Khaled tanzt. László Benedek

Khaled tanzt - László Benedek


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war darauf ausgerichtet, für einen ständigen Nachwuchs der arischen Rasse zu sorgen. In den skandinavischen Ländern, so vor allem in Norwegen, waren die SS-Angehörigen dazu angehalten, mit norwegischen Frauen Kinder zu zeugen. Im Europa der Nazis, so auch in Frankreich und Österreich, erblickten überall arische Nachkommen der Besatzer das Licht der Welt. Gemäß verschiedenen statistischen Erhebungen betrug die Zahl der während des Krieges und unmittelbar danach in Norwegen geborenen „Lebensborn“-Kinder zwölftausend. Zu ihnen gehörte auch Anni-Frid Lyngstad, eine der späteren Sängerinnen von ABBA, geboren 1945 nach Kriegsende als Tochter einer norwegischen Mutter und eines deutschen Vaters. Als kleines Kind emigrierte Anni-Frid zusammen mit ihrer Mutter nach Schweden, wo sie von ihrer Großmutter großgezogen wurde.

      Nach dem Krieg verwandelte sich das privilegierte Dasein der „Lebensborn“-Kinder von einem Tag auf den anderen in eine Hölle. Überall im Land wurden ihre Mütter als Verräterinnen, Nazinutten und die Kinder selbst als Bastarde, Ratten und Hurenkinder beschimpft. „Vater Deutscher“, diese beiden Wörter genügten, um die „Lebensborn“-Kinder zu diskriminieren. Viele von ihnen wurden in psychiatrischen Anstalten weggesperrt. Die Ächtung der Kinder war allgemein verbreitet. Vielen von ihnen wurden Jahrzehnte später vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Entschädigungszahlungen zugesprochen. 1998 bat der Ministerpräsident Norwegens die Betroffenen im Namen des norwegischen Volks um Entschuldigung. Allerdings war dieser Akt der Gerechtigkeit für die erlittene Unbill der vorangegangenen, vierzig Jahre währenden Diskriminierung keine wirkliche Wiedergutmachung.

      Zur Schicksalsgemeinschaft norwegisch-deutscher Kinder gehörte auch Kerstin. Als kleines Mädchen wusste sie lediglich, dass der Vater noch vor ihrer Geburt im Krieg den „Heldentod“ gestorben sei.

      Die mit ihrer Herkunft zusammenhängenden Erniedrigungen blieben auch ihr nicht erspart. Kerstin begriff nicht, warum sie von ihren Altersgenossen geschnitten wurde, warum man sie anders behandelte. Über den Vater schwieg sich die Mutter aus. Mehr, als dass er im Krieg gefallen sei, konnte Kerstin nicht in Erfahrung bringen. Sobald sie sich nach dem Vater erkundigte, wurde die Mutter nervös und beendete unwirsch das Gespräch, noch bevor es eigentlich begonnen hatte. Auch Kerstins Frage, warum die Mutter nie etwas vom Vater erzähle, wurde kurz abgefertigt.

      Kerstins Mutter gehörte der Christengemeinschaft an, einer in Norwegen gegründeten kleinen lutherisch-christlichen Kirche. Ihr vollständiger Name: Brunstad Christian Church. Ihr Sitz befand sich im norwegischen Brunstad, wo Kerstin zusammen mit ihrer Mutter lebte. Die alleinerziehende Mutter wurde zusammen mit Kerstin in den Schoß der Kirche aufgenommen.

      Kerstin fühlte sich in der Gemeinde wohl. Die Lichtgestalt des Vaters aber blieb nach wie vor in nahezu undurchdringliches Dunkel gehüllt. Da sie der Mutter keine Informationen entlocken konnte, kamen dem pubertierenden Mädchen die Inspirationen der Altersgenossinnen mehr als gelegen. Sie ermunterten Kerstin, selbst Nachforschungen anzustellen. Insgeheim tastete sie sich in der Tiefe des Wäscheschranks voran. Der Erfolg blieb nicht aus. Unter den Bettlaken entdeckte sie liebevoll von einem Seidenband zusammengehaltene Briefe. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, während sie die offensichtlich nicht für ihre Augen bestimmten Kuverts öffnete. Sie fand darin in Perlschrift geschriebene Briefe, deren Adressatin Berta war, Kerstins Mutter. Als Absender der wohl drei oder vier Briefe entpuppte sich ein Mann namens Heinrich. Der letzte Brief stammte aus dem Jahr 1947. Mehr verrieten ihr die Briefe nicht. Denn sie waren auf Deutsch verfasst, in einer Kerstin damals noch fremden Sprache. Schnell versenkte sie den Briefstoß des Unbekannten wieder unter den Bettlaken. Da sie wegen der gewiss verbotenen Schnüffelaktion ein schlechtes Gewissen hatte, verriet sie sich der Mutter gegenüber mit keinem einzigen Wort. In ihrem tiefsten Inneren aber hoffte sie, dass dieser ominöse Heinrich ihr Vater sein könnte. Vielleicht war er ja gar nicht gestorben, wie man ihr gesagt hatte.

      Jedenfalls wurde sie in der Gemeinde auf die Gründung von kleinen Partnerkirchen in anderen Ländern aufmerksam. Ende der fünfziger Jahre entstanden in Dänemark, Schweden und sogar Deutschland Gemeinden, die den Vorstellungen der norwegischen Christengemeinschaften folgten. Kerstin bat ein Mitglied ihrer Gemeinde, den an der Wandzeitung des Gemeindehauses angeschlagenen Aushang zur deutschen Gründung einer Partnergemeinde zu übersetzen.

