Hölle in Himmel. Joe Wentrup

Hölle in Himmel - Joe Wentrup


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the heap

      Der Sänger und seine Bigband gaben alles. Trotz und Stolz ließen sie die höchsten musikalischen Gipfel erklimmen, zu nie gehörtem Einklang zusammenwachsen. Wäre auch nur ein musikalisches Ohr präsent gewesen, sein Besitzer hätte vor Ergriffenheit geweint. Und tatsächlich, etwas abseits, auf einem Treppenabsatz sitzend, eine Dose Bier und eine Selbstgedrehte in der Hand, entblößte jemand mit stillem Lächeln eine große Zahnlücke und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel.

       These little town blues

       Are melting away

       I’ll make a brand new start of it

       In old New York

      Kahlberg sah die Bühne, bevor er die Band hören konnte. Er hielt in angemessener Entfernung und stieg ins Freie. Die Luft fühlte sich spürbar kälter an als in Düsseldorf, der Himmel hing bleiern über dem sporadisch anwesenden Publikum. Die Band klang gut. Zu gut für diesen Ort, ging es ihm durch den Kopf. Er las das große Schild über der Bühne, »Himmler Schlosstage«, bevor sein Blick auf etwas fiel, das dahinter groß und unerschütterlich aufragte. Als wären die Jahrzehnte, die Kahlberg diesen Ort gemieden hatte, nur ein Wimpernschlag gewesen, stand er an seinem Platz. Der Glockenturm.

      Aus seinem Dach sah Kahlberg Flammen schlagen wie aus dem Maul eines wütenden Drachen, der versuchte, das Blei des Himmels zu schmelzen. Head of the heap‚ king of the hill. Er wandte sich ab ließ sich davontragen von der Musik die in einem Crescendo endete, come on‚ come through‚ New York‚ New York‚ New York!

      Dann Stille.

      Die Wolken hingen grau und reglos wie ein metallener Baldachin, der Turm stand starr und unversehrt, die schieferschwarze Kuppel im eisigen Wind, der den letzten Nachhall der Musik mit sich forttrug.

      Niemand applaudierte.

      Der Bandleader griff zum Mikrofon. »Die Big Bang Brass Band, zum ersten Mal in Himmel …«, er genoss die Pause mit hämischer Vorfreude, »und hoffentlich auch zum letzten Mal!«

      Als die Band von der Bühne stieg, herrschte noch immer Schweigen, verständnisloses Schweigen jetzt. Konnte jemand so etwas gesagt haben? Oder hatte man sich verhört? Die wenigen Anwesenden beschlossen offensichtlich, diese Frage über ihren schaumlosen Bieren zu überdenken und blieben stumm und reglos im aufkommenden feinen Nieselregen stehen. Nur hier und da wurde ein Glas an schweigsame Lippen gehoben.

      Kahlberg bemerkte erst jetzt, dass sich seine Hand bisher geweigert hatte, die Wagentür zu schließen. Einladend wartete der noch warme Sitz hinter dem Lederlenkrad auf ihn.

      Er riss sich zusammen und schlug die Tür zu. Zu fest. Die versammelten Köpfe wandten sich ihm zu. Einige davon waren ihm noch gut im Gedächtnis. Zu viele. Er fragte sich, ob sie ihn auch wiedererkannten. Unwillkürlich tastete seine Hand nach dem Türgriff.

      Da sah er aus einem Polizeiwagen eine Frau in Uniform steigen und auf ihn zukommen. Ihre sportliche Figur balancierte leichtfüßig auf Schuhen, gerade so hochhackig wie im Dienst zugelassen, und sie wiegte ihre Hüften weiblicher, als es die meisten seiner Kolleginnen wagten. Als sie näher kam, konnte er ein freundliches Paar Augen erkennen, das unter einem blonden Pony hervorspähte. Zwar hatte der Dienst schon ein paar Spuren in ihrem ebenmäßigen Gesicht hinterlassen, aber noch dominierte ihre Jugend.

      »Hallo, ich bin Sandra Scheiwe, ich habe Sie schon erwartet«, sagte sie lächelnd und reichte ihm die Hand.

      KAPITEL FÜNF

      Seit seiner Jugend assoziierte Kahlberg den Geruch von Krankenhäusern mit dem Tod. Später, bei der Kripo, nach all den Visiten in den Katakomben der Gerichtsmedizin, hatte sich dies nur verstärkt. Aufgefräste Brustkörbe, entnommene Herzen, Lebern, Gehirne, die immer gleichen dünnen beflissenen Finger der Gerichtsmediziner, mit denen die Sektionen vorgenommen wurden, waren ihm dabei zu einem gewohnten Anblick geworden.

