Bilder aus dem Berliner Leben. Julius Rodenberg

Bilder aus dem Berliner Leben - Julius Rodenberg


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denn manch eine Stelle in den Reden des Landtags (die damals noch nicht so interessant waren, wie sie heute sind) musste ich zweimal, ja dreimal lesen, wenn das Gelächter plötzlich erscholl. Und ich muss es bekennen! – kaum hatten die beiden Mädchen, die eine von zwölf, die andere von zehn Jahren, bemerkt, dass ich ein verdrießliches Gesicht machte, wenn sie lachten, als auch ihre gute Laune sich verdoppelte und die Ausbrüche ihrer Lustigkeit sich verdreifachten. Was diese beiden kleinen Mädchen mir an den Augen absehen konnten, das taten sie, um mich zu ärgern, mit Auf- und Zuwerfen der Türen, mit Herein- und Hinauslaufen, mit allem, was man einem ordentlichen und gesetzten jungen Manne nur zufügen kann, der den Zug nichtliebt und ungestört seine Zeitung lesen will. Und was mich noch am meisten ärgerte, das war, dass einer von den beiden Schachspielern, anstatt gemeinschaftliche Sache mit mir gegen die Störenfriede zu machen, sie vielmehr in ihren Tollheiten noch unterstützte und namentlich an dem älteren Wildfang – dem ärgsten der beiden – sein ganz besonderes Wohlgefallen zeigte. Ich zweifelte nicht länger an der traurigen Wahrheit, dass ich ein Hauptgrund des Vergnügens für die beiden kleinen Mädchen und eine Hauptanziehung ihrer Besuche sei; diese wurden immer regelmäßiger und immer länger, und zuletzt schien die glückliche Familie ganz in dem Lokal zu wohnen. Des Nachmittags, wenn ich meinen Kaffee trank, waren sie schon da, und am Abend, wenn ich zu Nacht speiste, waren sie noch da. Die Mutter, eine brave Frau, hatte nicht Zeit, sich um ihre Töchter viel zu bekümmern, denn neben ihr im Sofa saß immer eine oder die andere von den Matronen des Hügels, und am Mittwoch, Sonnabend und Sonntag spielten sie Whist6. Die beiden kleinen Mädchen fingen an, mir den Garten zu verleiden, und ich versuchte, demselben fernzubleiben. Aber damals gab es noch nicht so viele Restaurationen wie heute; man hatte keine Wahl, und außerdem – ich bin schwach genug, es einzugestehen – die beiden kleinen Mädchen fehlten mir! Man gewöhnt sich allmählich auch an den Ärger, und nach einer Woche war ich wieder da.

      Den Jubel hätte man hören sollen! An dem Tage stand die Türe keinen Augenblick still, als ob mein Wiedererscheinen auf gar keine bessere Weise hätte gefeiert werden können.

      Außerdem hatten die beiden kleinen Mädchen eine neue Attraktion in Gestalt jenes Apfelkahns entdeckt, der damals ungefähr zuerst Anker warf im Kanal. Nun waren die Äpfel an der Tagesordnung; Äpfel mit Wangen, so rot und blühend, wie die der beiden Mädchen. Alle möglichen Spiele mit Äpfeln und um Äpfel kamen aufs Tapet, sie warfen sich – und mitunter auch mich – mit Apfelschalen, und ich hatte bei meinem Weißbier Zeit, über dieses Symptom nachzudenken.

      Doch nicht allzulange; höchstens zwei bis drei Jahre. Da blieb eines Tages das ältere der beiden Mädchen aus. Es ging mir ordentlich wie ein Stich durchs Herz, als die gemütliche Frau, zum erstenmal, seitdem ich sie kannte, nur mit der jüngeren ihrer Töchter hereintrat. Sie schien nicht weniger glücklich und zufrieden, als sie es vorher war; aber mir fehlte sie – mir fehlte das muntere Lachen meiner kleinen Feindin. Denn auch die Schwester war verstummt, seit die Spielkameradin verschwunden, und zu meinem Schrecken bemerkte ich, dass sie lange Kleider trage.

      Um diese Zeit begannen die Veränderungen, welche aus der geschilderten Gegend das gemacht haben, was sie heute ist. Ein paar Pappeln wurden gefällt, ein paar Häuser wurden gebaut – scheinbar ohne Zusammenhang. Aber mehr Pappeln und mehr Häuser folgten, und der Zusammenhang stellte sich bald genug heraus: es war auf ein neues Stadtviertel und eine vollkommene Vernichtung der ländlichen Allee abgesehen, und wir armen Gartenbewohner lebten, sozusagen, nur noch auf Wartegeld. Ich kann nicht beschreiben, wie das von Tag zu Tag weiterging; aber wiederum nach ein paar Jahren, da sah man den Unterschied. Da sah man Straßen mit Namen, die man bisher nicht gekannt; riesenhohe Gebäude, zwischen denen sich der dreieckige Garten und das winzige Haus fast lächerlich ausnahmen. Von allen Pappeln waren nur noch drei oder vier übriggeblieben, welche den Saum des Gartens begrenzten; aber auch in jenem selbst bemerkte man den Einfluss der Zeit. An dem Tische der beiden Freunde, die niemals in ihrem Leben ein Wort miteinander gesprochen, saß nur noch einer; der andere war gestorben. Von den beiden Schachspielern war der eine in die Provinz versetzt worden, und der andere war immer noch Assessor7. Der reiche Metzger von Wollanks Weinberg brachte seinen Sohn mit, einen stämmigen Burschen von sechs Fuß Höhe; nur der Magister der freien Künste war unverändert derselbe, trug seinen Sommerhut im Winter und seinen dicken Schal im Sommer, ein wahrhaft tröstliches Bild der Philosophie, zu der er sich bekannte.

