Das Haus der Freude. Edith Wharton
sie hatte erraten, dass Mr. Gryces Egoismus ein durstiger Boden war, der nach ständiger Nahrung von außen verlangte. Miss Bart hatte die Gabe, einen verborgenen Gedankengang zu verfolgen, während sie an der Oberfläche der Unterhaltung mit Leichtigkeit dahinzugleiten schien, und in diesem Fall nahm ihr gedanklicher Abstecher die Gestalt eines schnellen Überblicks von Mr. Percy Gryces Zukunft in Verbindung mit ihrer eigenen an. Die Gryces kamen aus Albany und waren erst vor kurzem in die Hauptstadt eingeführt worden, in die Mutter und Sohn nach dem Tode des alten Jefferson Gryce gekommen waren, um sein Haus in der Madison Avenue in Besitz zu nehmen – ein scheußliches Haus, ganz brauner Stein von außen und schwarzes Walnussholz von innen, mit der Gryce’schen Bibliothek in einem feuersicheren Anbau, der wie ein Mausoleum aussah. Lily wusste jedoch bereits alles über sie: Die Ankunft des jungen Mr. Gryce hatte die Mutterherzen von New York höher schlagen lassen, und wenn ein Mädchen keine Mutter hat, die für es ins Zittern kommt, muss es verständlicherweise selbst auf dem Posten sein. Lily hatte deshalb nicht nur dafür gesorgt, den Weg des jungen Mannes zu kreuzen, sondern auch die Bekanntschaft von Mrs. Gryce gemacht, einer monumentalen Erscheinung mit der Stimme eines Kanzelpredigers und einem Kopf, der voll war von den Schandtaten ihrer Dienstboten. Diese Dame kam manchmal, um Mrs. Peniston Gesellschaft zu leisten und zu erfahren, wie es ihr gelang, das Küchenmädchen daran zu hindern, Esswaren aus dem Haus zu schmuggeln. Mrs. Gryces Wohltätigkeit war von ganz und gar unpersönlicher Art: Fälle, in denen es um die Notlage eines Einzelnen ging, betrachtete sie mit Misstrauen, aber sie unterstützte Institutionen, wenn deren Jahresbericht ein eindrucksvolles Plus verzeichnete. Ihre häuslichen Pflichten waren zahlreich, denn sie reichten von heimlichen Inspektionen der Dienstbotenkammern bis zu unangekündigten Besuchen im Keller; viele Vergnügungen hatte sie sich dagegen nie erlaubt. Einmal jedoch ließ sie eine Sonderausgabe des Sarum Rule1 in roter Schrift drucken und versah alle Kleriker der Diozöse damit. Das vergoldete Album, in dem die Dankesbriefe eingeklebt waren, stellte das wichtigste Schmuckstück auf dem Tisch ihres Salons dar.
Percy war nach Grundsätzen erzogen worden, die eine so exzellente Frau gar nicht umhinkonnte, ihm einzuimpfen. Jede Form von Vorsicht und Misstrauen war einer Natur eingepflanzt worden, die von sich aus schon zögernd und vorsichtig war, mit dem Resultat, dass es für Mrs. Gryce kaum nötig gewesen wäre, ihrem Sohn das Versprechen wegen der Überschuhe abzunehmen, so wenig wahrscheinlich war es, dass er sich im Regen draußen in Gefahr gebracht hätte. Nachdem er volljährig geworden war und das Vermögen des seligen Mr. Gryce geerbt hatte, das dieser mit einem Patent, um frische Luft von Hotels fernzuhalten, gemacht hatte, lebte der junge Mann zunächst weiterhin mit seiner Mutter in Albany; aber nach Jefferson Gryces Tod, als ein weiterer großer Besitz in die Hände ihres Sohnes überging, fand Mrs. Gryce, dass, was sie seine »Interessen« nannte, seine Anwesenheit in New York erforderte. Sie ließ sich also in dem Haus in der Madison Avenue nieder, und Percy, dessen Pflichtgefühl dem seiner Mutter in nichts nachstand, verbrachte all seine Wochentage in einem hübschen Büro in der Broad Street, wo ein Trupp blasser Männer für ein kleines Gehalt bei der Verwaltung der Gryce’schen Besitzungen ergraut war, und wo er mit angemessener Ehrerbietung in alle Einzelheiten der Kunst des Geldscheffelns eingewiesen wurde.
Soweit Lily in Erfahrung bringen konnte, war dies bisher Mr. Gryces einzige Beschäftigung gewesen, und man sollte ihr verzeihen, dass sie die Aufgabe nicht als allzu schwer empfand, das Interesse eines jungen Mannes zu wecken, den man bei so strenger Diät gehalten hatte. Auf jeden Fall fühlte sie sich so völlig Herrin der Lage, dass sie sich einem Gefühl der Sicherheit hingab, in dem alle Furcht vor Mr. Rosedale und vor den Schwierigkeiten, von denen diese Furcht abhing, hinter dem Horizont bewussten Denkens verschwanden.
Dass der Zug in Garrisons hielt, hätte sie von ihren Gedanken nicht abgelenkt, wenn sie nicht plötzlich einen gequälten Ausdruck in den Augen ihres Reisegefährten entdeckt hätte. Sein Sitz war der Tür zugewandt, und sie erriet, dass er von einem sich nähernden Bekannten beunruhigt worden war, eine Tatsache, die durch sich umwendende Köpfe und eine allgemeine Unruhe bestätigt wurde, so wie es oft geschah, wenn sie selbst ein Eisenbahnabteil betrat.
