Paul Schneider – Der Prediger von Buchenwald. Margarete Schneider
Regierungserklärungen anzuhören, die vorgelegten Gesetzesentwürfe einstimmig anzunehmen und am Schluss der kurzen Sitzung – als »teuerster Gesangverein der Welt« – »Deutschland, Deutschland, über alles« und das Horst-Wessel-Lied »Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen« zu singen.
Im Dorf zieht der Nationalsozialismus langsam ein, viele stehen noch abwartend, die neuen politischen Machthaber des Dorfes werden kritisch betrachtet. Ein Handwerker spricht aus: »Der einzige National-Sozialist ist hier der Pfarrer, und der ist keiner!«141 – Dass aber der 1. Mai 1933 das ganze Völkchen mit all ihren Gaben und Verschiedenheiten vereint und alles beim Feldgottesdienst142 und den Kundgebungen durchs Radio zugegen ist, das erfüllt Paul nun doch mit Freude. Er fängt an, dem »sozialen Wollen Hitlers Vertrauen zu schenken«. – »Wenn wir nur auch als Kirche den positiven Beitrag zum inneren Aufbau unseres Volkes leisten können, den wir ihm schuldig sind in unserer eigentlichen Amtsarbeit!« – Dass aber der Stützpunktleiter alle Augenblicke sich der Kirchenglocken zum nationalen Festläuten bemächtigen will, 143 den kirchlichen Jugendgruppen das Existenzrecht streitig macht, von den kirchlichen Körperschaften Reverse144, die er nur bedingt unterschreibt, gefordert werden, das und noch viel mehr erfüllte ihn immer wieder mit Misstrauen. – Den »deutschen Gruß« hat er nie über seine Lippen gebracht, er konnte die »fromme Auslegung« 145 desselben nicht leiden. – Den Arierparagrafen als solchen, und im Besonderen im Raum der Kirche, lehnte er ab.146 Nur mit allergrößtem Missbehagen stellte er von nun an die arischen Nachweise147 aus, die im Dritten Reich jedem Dorfpfarrer so viel Zeit nahmen. Es bedurfte manchen Zuredens, dass er nicht einfach ablehnte, sie auszustellen, und sie gingen manchmal mit Zusätzen ab, z. B. der »Arier« solle seine ersten Eltern148 nicht vergessen!
Um P. S.s Verhalten einordnen zu können, ist es nötig, an einige Vorgänge zu erinnern, die im Frühjahr und Sommer des Jahres 1933 die evangelische Kirche in Deutschland und im Rheinland erschüttert haben. Das gilt auch für Ereignisse, die nicht sofort und direkt in sein Leben eingriffen. Sie sind der Hintergrund, aus dem heraus bald auch die Entwicklung seiner persönlichen Haltung zu verstehen ist.
Der Ruf nach starken Kirchenführern, unter deren Einfluss die Kirche sich erneuern würde, wurde immer lauter. Ungeklärt blieb dabei zunächst die Frage, ob eine erneuerte Kirche dem Staat gegenüber ihre Unabhängigkeit behaupten oder ob sie eine nationalsozialistisch orientierte Kirche werden solle. Vielen verschieden denkenden Christen gemeinsam war der Wille – der ja auch P. S. stark bewegt hat –, als evangelische Kirche bei der sittlichen Erneuerung des Volkes mitzuwirken.
Immer zahlreicher wurden die Anhänger der Glaubensbewegung »Deutsche Christen« (DC). Hatte P. S. genügend Gelegenheit, ihre »Theologie« wirklich wahrzunehmen? Oder ließ er sich zunächst nur von ihrem volksmissionarischen Eifer beeindrucken? Es gab im Frühjahr viele Anhänger dieser Bewegung, die relativ wenig durchschauten, was die Wortführer der DC bewegte: der Eifer für ein den NS-Staat nachahmendes »Führerprinzip in der Kirche«; für ein »artgemäßes« Christentum; für die »Schöpfungsordnungen« Volk, Rasse, Blut und Boden; für eine »natürliche«, d. h. aus der Natur herkommende Gotteserkenntnis. Nicht alle, die zu dieser Bewegung stießen, verklärten wie ihre »Führer« »die Stunde« der Machtergreifung Hitlers, durch die Gott zum deutschen Volk spreche. Nicht alle propagierten jenen »heldischen Jesus«, der germanische Art gegen »jüdische Hinterlist« verkörpere. Die wenigsten erkannten, wie sich hier uralter theologischer Antijudaismus mit dem rassistischen Antisemitismus der Nationalsozialisten verband. Nicht alle wollten das Alte Testament als ein »Judenbuch« durch die germanischen Heldensagen ersetzen und das Neue Testament in einer Säuberungsaktion »entjuden«149. Nicht alle stimmten ein in die selbstgerechte Ethik der »Söhne des Lichtes«, die gegen die »Söhne der Finsternis«, Juden und Bolschewisten, kämpften. Viele, die damals zu den DC stießen, durchschauten deren unbiblische Irrlehren zunächst wenig. Sie wollten schlicht dazu beitragen, dass die Kirche Jesu Christi im Volk ihren großen Auftrag wahrnehme und dass das Evangelium von Jesus Christus den Menschen des deutschen Volkes auch im Dritten Reich nahegebracht werde. Einig waren sich die DC lediglich im Wunsch, eine deutsche, »germanische« Nationalkirche zu schaffen mit einem starken Reichsbischof an der Spitze. Und darin, dass der Königsberger Wehrkreispfarrer Ludwig Müller150, der als der »Vertrauensmann des Führers« galt, dieses Amt erhalten müsse.