      Die Dame mit der einen Tochter kam zwar noch. Aber die letztere war eine sittsame Jungfrau geworden, welche die Augen niederschlug und besonders, seitdem der Sohn des reichen Metzgers im Lokal erschien. Es hatte sich nämlich im Laufe der Begebenheiten zwischen dem Magnaten8 von Wollanks Weinberg und der Dame vom Fliederhügel eine stille Freundschaft gebildet, die sich unversehens auf deren Kinder übertrug; und auch räumlich rückten sich die beiden Parteien näher, als der Metzger den Entschluss gefasst, den Boden seiner Väter zu verlassen und eines von den schönen neuen Häusern in der Straße zu kaufen, die damals noch die Grabenstraße hieß und nachmals Königin-Augusta-Straße genannt wurde, zur Erinnerung daran, dass Ihre Majestät an schönen Winter- und Frühlingsnachmittagen hier zu promenieren liebte.

      Diese Dinge und noch manche andere ereigneten sich, als ich eines Abends an dem Tische in der Sofaecke, in welchem jetzt regelmäßig der Metzger mit seinem Sohn und die gemütliche Frau mit der hübschen Tochter zusammensaßen, eine zweite junge Dame wahrnahm, die schönste, die sich jemals in diesem Lokale gezeigt. Sie war elegant gekleidet, in der Mode der damaligen Zeit, und sie war ein so liebliches und zierliches Geschöpf, dass man das Auge nicht von ihr abwenden konnte – was außer mir auch noch der ledige Schachspieler zu empfinden schien, der in der Tat in einer seltsamen Aufregung war. Mehrmals hatte ich die junge Dame heimlich angeblickt, ohne mich auf sie besinnen zu können, als sie plötzlich – der ci-devant-Metzger9 musste wohl eine besonders komische Geschichte zum besten gegeben haben – laut auflachte. An diesem Lachen erkannte ich sie – es war dasselbe fröhliche Gelächter aus der Kinderzeit, das mich damals so geärgert und heute mit einem süßen Reiz der Wehmut an den ersten Apfelkahn und die entschwundenen Jahre und die gefällten Pappeln erinnerte. Doch mitten in ihrem Gelächter hielt sie inne, die ältere der beiden Schwestern – ihr Blick streifte den vereinsamten Schachspieler, und sie errötete, was zur Folge hatte, dass auch er ganz rot wurde.

      »Aha, Mutter«, flüsterte ich der Wirtin zu, die in diesem Augenblick die Runde machte, »daraus kann etwas werden!«

      »Aber sie müssen sich beeilen, wenn sie’s in diesem Lokal noch fertigbringen wollen«, erwiderte sie, »ich habe den Garten verkauft. Übrigens ist sie jetzt ein reiches Mädchen – sehen Sie nur, wie sie sich trägt –, sie hat einen reichen Onkel beerbt, der sie auf seine Kosten hat erziehen lassen, und er (mit einem Blick auf den Schachspieler) ist seit gestern Stadtrichter.«

      »Eins wäre genug gewesen«, bemerkte ich.

      Aber die Wirtin zuckte die Achseln, indem sie sich mit den Worten entfernte: »Na, so ‘n Berliner Stadtrichter!«

      Unter so glücklichen Auspizien10 habe ich die kleine Gartenwirtschaft zum letzten Male gesehen. Ich verließ Berlin für mehrere Jahre, und als ich von meinen Reisen heimkehrte und unterwegs, fast im letzten Augenblicke noch, beinahe Schiffbruch gelitten hätte, wie ich im Eingang dieses wahrheitsgetreuen Berichts erzählt habe, da war das kleine Wirtshaus niedergerissen, der Garten als Baustelle eingehegt, wie man ihn heute noch sehen kann, und nur noch eine von den drei Pappeln, die letzte, stand am äußersten Rande desselben. Oft von meinem Fenster aus habe ich nach ihr ausgeschaut; aus seiner Höhe herab hat dieser alte Baum jahrelang auf mich niedergeblickt, wenn ich bei der Arbeit saß, und mir gleichsam ermunternd zugenickt, wenn ich von derselben aufstand. Oft in der Dämmerung sah ich seinen Wipfel hin- und herbewegt vom Abendwind, und dann war’s mir ordentlich, als ob er leise spräche oder sänge – als ob Lieder durch seine starken Äste zögen, Liebeslieder, Wiegenlieder, Lieder von häuslichem Glück und Frieden. Wie ein Andenken aus alter Zeit und eine Verheißung der Natur, die immer weiter hinausgetrieben wird aus dem steinernen Umfange von Berlin, war mir dieser Baum. Ich habe ihn geliebt, wie keinen zweiten Baum in Berlin – und heute ist auch er nicht mehr.

      Als ich heute meinen Morgenspaziergang machte, da lag er da, geknickt, abgebrochen vom Sturm. Viele Menschen standen um ihn her, um den zerstückten


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