Ausgesprochen reformiert. Группа авторов

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einer «Stimme verschwebenden Schweigens» (so Bubers Übersetzung) begegnet. Bewegend, wie die Predigerin dann ganz persönlich fortfährt: «Darum glaube ich von Elia her dies: Gott ist da am dichtesten bei uns, wo unser zerbrochenes Herz zwischen Leben und Tod schwebt. Denn da – im Schwebezustand zwischen Leben und Tod – wird es empfindlich für eine ganz feine Berührung, abseits vom Lärm der Rechthaberei und abseits vom triumphierenden Gefühl, Gottes Willen zu vollstrecken.» Und eindrucksvoll, wie sie zum Schluss eine Brücke zum Abendmahl und zur Verklärungsgeschichte schlägt, und damit zum Kern dessen, was in einer evangelischen Kirche bedacht und gefeiert wird.

      Biblische Texte auslegen heisst nicht über sie zu dozieren, sondern ihrem Erzählsinn vertrauen, bei ihren Bildern verweilen, deren Kraft und Tiefe sichtbar und auf Lebenserfahrungen hin transparent machen. Das ist Manuela Liechti-Genge in ihrer Predigt über die Begegnung Jesu mit der Samaritanerin (Joh 4,4–19) besonders gut gelungen, weshalb ihr der Spezial­preis Radiopredigt zugesprochen wird. Gedanklicher Ausgangspunkt ihrer Predigt ist ein oft überlesener Halbsatz im Text «Herr, du hast kein Schöpfgefäss», bei dem die Predigerin verweilt, weil dieser Krug in der Hand der Frau ihr zum Bild für den Lebensdurst der Samaritanerin wird, für jene Sehnsucht nach erfülltem Leben und gestilltem Lebensdurst, nach wirklichem Lebenswasser. So gelingt es der Predigerin, diesen johanneischen Text mit seiner vielschichtigen Symbolik in einer ruhigen, klaren Sprache lebendig werden zu lassen, diesen Brunnen mit seiner Quelle gleichsam zum Sprudeln zu bringen.

      |16| Stefan Wellers Predigt packt einen zivilreligiös durch Bettags-Übernutzung gefährdeten Text («Suchet das Wohl der Stadt» Jer 29,7) so überraschend neu an, dass seine lebenspraktische Botschaft zum Leuchten kommt. Nach einem Einstieg bei Alltagskrisen, wie wir sie alle erleben, vermittelt er anschaulich, welch extreme Krisenerfahrung und Glaubensverunsicherung das Babylonische Exil im Jahr 587 gewesen sein muss, wie Verzweiflung, Verdrängung und illusorische Heilsversprechungen die Gemeinschaft jüdischer Exilierter damals geschüttelt haben müssen, wie überraschend deshalb die Botschaft Jeremias an sie: «Verschiebt euer Leben nicht auf ein illusionäres Morgen […] Bleibt nicht auf den Koffern sitzen, packt sie aus und lebt euer Leben im Exil.» Weller deutet dann eine weltgeschichtliche Linie von Jeremias Brief bis zur heutigen Diaspora der Juden an, und zieht darauf eine gegenwartsdiagnostische Linie zur «provisorischen Daseinshaltung» (Viktor Frankl) vieler heutiger Menschen. Eine lebendig geschriebene Predigt, in der man einiges lernt und zugleich auf eine positive Weise nachdenklich wird.

      Die Briefe des Apostels Paulus, seine Worte und Sprachbilder sind oft schwer verständlich. Was soll etwa seine Aussage «Ihr seid ein Brief Christi» (2Kor 3,2–9) genau bedeuten? Martin Dürr wählt einen humoristischen Einstieg und führt vor Augen, was aus der Kombinatorik von 26 Buchstaben so alles entstehen kann, vom Telefonbuch hinauf bis zum Sonett und hinunter bis zum blöden SMS, um dann deutlich zu machen, welche Form liebevoller Zuwendung ein Brief sein kann. Und darauf entfaltet er die paulinische Aussage mit der Pointe, dass Christen sich – trotz aller Fehler – als Liebesbriefe Gottes verstehen sollten, und was sich verändern könnte, wenn man diese nicht mit Tinte, sondern mit dem heiligen Geist uns eingeschriebene Botschaft wirklich lebt, sie brieflich oder sonst wie an andere Menschen weitergibt.

      Dogmatische Kernaussagen wie die Botschaft von der Auferstehung werden gepredigt selten aussagekräftig, sie bleiben |17| oft im Modus der Behauptung. Deshalb setzt Pascale Rondez mit ihrer Predigt über das Wort «Wach auf, der du schläfst, und steh auf von den Toten» (Eph 5,14) bei der Erfahrung des Aufwachens ein, wie der Bibeltext sie selbst evoziert, um dann zu einer ruhigen, klaren Meditation einzuladen, was ein «Aufwachen ins Leben» bedeuten könnte. Dabei reflektiert sie sehr behutsam, welche Kraft, aber auch welche Gefahren darin stecken, dass der Text uns als «der Finsternis Entrissene» anspricht: Gefahren eines christlichen Moralismus, der nur in schwarz-weiss denken kann und deshalb diskreditiert ist; welch gute Zumutung trotzdem darin liege, über Moral, über Leiden und Ungerechtigkeit in offener Weise zu sprechen, und so als unvollkommene, aber hoffende Menschen «wieder und wieder aufzuwachen ins Leben und aufzustehen aus Tod und Gleichgültigkeit.»

