Mama, ich höre dich. Alwin Meyer

Mama, ich höre dich - Alwin Meyer


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Frauen und Kinder unseres Transportes auf direktem Weg, cirka zwanzig Minuten nach ihrer Ankunft in Birkenau, in der Gaskammer verschwanden.«11 Die zurückbleibenden Männer wurden von »einem SS-Arzt flüchtig abgemustert, und die älteren Männer und die schwächlicheren wurden wiederum von den kräftigeren abgesondert.« Die als vorläufig »arbeitsunfähig betrachteten Männer erlitten dasselbe Schicksal« wie die Frauen und Kinder. »Unter diesen war auch mein fünfzehnjähriger Stiefbruder.«12 – Espen Søby hat die Lebensgeschichte von Kathe Lasnik in seinem Buch »Kathe – Deportiert aus Norwegen« rekonstruiert. Darin wird auch der Abschiedsbrief des Mädchens, den sie ihrer Klasse noch hatte schreiben können, wie folgt zitiert: »Danke für alles: Nun werden wir uns nicht mehr sehen. Heute Nacht wurden wir verhaftet.«13

      Nach der Befreiung wurde im ehemaligen Lager unter anderem der leere Koffer von Peter Perls aus Hamburg gefunden. Im Oktober 1944 war er nach Auschwitz deportiert und im Alter von 13 Jahren ermordet worden.

      Im März 1943 wurde die Sinto-Familie Adler aus dem »Zigeunerlager« Kruppstraße in Frankfurt am Main, in das sie im Herbst 1942 eingewiesen worden war, mit Viehwaggons abtransportiert. HERBERT ADLER war 14 Jahre jung. »Sechzig bis achtzig Personen wurden in einen Wagen gestopft.« Sie bekamen etwa zwei Tage lang weder zu essen noch zu trinken. »Dann wurde unterwegs mal angehalten. Wir bekamen etwas Brot und Wasser. Aber es gab keine Möglichkeit auszutreten. Jeder muss aber mal. Das haben wir dann im Waggon gemacht. Das ging nicht anders.« In Auschwitz-Birkenau kamen sie geschlossen in einen Lagerabschnitt, ohne Selektion, was ungewöhnlich war. Herbert bekam die Nummer Z-2784 auf den linken Unterarm tätowiert.

      Am 20. März 1943 erreichten 2.800 jüdische Kinder, Frauen und Männer in Viehwaggons aus Thessaloniki (Griechenland) unfreiwillig Auschwitz.14

      Unter ihnen befand sich HEINZ SALVATOR KOUNIO. Er war 15 Jahre alt. Der Junge hatte gerade begonnen, sich ein zukünftiges Leben vorzustellen. »Meine Seele war noch unbeschädigt. Das sollte brutal zerstört werden.« – Noch in der ersten Nacht wurde Heinz von seiner Mutter und Schwester getrennt, sein Vater blieb bei ihm. Im Wesentlichen mussten sie von ein wenig Brot und einer kargen Suppe ihr Dasein fristen. Oft legten sie sich hungrig schlafen, besser gesagt, sie versuchten es unter den extrem menschenfeindlichen Umständen.

      Heinz Salvator dankte Gott jeden Tag, dass er und sein Vater den neuen Tag erleben durften. Auf der anderen Seite war der Junge verzweifelt. Denn er und seine Mithäftlinge hörten oder sahen täglich widerliche Dinge. Und immer wenn der Appell länger als gewöhnlich dauerte, war sein Herz wie erstarrt. In solchen Momenten fragte er sich: »Wird es wieder eine Selektion geben? Werde ich aussortiert? Mein Vater? Oder werden wir beide gleichzeitig für die Gaskammer bestimmt?« Um Platz für »unverbrauchte, frische« Menschen zu schaffen, verging nämlich kein Tag ohne neue Selektionen. Heinz überlebte insgesamt sieben Selektionen. Bei der letzten war er aufgrund der Hungerrationen und Lebensumstände völlig ausgezehrt und schwach. »Voller unbeschreiblicher Angst.«

      Am 7. Oktober 1943 wurden 1.196 jüdische Kinder und 53 Betreuer aus Theresienstadt »überstellt« und noch am selben Tag in Auschwitz-Birkenau vergast. Diese Kinder kamen am 24. August 1943 aus dem Ghetto in Białystok (Polen) nach Theresienstadt. Zu diesem Zeitpunkt umfasste die Gruppe noch etwa 1.200 Kinder. IZIO TROFIMOWSKI, das jüngste Kind, war kaum vier Jahre alt. Auf dem Weg nach Theresienstadt wurden zwanzig erwachsene Begleiter und drei Frauen mit ihren Kindern nach Auschwitz umgeleitet und dort vergast. Die nach Theresienstadt gelangten Kinder wurden, streng getrennt von den anderen Insassen des Lagers, in speziellen Baracken außerhalb des Ghettogeländes untergebracht. Die SS teilte 53 Betreuerinnen und Betreuer, die sich bereits in Theresienstadt befanden, den Kindern zu.15

      H.G. Adler, der im Februar 1942 in das Lagerghetto Theresienstadt und im Oktober 1944 nach Auschwitz deportiert worden war, erinnerte sich – als Chronist für die Ereignisse in Theresienstadt – nach seiner Befreiung: »Bald nach ihrer Ankunft wurden die Kinder, die in ihrer Heimat Białystok bereits das ganze Judenleid im Osten erfahren hatten, gruppenweise ins Desinfektionsbad geführt, wo sich beängstigende Szenen abspielten. Die Kinder wussten von Gaskammern und wollten die Baderäume nicht betreten, sie schrien verzweifelt: ›Nicht, nicht! Gas!‹«16 In Białystok hatten die Kinder gehört, es gäbe Gaskammern, die als Duschräume getarnt seien. Häftlinge, die aus dem Todeslager Treblinka geflohen waren, hatten diese Nachricht im Ghetto von Białystok bekanntgemacht.17

