Mama, ich höre dich. Alwin Meyer

Mama, ich höre dich - Alwin Meyer


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worden. Bis zu 1.000 Kinder, Frauen und Männer, manchmal auch mehr, mussten darin hausen.

      Anfang April 1941 wurden über 5.000 Juden von Oświęcim zwangsweise in Transporte gesteckt, die sie nach Sosnowiec, Będzin und Chrzanów brachten. Hier mussten sie in Ghettos hausen. Von dort wurden im Verlaufe vor allem der Jahre 1943 und 1944 die bis dahin noch am Leben gebliebenen Juden unter anderem in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Sehr wenige der ehemaligen jüdischen Einwohner der Stadt sollten die Shoah überleben. Die Eltern von Josef Jakubowicz, ein Großvater, seine drei Schwestern – zwei von ihnen verheiratet –, deren Männer und Kinder wurden alle ermordet. Nur Josef Jakubowicz wurde im April 1945 aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen befreit.18

      Auch waren katholische Polen von der Deportation bedroht. Die Einwohnerzahl der Stadt halbierte sich infolge der Verschleppungen im Frühjahr 1941 auf ungefähr 7.600 Einwohner. Davon waren etwa neunzig Prozent Polen sowie zehn Prozent Deutsche und »Deutschstämmige«. Bis Oktober 1943 sollten mehr als 6.000 »Reichsdeutsche« ihren Wohnsitz nach Auschwitz verlegen. Durch Industrialisierung einhergehend mit »Germanisierung« sollte die Bevölkerung im »Idealplan« vom Januar 1943 gar auf 70.000 bis 80.000 Menschen anwachsen. Das entvölkerte und beschlagnahmte Gebiet umfasste eine Fläche von vierzig Quadratkilometern. Das »Interessengebiet« wurde zum »Sperrgebiet« erklärt.19

      Ungefähr 10.000 sowjetische, als »Kriegsgefangene« deklarierte Jugendliche und Männer sollten das Lager Birkenau bauen. Ab Juli 1941 wurden sie nach Auschwitz deportiert und im »Stammlager« ab Oktober in einem abgetrennten Areal untergebracht. Unter diesen Gefangenen befanden sich 18 Jugendliche im Alter von 16, 17 und 18 Jahren sowie ein 15-jähriger Junge und zwei im Alter von elf Jahren. Die sowjetischen »Kriegsgefangenen« wurden fast alle ermordet. Am 1. März 1942 waren nur noch 945 von ihnen am Leben. Insgesamt kamen bis Ende Januar 1942 infolge von Erschießungen, Hunger, Erhängen, unmenschlich schwerer Arbeit, Krankheiten, Prügel, Erfrierungen und »Probevergasungen« mit dem Giftgas Zyklon B in Block 11 (zu diesem Zeitpunkt Block 13) und im Krematorium I des »Stammlagers« insgesamt 20.500 im Konzentrationslager Auschwitz registrierte Menschen ums Leben.20

      Auschwitz-Birkenau wurde zu dem Ort der zentralen Vernichtung der europäischen Juden durch Deutsche. Jüdische Kinder und ihre Familien wurden hierher seit den ersten Monaten des Jahres 1942 aus einem einzigen Grund verschleppt: Sie waren Juden. Schon in den ersten Transporten nach Auschwitz befanden sich Kinder, vor allem in den Transporten aus der Slowakei. 656 jüdische Jugendliche und Kinder wurden allein im Zeitraum vom 17. April bis 17. Juli 1942 nach Auschwitz-Birkenau verschleppt. Und in den weiteren Transporten aus der Slowakei waren viele Mädchen und junge Frauen. So trafen am 25. März 999 Jüdinnen aus Poprad im Lager ein: 116 im Alter von 16 und 17 und ein Mädchen im Alter von 14 Jahren.21

      Die Massenvergasungen mit Giftgas begannen im Frühjahr 1942 – in Auschwitz-Birkenau zunächst in zwei umgebauten Bauernhäusern mit Gaskammern: Bunker 1 (wegen der Ziegelsteinwände von den Entrechteten das »Rote Häuschen« genannt) und Bunker 2 (der wegen der verputzten Außenwände das »Weiße Häuschen« hieß). – Jüdische Häftlinge, das »Sonderkommando«, mussten zunächst die Leichen in Massengräbern verscharren, später diese wieder ausgraben und sie auf Holzstößen beziehungsweise in dafür ausgehobenen Gruben verbrennen. Dabei wurde das Leichenfett aufgefangen und zur Entfachung des Feuers verwendet. Mehr als 100.000 Leichen wurden von September bis Ende November 1942 ausgegraben. Die Asche der verbrannten Menschen wurde abgefahren und in die Weichsel und Soła gekippt. Die Spuren der Massenvernichtung sollten verwischt werden.22

      Yehuda Bacon: »Muselmann«. So wurden die halb verhungerten Menschen im Lager genannt. Sie waren dem Tod näher als dem Leben.