      Das Wort Hochdeutsch suggeriert, dass der gesprochene Dialekt niedriger einzustufen sei, dass er weniger tauge und deshalb für Gottesdienste und Predigten zu meiden sei, genauso wie man von einer Beiziehung volkstümlicher Märchen doch bitte absehen möge. Verena Salvisbergs Dialektpredigt über das Wort «Trachtet zuerst nach seinem Reich und seiner Gerechtigkeit, dann wird euch das alles dazugegeben werden» (Mt 6,33) widerlegt beide Vorurteile. Sie schreibt in einem kraftvollen, anschaulichen Berndeutsch, und sie zieht auf eine erhellende Weise das bekannte Grimm’sche Märchen vom Fischer und seiner Frau bei, um über Lebensfülle und Mangel, über Gier und Unersättlichkeit, über Prioritäten im Leben und über politische Zusammenhänge nachzudenken. So gelingt es ihr, das bekannte Jesuswort aus moralischen Fehllektüren zu befreien. Dabei fällt nicht nur auf das Bergpredigtwort, sondern auch auf das Märchen ein überraschendes Licht, das plötzlich von Gottes Wesen, von seiner Armut und seinem Reichtum zu sprechen beginnt.

      «Um über Gott zu reden und zu schreiben, braucht es eine lebendige Sprache», schreibt die Schriftstellerin Maja Peter. |18| Und legt in ihrer Schriftstellerinnen-Predigt über die Anfangsgeschichten im Buch Genesis (Gen 1,1–3,24) den Beweis vor, wie eine literarische Befragung den biblischen Text hell werden lässt, wie eine unvoreingenommene Neulektüre Fragen weckt: Fragen nach unserem Menschsein, nach der Kraft wirklicher Worte, nach dem Sinn von Literatur, nach Gott, auch Gottes Frage nach uns. Maja Peters Lektüre ist anzumerken, dass sie keine falsche Unmittelbarkeit sucht, dass sie theologische Kommentare studiert hat, dass sie aber genau das tut, was Literatur tut: nämlich der Sprache vertrauen und misstrauen, und also selber Wege und Worte suchen zwischen Allmachtsphantasien und Ohnmachtserfahrungen. Und grossartig, wie ein Klaus Merz-Gedicht den Resonanzraum ihrer Reflexion bildet, ohne dass der Text selbst zitiert oder ausgelegt würde.

      In entwaffnender Offenheit sagt Ruedi Bertschi zu Beginn seiner Predigt über den übelbeleumdeten Pharisäer und den Zöllner im Tempel (Lk 18,9–14): «Ich will euch den Pharisäer heute Morgen so richtig lieb machen». Nicht nur, weil er selber auf «pharisäischen» Pfaden gewandelt sei und versucht habe, ein wirklich frommer Mensch zu sein, sondern weil die Pharisäer diese pauschale negative Presse einfach nicht verdienten: Denn sie hätten das Wort Gottes ernstgenommen, hätten Syn­agogen, Bibelschulen für Kinder und Erwachsene gegründet; ohne ihre gelebte Frömmigkeit, ohne ihre Leidenschaft für die Heilige Schrift wäre das Alte Testament nach den Wirren der Tempelzerstörung untergegangen. Im zweiten Teil der Predigt erzählt Bertschi dann von den Schattenseiten solch ernsthafter, leistungsorientierter Frömmigkeit, von der Überheblichkeit, von der Verachtung unfrommer Menschen, und von seiner eigenen tiefen Depression: eine Erfahrung, die ihn durchgeschüttelt, damit aber zugleich auch geheilt und gereinigt habe. Diese Predigt hat uns durch ihre Offenheit und Wärme, durch ihre persönliche und narrative Theologie überzeugt.

      «Warum sprichst du so wenig von Gott und vom Glauben? Du bist doch Pfarrer!» Andreas Bruderer steigt mit dieser an |19| ihn persönlich gerichteten Frage ein, um im Kontext eines Heilungsgottesdienstes über Glauben und Unglauben, Vertrauen und Zweifel zu sprechen. Er tut dies in Auslegung der Geschichte vom Vater, der zu Jesus kommt, ihn um die Heilung seines kranken Knaben bittet und sagt: «Ich glaube, hilf meinem Unglauben» (Mk 9,17–27). Eine eindrücklich ehrliche Predigt über die Urform des Glaubens, der keine Leistung, sondern nur Bitte und Geschenk sein kann, und zugleich eine Auslegung, welche diese Wundergeschichte nicht als Mirakel deutet, sondern als eine Geschichte des Wegs vom Unglauben zum Glauben.

      Im Rahmen eines Musikgottesdienstes über die Bachmotette «Ich lasse dich nicht, Du segnest mich denn» entwickelt Thomas Grossenbacher eine eindringliche Interpretation der Geschichte von Jakobs Kampf (Gen 32,22–32) – eindringlich in ihren biblischen Bezügen, welche bis in familiengeschichtliche Verbindungen hinein Jakobs Motive und Erfahrungen freizulegen versucht, eindringlich auch, wie der Ausleger Johann Sebastian Bachs musikalische Deutung und eine neuere Theaterinszenierung beizuziehen weiss, um schliesslich eine auf Christus bezogene Deutung vorzuschlagen. Eine Predigt, deren Stärke es ist, dass sie zu intellektueller Reflexion anregt, eine Stärke überdies, dass in ihr die Auslegungsgeschichte als Vertiefung zur Sprache kommt und dabei neue Zugänge öffnet.

      Ziel des Schweizer Predigtpreises


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