      In Theresienstadt verbreitete sich trotz aller Geheimhaltung das Gerücht, die Kinder aus Białystok seien für eine »Austauschaktion« vorgesehen. Ihr Ziel sei Palästina oder die Schweiz. Dafür sprach, dass die Kinder doppelte Mahlzeiten, neue Schuhe und Anziehsachen bekamen. Und die Tatsache, dass die 53 Betreuerinnen und Betreuer sich schriftlich verpflichten mussten, »keine Gräuelgeschichten zu verbreiten«. Die Kinder erholten sich sichtlich. Nach sechs Wochen stand für sie und ihre Betreuerinnen und Betreuer die Zwangsabreise bevor. Aber anstatt ins Ausland, ging ihr Transport am 5. Oktober 1943 direkt in die Gaskammern von Auschwitz-Birkenau. Offenbar hatte zu keinem Zeitpunkt vonseiten Nazi-Deutschlands die Absicht bestanden, die jüdischen Kinder am Leben zu lassen.18

      21. April 1944: Mit einem Transport aus Hamburg trifft das achtjährige Sinti-Mädchen ELSE SCHMIDT in Auschwitz-Birkenau ein.19 Ihr Hamburger Pflegevater Emil Matulat hatte ein Jahr zuvor die Deportation des Mädchens noch erfolgreich verhindern können. Jetzt ist Else ganz allein. Die Türen des Viehwaggons werden in Auschwitz aufgerissen. »Empfangen« werden das Mädchen und die anderen Deportierten mit ohrenbetäubendem Gebrüll: »Schnell, schnell, schnell!« Der Viehwaggon ist sehr hoch. Runterzuspringen traut sich Else nicht. Wäre sie ohne Koffer gewesen, hätte sie sich auf die äußerste Kante des Waggons setzen und runterspringen können. »Das ging aber wegen des Koffers nicht. Ich hatte Angst, der Koffer würde, wenn ich ihn herunterwarf, hart auf den Boden aufkommen, dabei aufplatzen: und meine säuberlich darin von meiner Pflegemutter liebevoll eingepackte beste Kleidung würde auf den dreckigen Boden fliegen.« Das Mädchen »war voller Angst«, was erwartete sie hier? Niemand half ihr. Schließlich sprach eine Sintizza sie an und sagte zu ihr: »Lass den Koffer stehen.« All die schönen Sachen blieben da, auch die so sehr von ihr geliebten weißen Skistiefel. Später sah sie, wie ein anderes Mädchen diese trug. – Was folgte, waren »Sauna«, Desinfektion und Tätowierung. »Zum ersten Mal sah ich nackte Erwachsene, schämte mich sehr.« Auch Else musste sich splitternackt ausziehen, ihre Kleider auf einen Haufen mit den Kleidern der anderen Entrechteten legen. Nach der Desinfektion suchte sie in dem Kleiderhaufen lange nach den eigenen Sachen, fand sie aber nicht. Nichts bekam sie wieder. Es blieben ihr nur ein durchlöcherter Schlüpfer und ein dünnes Sommerkleid.

      ROBERT JOSCHUA BÜCHLER berichtete über seine Ankunft in Auschwitz-Birkenau im Herbst 1944: »Männer in gestreifter Häftlingskleidung stiegen in den Waggon. Mein Vater stand neben mir bewegungslos in der Mitte des Waggons. Plötzlich flüsterte mein Vater einem der Burschen zu: ›Junge, sag mal, wo sind wir eigentlich?‹ Der Bursche musterte meinen Vater und dann flüsterte er ihm zu: ›Im Konzentrationslager.‹ Mein Vater hielt ihn am Ärmel fest: ›Wie heißt das Lager?‹ Der Bursche schwieg. Er zögerte, doch dann hörte ich ihn in das Ohr meines Vaters flüstern: ›Hast du je von Auschwitz-Birkenau gehört?‹ Seine Hand, die mich hielt, fing an zu zittern. So kannte ich meinen Vater gar nicht.« – Jetzt erinnerte sich Robert: Kurz bevor sie abgeholt wurden, waren Postkarten von zwei jüngeren Brüdern seines Vaters aus dem »Arbeitslager Birkenau« bei ihnen zu Hause angekommen. Während es Juden in Auschwitz sonst verboten war zu schreiben, mussten sie es zu bestimmten Zeiten auf Befehl der SS sogar. Sie mussten sinngemäß schreiben: »Mir geht es gut!« Als Absenderangabe war vorgeschrieben: »Arbeitslager Birkenau bei Neu-Berun.« Der Name Auschwitz sollte nicht vorkommen, auch nicht im Poststempel. Die Karten wurden in Berlin abgestempelt.20 Zur Täuschung der in den Heimatorten noch zurückgebliebenen letzten Juden. Auch sie sollten später nahezu noch alle deportiert werden.

      Die 14-jährige DAGMAR FANTLOVÁ traf mit einem Zwangstransport, in dem sich auch ihre jüngere Schwester und ihre Eltern befanden, am 16. Dezember 1943 in Auschwitz ein. Zu Fuß mussten sie vom Güterbahnhof in Auschwitz nach Birkenau gehen. Es


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