      Doch diesmal drohte ihn sein Bewusstsein beim Betreten jener neonerleuchteten Totenwelt zu verlassen, was nicht an der nackten, bereits wieder mit grober Naht verschlossenen Leiche vor ihm auf dem Seziertisch lag, sondern dem Umstand entsprang, dass in eben diesem Krankenhaus, mit seinem provisorisch zur gerichtsmedizinischen Abteilung umgestalteten Leichenkeller, seine Mutter verstorben war.

      In ihren letzten Stunden hatte er ihre Hand gehalten. Als sie ihre Augen für immer schloss, durchzog ihr Gesicht für einen Moment, zum ersten Mal seit vielen Jahren, so etwas wie Erleichterung, bevor das Blut entwich und die ausdruckslose Maske des Todes hinterließ.

      Unmittelbar nach Erledigung der Formalitäten und der Beerdigung in kleinstem Kreise war er fortgegangen, um niemals zurückzukommen. Und nun stand er dort, wo wohl auch der Leichnam seiner Mutter von einem Skalpell geöffnet worden war, um im Namen der Wissenschaft die genaue Zahl ihrer Metastasen festzustellen.

      »Tod durch Herzstillstand«, fasste der Gerichtsmediziner seine Erkenntnisse zusammen und riss damit Kahlberg aus seinen düsteren Erinnerungen, um bei dessen verstörtem, fahlem Anblick süffisant eine Braue hochzuziehen. Die Gegenwart eines Leichnams führte bei seinen Zuhörern des Öfteren zum Erbleichen.

      »Seine Hose war offen, wahrscheinlich ist er beim Pinkeln in den eiskalten Mühlengraben gefallen«, fuhr er fort. »Auf Geschlechtsverkehr gibt es jedenfalls keine Hinweise. Hätte mich bei seinem Gesundheitszustand auch gewundert.«

      »Rottmann galt aber allgemein als sehr lebensfroh, man sah ihn immer um die Blöcke ziehen«, gab Sandra Scheiwe zu bedenken und warf Kahlberg ob ihres vorlauten Einwandes einen entschuldigenden Blick zu.

      Der grinste anerkennend und riss sich zusammen, um nicht wieder in seine Abgründe zu sinken.

      »Also, ich bitte Sie.« Der Gerichtsmediziner rückte etwas pikiert seine goldgeränderte Brille zurecht. »Ganz abgesehen von den Promille in seinem Blut muss durch seine Leber genug Alkohol geflossen sein, damit die Brauereien Kränze an seinem Grab niederlegen; die Lunge trug vom Kettenrauchen eine Teerdecke wie eine Autobahn und das Herz scheint mir so schwach, dass es ihm auch beim Niesen hätte stehenbleiben können, und da glauben Sie …«

      »Irgendwelche Hinweise auf Gewalteinwirkung?«, fiel ihm Kahlberg ins Wort. Die Selbstgefälligkeit dieses Weißkittels ging ihm allmählich auf die Nerven.

      »Nein, er hat nicht eine einzige Schramme. Selbst wenn er mit jemandem gekämpft oder gerungen hätte, das Wasser hätte jede fremde DNA auf Kleidung, Haut oder unter den Fingernägeln untauglich gemacht. Schließlich lag er Stunden darin.«

      »Wie lange genau?«

      »So sechs bis acht.«

      »Dann ist er also gegen Mitternacht oder kurz danach gestorben«, resümierte Kahlberg und wandte sich an Scheiwe. »Was hatte Rottmann wohl betrunken am Mühlengraben zu suchen?«

      »Wahrscheinlich befand er sich auf dem Heimweg von irgendeiner Veranstaltung oder einem Kneipenbesuch.«

      Kahlberg hegte seine Zweifel, der Graben lag zu abgelegen. Trotzdem sagte er: »Finden Sie raus, wo er sich zuletzt aufgehalten hat. Ich glaube, damit werden wir den Fall beenden können.«

      Er wollte nur noch fort von hier, fort von dem aseptischen Geruch des Todes, fort aus dieser Kleinstadt, die schon wieder begann, ihm die Kehle zuzuschnüren. Wenn alles gut lief, würde er sich sogar eine mit Sicherheit schlaflose Nacht im Hotel sparen und stattdessen die Gewalt seines Quattros auf den Asphalt der A1 bringen können. Er würde schnell fahren. Sehr schnell.

      Sie gaben dem Gerichtsmediziner zum Abschied die Hand, wobei es Kahlberg bei der Berührung der feingliedrigen Chirurgenfinger schauderte, und begannen, die Stufen zum Erdgeschoß hinaufzusteigen. »Jetzt machen wir noch unseren kleinen Pflichtbesuch beim Bürgermeister und dann ist Feierabend.«

      KAPITEL SECHS

      Adler erwies sich als ein stattlicher Mann Anfang sechzig mit einer routinierten Aura der Macht. Für einen Provinzpolitiker, der bei den letzten Wahlen die meisten Stimmen auf sich hatte vereinen können, besaß er erstaunlich


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