Sie erkannte die Symptome sofort und war nicht erstaunt, von der hohen Stimme einer hübschen Frau begrüsst zu werden, die in den Zug kam in Begleitung einer Zofe, eines Bullterriers und eines Gepäckträgers, der unter der Last von Taschen und Reisenecessaires daherwankte.
»Oh, Lily – fährst du nach Bellomont? Dann kannst du mir wohl nicht deinen Platz überlassen, oder? Aber ich muss einen Platz in diesem Abteil finden – Schaffner, Sie müssen mir sofort einen Platz besorgen! Kann nicht jemand woanders hingesetzt werden? Ich will bei meinen Freunden sitzen. Oh, wie geht es Ihnen, Mr. Gryce? Versuchen Sie doch ihm begreiflich zu machen, dass ich einen Sitzplatz bei Ihnen und Lily haben muss!«
Mrs. George Dorset stand in der Mitte des Ganges, ohne auf den schüchternen Versuch eines Reisenden mit einer Reisetasche zu achten, der sein Bestes tat, ihr Platz zu machen, indem er ausstieg; sie verbreitete um sich jene allgemeine Irritation, die gutaussehende Frauen auf Reisen nicht selten verursachen.
Sie war kleiner und schlanker als Lily Bart, mit einer ruhelosen Biegsamkeit in ihrer Haltung, so als ob man sie hätte zusammenknüllen und durch einen Ring ziehen können, wie die wallenden Stoffe, an denen sie Gefallen fand. Ihr kleines blasses Gesicht schien nur die Fassung für ein Paar dunkler unglaublicher Augen zu sein, deren träumerischer Blick in sonderbarem Kontrast zu der Selbstsicherheit ihrer Stimme und Gestik stand, so dass einer ihrer Freunde bemerkte, sie gleiche einem körperlosen Geist, der eine Menge Raum einnahm.
Nachdem sie schließlich doch entdeckt hatte, dass der Sitzplatz neben Miss Bart zu ihrer Verfügung stand, nahm sie ihn mit einer weiteren Verdrängung ihrer Umgebung in Besitz, während sie erklärte, dass sie am Morgen in ihrem Wagen von Mount Kisko gekommen sei und sich in Garrisons eine Stunde lang die Beine in den Bauch habe stehen müssen, noch dazu ohne den Trost einer Zigarette, weil der Rohling von Ehemann vergessen hatte, ihr Etui aufzufüllen, bevor sie am Morgen weggefahren war.
»Und um diese Tageszeit hast du, nehme ich an, keine einzige mehr übrig, oder Lily?«, schloss sie mit klagender Stimme.
Miss Bart fing den erstaunten Blick von Mr. Percy Gryce auf, dessen Lippen nie von Tabak besudelt wurden.
»Was für eine absurde Frage, Bertha!«, rief sie und errötete bei dem Gedanken an den Vorrat, den sie bei Lawrence Selden angelegt hatte.
»Wieso, rauchst du nicht? Seit wann hast du es denn aufgegeben? Was – du hast nie – und Sie auch nicht, Mr. Gryce? Ah, natürlich – wie dumm von mir – ich verstehe.«
Und Mrs. Dorset lehnte sich zurück in ihre Reisepolster mit einem Lächeln, das Lily wünschen ließ, es wäre kein Platz neben ihrem frei gewesen.
III
Bridge dauerte auf Bellomont meist bis in die frühen Morgenstunden; und als Lily in dieser Nacht zu Bett ging, hatte sie länger gespielt, als sie sich leisten konnte.
Weil sie kein Bedürfnis verspürte, in ihr Zimmer zu gehen, wo sie sich für ihr Verhalten würde Rechenschaft ablegen müssen, verweilte sie noch ein wenig auf der breiten Treppe und schaute in den Saal hinunter, wo die letzten Kartenspieler um ein Tablett mit hohen Gläsern und silberummantelten Karaffen gruppiert saßen, das der Butler gerade auf einem niedrigen Tisch neben dem Kamin abgesetzt hatte.
Der Saal war mit Arkaden versehen und mit einer Galerie, die von Säulen aus blassgelbem Marmor getragen wurde. Hohe Büsche blühender Pflanzen hatte man vor dem Hintergrund dunklen Blattwerks in den Ecken arrangiert. Auf dem karmesinroten Teppich dösten ein Jagdhund und einige Spaniels wohlig vor dem Feuer, und das Licht der großen Deckenlampe in der Mitte des Raumes gab dem Haar der Frauen strahlenden Glanz und ließ ihre Juwelen Funken sprühen, wenn sie sich bewegten.
Es gab Augenblicke, in denen solche Szenen Lily viel Freude bereiteten, in denen sie ihrem Sinn für Schönheit und ihrem Verlangen nach der äußerlichen Vollendung des Lebens entgegenkamen; es gab aber auch solche, in denen sie ihr noch verschärft vor Augen führten, wie dürftig ihre eigenen Möglichkeiten waren. Jetzt war gerade ein Moment, in dem sie vornehmlich diesen letzten Gegensatz empfand, und sie wandte sich ungeduldig ab, als Mrs. George Dorset Percy Gryce hinter sich her in ein vertrauliches