Bilder aus dem Berliner Leben. Julius Rodenberg

Bilder aus dem Berliner Leben - Julius Rodenberg


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Frauen jetzt und von einem halben Dutzend Kinder umgeben, welche beladen mit Paketen und Schächtelchen vom Weihnachtsmarkte kamen. Ich hatte sie lange nicht gesehen und von ihrem ferneren Geschicke nichts erfahren; aber es freute mich, dass wir uns wieder trafen, gleichsam bei dem Begräbnis dieses Baumes, der in ihre Kinderzeit und meine Jugend gerauscht. Die eine hörte ich »Frau Stadtgerichtsrat« titulieren, so dass nicht nur an ihrer Identität, sondern auch an dem erfreulichen Avancement11 ihres Gatten, des mehrerwähnten Schachspielers, kein Zweifel war. Was die andere betraf, so war sie so rund und behaglich, dass ich sie von allen Männern der Welt keinem lieber gegönnt, als dem Sohne des Metzgers von Wollanks Weinberg, der sie denn auch seit Jahr und Tag die Seine nennt.

      Jetzt kam auch noch der Philosoph in Schal und Sommerhut. Er sah sich das, was man wohl die Leiche des Baumes nennen könnte, einen Augenblick an, erkundigte sich nach den näheren Umständen des beklagenswerten Ereignisses und spendete dann den Leidtragenden den einzigen Trost, welchen seine Wissenschaft zu bieten hat, dass nämlich Pappeln und Menschen sterben müssten, wenn ihre Zeit gekommen. Damit ging er, und auch ich nahm bewegten Herzens Abschied von der letzten Pappel.

      Sonntag vor dem Landsberger Tor

      (Juni 1880)

      Einer meiner liebsten Sonntagsspaziergänge ist vor dem Landsberger Tor. Ich weiß wohl, dass das nicht die fashionabelste Gegend ist; und ich würde wahrscheinlich in einige Verlegenheit geraten, wenn mir dort plötzlich ein Bekannter begegnete und mich fragen wollte: »Wie kommen Sie hierher? Was haben Sie hier zu tun?« Ich wüsste nicht, was ich ihm antworten sollte. Doch das ist es eben, was mich dorthin führt: die vollkommene Gewissheit, einem Bekannten auf jener Seite der Stadt nicht zu begegnen. Ich könnte nach Sizilien oder dem Nordkap reisen und würde dort Bekannte treffen; ich bin auf der Insel Skye, der äußersten der Hebriden, nicht vor Bekannten sicher. Aber wenn ich vor das Landsberger Tor gehe, dann bin ich ein Fremder unter Fremden.

      Oder – nein doch! Diese Menschen, Leute mittleren Standes zumeist, etwas mehr nach oben, etwas mehr nach unten, aber immer ordentliche Leute, bürgerliche Existenzen von der guten und bescheidenen Art, sind mir nicht fremd. Sie kennen mich nicht; ich aber kenne sie. Es macht mir das größte Vergnügen, sie zu beobachten, mit einem harmlosen Blick; an einem Tische mit ihnen zu sitzen, ein Wort aus ihrem Gespräch aufzufangen, ohne doch indiskret zu sein. Was gehn mich ihre Familienfreuden oder Sorgen, ihre häuslichen Feste oder Kalamitäten12 an? Was kümmert’s mich wohl, ob die dicke Bäckersfrau zu meiner Rechten morgen gutes oder schlechtes Wetter für ihre Wäsche haben und ob der ehrenfeste Mann, der zu meiner Linken nachdenklich hinter dem Glase sitzt, den Prozess, welchen er gegen einen halsstarrigen Nachbar führt, gewinnen oder verlieren wird? Und doch fühle ich mich auf eine gewisse zutrauliche Weise in ihre Geheimnisse eingeweiht und nehme den lebhaftesten Anteil daran. Es tut mir wohl, das Leben einmal von einer anderen Seite zu betrachten, als wir es im Westen der Stadt zu sehen gewohnt sind; unter solchen zu sein, welche sich niemals von den Angelegenheiten und Neuigkeiten der feinen Welt unterhalten, niemals einen von den Namen in den Mund nehmen, ohne welche wir uns kaum ein Gespräch denken können, und trotzdem ganz respektabel aussehen, ganz zufrieden sind und ihren Sonntag feiern, dass es eine Art hat.

