carstensen auch recht behalten könnte und an der ganzen Sache absolut nichts dran war. Doch eigentlich war alles bereits beschlossene Sache, denn ob bewusst oder unbewusst, sie nahm ihr Telefon zur Hand und ließ sich mit der Kunstakademie der Uni Münster verbinden. Wenig später unterhielt sie sich mit Professor Immanuel Waszlav. Sie wurden sich schnell einig. Der Professor bot ihr an, einen seiner fähigsten Studenten ans Werk zu schicken und ihr drückte er die Regie aufs Auge. Das klang vielversprechend, allerdings meinte sie im Verlauf des Gesprächs herausgehört zu haben, dass Waszlav auch ein persönliches Interesse an ihrer Bekanntschaft zu haben schien. Er wäre nicht der Erste, der ihre Stimme unwiderstehlich sexy fand. Sie ließ sich auf seinen Vorschlag ein, sein eigenes Atelier zur Verfügung zu stellen. Er führte ein kurzes Telefongespräch und dann verabredeten sie eine Zeit.

      Beckmann war zurück zur Kajüte getrampelt, als hätte ihn ein greiser Rudi Altig verfolgt. Er war besessen von der Idee, den Fang eines Zanders in HD für seine Gäste zu präsentieren oder einfach nur live dabei zu sein, wenn eine Pose unter Wasser schoss und Erwin oder Kalle anschlugen und der Fisch weg war. Sie hätten alle Spaß. Das wäre der Knüller für seinen Schuppen. Beckmann war begeistert und genehmigte sich erst mal einen Klaren und ein Bier. Dass er in seinem eigenen Lokal die Zigarette draußen rauchen musste, empfand er immer noch als Hausfriedensbruch, aber er hatte Schlimmeres erlebt. Auf dem Steg schweifte sein Blick an dem Ausflugsboot Möwe vorbei über die Wellen bis zum Walzenwehr. Er war der Hausherr und er musste jetzt handeln, sonst wäre die Heimat bald verloren. Ja, die Sache mit der Livecam musste er durchziehen. Er ging zurück ins Lokal, goss sich einen doppelten Korn ein und rief seinen Neffen Mike an, der als Sicherheitsbeauftragter für die Elektronikabteilung von Westfalenstrom arbeitete. Mit ihm besprach er seine Idee und Mike ließ sich darauf ein. Beckmann jubelte und stellte die Flasche Doppelkorn dorthin, wo sie immer stand, wenn sie bis auf den letzten Tropfen geleert werden sollte. Um drei Uhr öffnete er die Tür für den Schankbetrieb. An einem Alltag im Herbst rechnete er nicht mit Kundschaft und schlief bald sitzend am Tresen ein. Zum Abend kamen einige Angler zur Stammtischrunde. Beckmann wunderte sich, dass Haverkamp nicht erschienen war und auch Michalzek nicht kam.

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