      Schließlich nahmen zwischen März und Juni 1943 vier weitere für den Massenmord errichtete Krematorien mit den darin befindlichen Gaskammern den »Betrieb« auf. Die Öfen hatte die Firma Topf und Söhne aus Erfurt eingebaut. In den insgesamt fünf Krematorien konnten jetzt innerhalb von 24 Stunden 4.756 Leichen verbrannt werden. Aussagen von Häftlingen des »Sonderkommandos« zufolge konnte die »Verbrennungsleistung« der Krematorien jedoch auf etwa 8.000 Leichen pro Tag »gesteigert« werden.23

      Ab 1942 endeten die Transporte der zur Massentötung vorgesehenen Menschen auf einem Gleis beim Güterbahnhof, etwa zwei Kilometer von Auschwitz-Birkenau entfernt. Ab Mai 1944 führte ein Gleis direkt in das Lager und brachte die verschleppten Menschen bis in die Nähe der Krematorien II und III.24 Hier nahmen vor allem SS-Ärzte die Selektionen vor. Sie alle dienten »nahezu ausschließlich der Ausrottung der Häftlinge«. Aber auch Apotheker, Sanitäter und Zahnärzte nahmen Selektionen vor.25 Die nach ihrer Meinung zur »Arbeit Tauglichen« und deshalb vorläufig am Leben gelassenen wurden von den Alten und Invaliden, von Schwangeren und Kindern getrennt. Nach willkürlichem Ermessen stufte man etwa achtzig Prozent der Menschen, aber auch nach wie vor ganze Transporte als »arbeitsunfähig« ein. Unter Bewachung wurden die Menschen zu Fuß oder auf Lastwagen von der SS zu einem der Krematorien gebracht, wo sie sich ausziehen mussten. Unter dem Vorwand, geduscht zu werden, brachte man sie in als Duschräume getarnte Gaskammern, wo die Eingeschlossenen durch das eingeworfene Giftgas Zyklon B einen ungefähr zehn bis zwanzig Minuten dauernden qualvollen Erstickungstod erleiden mussten. Ihre Leichen mussten vom »Sonderkommando« in den Krematorien und in ausgehobenen Erdgruben verbrannt werden.26

      Das Furchtbarste vom Furchtbaren, die Arbeit in den Krematorien mit den Vergasungsanlagen sowie an den Scheiterhaufen und Verbrennungsgruben, mussten die Männer des »Sonderkommandos« unter Zwang der SS »ausführen«. Dabei handelte es sich um Juden, die von den anderen Häftlingen in Auschwitz-Birkenau streng isoliert untergebracht waren. Die SS zwang die Männer des »Sonderkommandos« unter Todesandrohung, den toten Frauen die Haare abzuschneiden, den Vergasten die Goldzähne herausbrechen und die Leichen nach möglicherweise versteckten Wertsachen zu durchsuchen. Danach mussten sie die Ermordeten zu den Verbrennungsöfen schleppen und in die Öfen schieben und schließlich, immer den eigenen Tod vor Augen, die nicht vollständig verbrannten Knochen zertrümmern, die Asche abfahren und in die Flüsse Soła und Weichsel kippen – immer unter von der SS ausgeübter psychischer und körperlicher Gewalt.27

      See in Auschwitz-Birkenau, vollgeschüttet mit der Asche von unzähligen getöteten Neugeborenen, Kindern, Frauen und Männern.

      »Wir [vom Sonderkommando] waren die einzigen«, so JAACOV GABAI (Häftlingsnummer 182569), »die die Tragödie der Juden mit eigenen Augen sahen.«28 Als Zeugen der Massenvernichtung und »Geheimnisträger« wurden Männer des »Sonderkommandos« regelmäßig ermordet und durch andere Häftlinge ersetzt.29 So blieben von den ungefähr 2.000 jüdischen Männern des »Sonderkommandos« lediglich etwa 110 am Leben.30

      Auch der erst 14-jährige Yehuda Bacon aus dem tschechischen Ostrava sah das Innere der Krematorien mit eigenen Augen. Er war in Auschwitz-Birkenau dem »Rollwagen-Kommando« zugeordnet. Anstatt Pferde zogen Kinder und Jugendliche die Wagen. Sie mussten Decken, Wäsche, Holz und auch Asche der verbrannten Kinder, Frauen und Männer transportieren. Sie kamen im Lager herum.

      Eines Tages sollten sie von den Krematorien Holz zum Heizen in das »Männerlager« holen. Es war Winter, und einer der Häftlinge vom »Sonderkommando« für die Krematorien sagte zu ihnen: »Jungs, weil ihr so schnell aufgeladen habt, könnt ihr euch ein bisschen wärmen, geht in die Gaskammer. Jetzt ist niemand da.« Einige der Kinder gingen in die Gaskammer im Krematorium II. Der Junge fragte die Häftlinge vom »Sonderkommando«, was »in den Krematorien vor sich [geht]?«: »Erzählen Sie es mir doch! Vielleicht komme ich einmal heraus, und dann werde ich über euch schreiben.« Die Entrechteten des »Sonderkommandos« lachten und sagten: »Niemand von uns kommt hier heraus«, zeigten ihm und den anderen Kindern und Jugendlichen aber trotzdem »den Ort der Vernichtung«.

      Mit der Neugier von Kindern sahen sie sich alles ganz genau an. Yehuda Bacon: »Wir gingen in die Entkleidungskammer, und dort waren Haken mit Nummern.« – Der


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