      Schon wenn ich in den Omnibus steige, der in die Richtung gegen Osten fährt, bin ich halb und halb unter meinen Leuten. Nicht am Wochentag: denn der mit seiner mannigfaltigen Geschäftigkeit wirft alles durcheinander, Nord, Süd, Ost und West. Aber am Sonntag ist es etwas anderes; da sieht man keine Frauen mit Taschen oder Körben, keine Männer mit Kasten oder Handwerksgerät. Wer am Sonntag fahrt, der fährt zu seinem Vergnügen, entweder er will einen Besuch machen, oder er kehrt von einem Besuch zurück, wie der junge Schlossermeister aus der Krautstraße, der mit seiner Frau und seinen beiden Kindern den Fond13 des Wagens einnimmt. Diese Leute reisen immer in großer Familie, aber sie nehmen aus Sparsamkeit so wenig Platz als möglich ein: der Mann hat das kleine Mädchen und die Frau hat den kleinen Jungen auf dem Schoß; sie sind bei Freunden in einer der neuen Straßen in der Nähe des Botanischen Gartens gewesen, haben die Taschen voll Kuchen und fahren nun recht fröhlich dahin durch die schönen Straßen und über die breiten Plätze des Westens von Berlin, die ihnen wie ein Wunder vorkommen (sie sind nämlich gebürtig aus Neuruppin; ein richtiger Berliner, und wenn er auch am Verlorenen Weg wohnte, wo noch so gut wie gar keine Häuser stehen, würde sich nicht wundern). Ich bin mit meinen Neuruppinern aus der Krautstraße noch nicht bis an den Dönhoffplatz gekommen, so kenne ich ihre ganze Geschichte, einschließlich der Geschichte der beiden Kinder. Es nimmt mich übrigens für das tüchtige Ehepaar ein, dass weder er noch sie mir ein Hehl machen aus den weniger lobenswerten Eigenschaften ihrer Sprösslinge: das kleine Mädchen sei immer neidisch auf den kleinen Jungen – eine Bemerkung, die allerdings durch die Tatsache bestätigt wird, dass die beiden winzigen Geschöpfe wieder Krieg angefangen haben und aufeinander losschlagen wegen eines Brezels, den der kleine Junge gerade in den Mund stecken will. Die Mutter, die den Frieden liebt, beschwichtigt das kleine Mädchen, indem sie die Hälfte des Kuchens ihm gibt. Aber diese Gewalttat empört wiederum das Herz des kleinen Jungen. Erst ist er still, dann gibt er einen Schrei von sich, dann noch einen und noch einen, und so fort, als ob er heute nicht mehr aufhören wolle. »Auf diese Manier schreit er manchmal die halbe Nacht durch«, sagt die bekümmerte Mutter; und man sieht es ihrem schmalen, überwachten Gesichtchen wohl an, dass sie die Wahrheit sagt. Wieder ein Zug, der mir an dem Papa gefällt: Er nimmt in seinem Herzen Partei für den Jungen, will’s ihm aber nicht zeigen, wegen der Mutter. »Er hat ja so recht«, sagt er, und dabei versetzt er ihm eins auf die Knöchel, dass der kleine Schreier (der diese Sorte von Liebkosungen wohl kennt) augenblicklich verstummt. Über dem Kopf seines Jungen aber sieht der Mann seine Frau mit einer triumphierenden Miene an, die zu sagen scheint: »Na, warte man! Wenn der erst groß ist! Der lässt sich auch nichts nehmen, was er einmal in der Hand hat!«

      Am Mühlendamm steig ich aus; der Wagen fährt rechts, und ich gehe links. Dort drüben am Rande des weiten Beckens, welches hier die Spree bildet, liegt Neukölln, Neukölln am Wasser. Die Nachmittagssonne spiegelt sich in der schillernden Flut und beglänzt am Ufer die friedlichen Häuser – auch das darunter mit der breiten, schweren Fassade und dem massiven Torweg. Das Haus ist mir wohl bekannt, und in seinen dunklen gewundenen Gängen bin ich manchmal gewesen. Der alte Herr Grandidier14 hat dort gewohnt. Aber jetzt steht es einsam, andre Leute wohnen darin, und seine Fenster, die von der Sonne leuchten, winken mir nicht mehr. Die Herren vom Mühlendamm aber sind noch immer dieselben. Die haben zweimal Sonntag in jeder Woche, Sonnabend und Sonntag, und der Sonntag ist für sie der bessere Tag. Da dürfen sie noch obendrein rauchen. Sie sitzen vor den halbgeöffneten Türen ihrer Läden, aus alter Gewohnheit. Denn Geschäfte können sie nicht machen. Die schönen Uniformen mit den blanken Knöpfen, die goldbetressten Livreen15 und die Schlafröcke mit dem roten Unterfutter ruhen in der Verborgenheit. Aber eine Gardine wenigstens ist herabgelassen mit der Inschrift in großen Buchstaben: »Hier werden Fräcke verliehen«. Unter den steinernen Bögen der Arkaden ist es hübsch kühl, da sitzen sie wie vornehme Herren, die sich’s wohl einmal antun dürfen, mit dem Hut auf dem Kopfe und mit Pantoffeln an den Füßen und einer Miene von Weltverachtung, die ich nur an Sonntagnachmittagen an ihnen bemerkt habe.

      Der Molkenmarkt liegt in tiefem Schatten, und Sonne ist nur an den grauen Mauern jenes Hauses16, in welches – glaub ich – die Sonne niemals hereinscheint. Oder ist eine von den vergitterten Zellen, in diesen eng umbauten Höfen, in welche von oben her zuweilen eine Botschaft des Lichtes dringt? Die Haupteinfahrt ist geschlossen, als ob auch das Verbrechen noch einen Rest von Scheu vor dem Sonntage hätte; durch einen halbgeöffneten Seiteneingang sieht man den Posten im Hofe schildern, und lässig auf der Treppe steht einer von den »Blauen«, wie die Schutzleute in der Sprache derjenigen heißen, die in beständigem Krieg mit ihnen leben. Sonntagnachmittag in einem Gefängnis – Sonntagnachmittag auf dem Molkenmarkt ... lass uns weiter wandern, lieber Leser.

      Hier ist die Spandauer Straße, und hier leuchtet uns nach wenigen Schritten schon das Rathaus in all seiner Herrlichkeit entgegen, der Stolz des Bürgertums von Berlin. Das Rot dieses mächtigen Vierecks, flimmernd von Sonne, zeichnet sich wundervoll gegen den blauen Himmel ab, und sein Turm, ganz in Licht gebadet und golden angehaucht in dieser Stunde, steht recht


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