Um einen deutsch-christlichen Reichsbischof Müller zu verhindern, wählten die deutschen Landeskirchen am 23. Mai 1933 mit großer Mehrheit den im deutschen Volk hoch angesehenen Friedrich von Bodelschwingh151 zum Reichsbischof. Gegen ihn setzte freilich sehr bald eine immer stärkere Kampagne der DC und der NSDAP ein.
In dieser Situation griff – alle Rechte der Kirche missachtend – der Staat ein. Der preußische Ministerpräsident Hermann Göring ernannte den Landgerichtsrat August Jäger152 zum Staatskommissar »für den Bereich sämtlicher Landeskirchen Preußens«. Dieser löste sofort alle gewählten kirchlichen Gremien auf und ernannte für die sieben Landeskirchen in Preußen Bevollmächtigte, für das Rheinland den DC-Führer Landrat Dr. Krummacher 153. Reichsbischof von Bodelschwingh trat nach diesen Gewaltmaßnahen von seinem Amt zurück.
Krummacher übernahm, mit der braunen SA-Uniform bekleidet, mit einem »Sieg Heil« auf den Führer und Absingen des Horst-Wessel-Liedes154 die Führung des Konsistoriums der Rheinischen Kirche in Koblenz. Nun seien die kirchenpolitischen Auseinandersetzungen beendet, der Staat würde jetzt die Deutsche Evangelische Kirche neu aufbauen.155 Der rheinische Generalsuperintendent Stoltenhoff 156 meinte, den Eingriff des Staates rechtfertigen zu müssen. Viele Pfarrer folgten seinem Kurs der Anpassung, Widerstand sei zwecklos. In Massenveranstaltungen der DC erklärte Krummacher, der Eingriff des Staates sei aus Liebe zu Kirche und Volk geschehen. Er rief auf zum »Kampf für Kirche, Volk und Vaterland« und kündigte eine Säuberung der theologischen Lehrstühle der Universität Bonn an. Wer den Deutschen das Evangelium verkünden wolle, müsse »von ganzem Herzen Nationalsozialist sein«.157 Protest von Pfarrern gegen den staatlichen Eingriff sei »Verrat an der Kirche« und werde mit Dienstentlassung und Streichung der Pensionsbezüge geahndet.158 Tatsächlich ließ er einzelne Pfarrer, die aufbegehrten, verhaften und beurlauben.
Lang dauerte das Regime des Staatskommissars und seiner Helfer nicht. Der Protest verschiedener Landeskirchen war zu stark. Am 14. Juli wurde das Staatskommissariat Jägers und damit auch die Herrschaft Dr. Krummachers im Rheinland beendet. Aber es wurden – wieder gegen alles geltende Recht – vom Staat für den 23. Juli Kirchenwahlen angesetzt. Diese kurze Frist war »eine abenteuerliche Zumutung«159. Sie ließ den DC-kritischen Kräften keine Zeit, sich gegen die gut organisierte Glaubensbewegung DC zu formieren. In aller Eile versuchten ihre Gegner Wahllisten unter der Bezeichnung »Evangelium und Kirche« aufzustellen. In den allermeisten ländlichen Gemeinden – auch in Hochelheim – wurden freilich »Einheitslisten« aufgestellt, in denen die Kandidaten sich nicht kirchenpolitisch offenbaren mussten.
Dr. Joachim Beckmann160 lud für den 17. Juli zur Gründung einer »Rheinischen Pfarrbruderschaft« ein, die sich verpflichte, »Angriffe auf den Bekenntnisstand der Kirche durch entschlossenes Bekennen abzuwehren und für die einzutreten, die um solchen Bekenntnisses willen bedrängt werden«. Dieser 17. Juli 1933 war sozusagen der Geburtstag der »Bekennenden Kirche« im Rheinland.
Den Wahlkampf konnte diese Gründung nicht mehr wirklich beeinflussen. Die NSDAP, die Reichspropagandaleitung, die Gauleiter unterstützten die DC mit allen Mitteln. Gemeindeglieder wagten nicht mehr, gegen die DC zu kandidieren, weil sie sonst als »Verräter am nationalsozialistischen Staat« bedroht worden wären. An vielen Orten wurde gegen opponierende Gemeindeglieder Terror ausgeübt. Die Presse, auch die kirchliche, hetzte gegen sie. Hitler selbst griff noch am Vorabend der Wahl in den Wahlkampf ein und gab mit bedrängenden Worten seiner Hoffnung Ausdruck, dass die DC und damit jene neuen Kräfte gewählt würden, »die unsere neue Volks- und Staatspolitik unterstützen«. Ergebnis der Wahl: Etwa achtzig Prozent der Sitze in den Presbyterien fielen an die DC.
Wie stand nun in diesen folgenreichen Wochen P. S. zur Glaubensbewegung DC? M. S. berichtet:
Mitte Juli 1933 ist eine Kundgebung