      Der Mann kam der Bitte nach. In dem an die Brunstader Gemeinde gerichteten Schreiben der Hamburger Christengemeinschaft wurde der Freude Ausdruck verliehen, dass man nun gleichfalls die Gedanken und das Leben Jesu Christi verkündigen, das christliche Evangelium und die Bibel verbreiten wolle.

      Der Übersetzer war überrascht, mit welcher Begeisterung die Halbwüchsige diese Nachricht zur Kenntnis nahm. Im Stillen stellte er fest, dass es unter den jungen Menschen offenbar noch begeisterungsfähige Gläubige gab.

      Von diesem Tag an betrieb Kerstin intensiv das Erlernen der deutschen Sprache. Allmählich verinnerlichte sie die Überzeugung, dass ihr Heinrich irgendwo in Deutschland leben musste und lediglich aus unerfindlichen Gründen von seiner geliebten Familie getrennt worden war. Für sie bestand nicht der geringste Zweifel daran, dass die Briefe Ausdruck nicht enden wollender Sehnsucht nach der innig geliebten Tochter sein mussten. Kerstin wollte sich die deutsche Sprache möglichst schnell aneignen, um die Botschaften des vermeintlichen Vaters zu verstehen. Als sie schließlich das Gefühl hatte, Deutsch schon ein wenig zu verstehen, wühlte sie an einem verregneten Sonntag erneut im Wäscheschrank herum, forschte unter den Bettlaken nach den Briefen. Doch außer den Kadavern einiger Kakerlaken konnte sie absolut nichts finden. In grenzenloser Wut verstreute sie die Bettwäsche auf dem Fußboden. Auf die Geräusche aufmerksam geworden, erschien die Mutter plötzlich im Raum, wo sie Kerstin vorfand, die die Laken auseinanderfaltete und wie wahnsinnig nach etwas zu suchen schien.

      Überrascht zwar, bei der Suche ertappt worden zu sein, vermochte sie ihrer Verzweiflung dennoch nicht Einhalt zu gebieten und stellte die Mutter zur Rede, wollte wissen, wo Heinrichs Briefe geblieben seien.

      „Also du warst das!“, stellte Berta wütend fest.

      Mutter und Tochter standen sich feindselig gegenüber.

      „Die Briefe? Die gehen dich einen feuchten Dreck an!“

      Kerstin war sich darüber im Klaren, dass der Mutter nicht mehr zu entlocken sein würde. Also blieb sie mit ihren quälenden Fragen auch weiterhin allein.

      Von da an war Berta auf der Hut. Die seltenen Briefe fischte sie aus dem Briefkasten und ließ sie schnell verschwinden. Kerstin befand sich schon mitten im Backfischalter, als die Mutter eines schönen Tages zum Arzt musste, weshalb sie den Briefkasten nicht rechtzeitig inspizieren konnte. In der Tiefe des Briefkastens fand die Tochter einen leicht zerknitterten und an die Mutter adressierten Brief. Als Absender war ein Heinrich Dümmel angegeben. Schreckliches Herzklopfen bemächtigte sich ihrer, während sie das Kuvert sogleich in der Bluse verschwinden ließ. Sie schloss sich in ihrem Zimmer ein und öffnete das Kuvert ohne auch nur den geringsten Anflug eines schlechten Gewissens. Zur größten Überraschung aber gab es darin keine einzige Zeile, sondern lediglich ein gepresstes vierblättriges Kleeblatt.

      Sie betrachtete das Kuvert. Als Absender war Hamburg-Altona angegeben sowie eine für sie kaum aussprechbare Straße: Elbchaussee 88. Kerstin war damals fünfzehn Jahre alt. Am liebsten hätte sie sich sogleich in einen Zug nach Hamburg gesetzt. Aber wie in die Tat umsetzen? Sie erinnerte sich daran, dass unlängst ja auch in Deutschland eine Partnergemeinde gegründet worden war, noch dazu ausgerechnet in Hamburg. Ihr kam die Idee, Austauschbesuche mit gleichaltrigen deutschen Gemeindemitgliedern zu initiieren. Binnen weniger Wochen gelang es ihr, zusammen mit zwei Freundinnen eine mehrtägige Reise nach Hamburg zu organisieren, wo sie bei Familien der Partnergemeinde untergebracht werden sollten. Als härteste Nuss erwies sich Berta, die die Tochter auf gar keinen Fall reisen lassen wollte, und schon gar nicht nach Deutschland. Kerstin wandte sich an den Kirchenvorstand um Fürsprache. Schließlich gab die Mutter nach.

      Alsbald konnte Kerstin sich mit der zwischen Oslo und Kiel verkehrenden Fähre auf die Reise begeben. Von Kiel aus fuhren die Freundinnen mit dem Zug weiter in Richtung Hamburg. Der Austauschbesuch hielt nichts Besonderes bereit. Kerstin beschäftigte etwas ganz anderes. Als sich die Gastgeberfamilie an einem Nachmittag endlich zu einem Mittagsschlaf zurückzog, nutzte sie die Gelegenheit, sich davonzustehlen. Auf dem Stadtplan hatte sie sich wieder


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