Mama, ich höre dich. Alwin Meyer

Mama, ich höre dich - Alwin Meyer


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Familienlager«. Das Gepäck musste zurückbleiben. »Verschiedene Leute aus dem vorherigen Transport kamen zu uns. Eine Frau wollte, dass ich ihr meinen Pullover gebe. Ich weiß nicht mehr, ob es eine Bekannte meiner Mutter war, aber wir gaben ihr verschiedene Sachen.« Sie mussten in einen anderen Block zum Tätowieren gehen. Als sie dort in einer langen Schlange warteten, kam eine Bekannte zu Dagmars Mutter und sagte: »Wissen Sie schon, dass Frau Reitmanová Witwe ist?« Irena Fantlová erschrak. Es war von ihrem Bruder die Rede. »Aber das hatte die Frau nicht gewusst.« Er war bereits im September 1943 mit einem Transport von Theresienstadt nach Birkenau verschleppt worden.

      Dagmar bekam die Nummer 70788 eintätowiert. Als sie aus der Baracke traten, sagte jemand zu ihnen: »Wer schon eine Nummer hat, der bleibt im Lager.« Sie wussten nicht, was das bedeutet. Danach mussten alle in die »Sauna«. Eine Frau sagte: »Hoffentlich kommt ihr wieder zurück.« Das war unverständlich für die Neuankömmlinge. In der »Sauna« dauerte es lange. Dagmar hatte Durst. »Ich trank aus einem Wasserhahn. Und dann sah ich die Aufschrift: ›Trinken verboten – Seuchengefahr‹.« Sie mussten alles ausziehen. Stattdessen bekamen sie Kleidung, die eher Lumpen glich. Dagmars Mutter »meldete« sich bald nach ihrer Einlieferung ins »Familienlager« zum Austragen der Toiletten-Kübel. Wer das machte, bekam etwas mehr Suppe. »Ich habe ihr mehrmals am Tag geholfen. Das war sehr unangenehm. Aber ich habe es getan.«

      Während es Juden in Auschwitz sonst verboten war zu schreiben, mussten sie es zu bestimmten Zeiten auf Befehl der SS sogar, insbesondere im »Theresienstädter Familienlager«. Sie mussten sinngemäß schreiben: »Mir geht es gut!«, so haben es unter anderem Dagmar Lieblová (geborene Fantlová) und Yehuda Bacon berichtet. Damit versuchten die Nazis die Legende von »der Umsiedlung der Juden« aufrechtzuerhalten. Dagmar schrieb an Fany Holická, das ehemalige Dienstmädchen ihrer Großeltern. Sie unterzeichnete mit »Danka«, ihrem Kosenamen. Die Postkarte blieb erhalten.

      Auch Dagmar musste Postkarten mit unverfänglichem, positivem Inhalt schreiben. Die Schriftstücke wurden von der SS zensiert und im Zweifelsfall nicht versandt. – Die Karte, die Dagmar am 8. Januar 1944 an Fany Holická, das ehemalige Dienstmädchen ihrer Großeltern, schrieb, erreichte die Adressatin und blieb bis heute erhalten: »Wir denken mit Sehnsucht an alle. Was macht Tante Janu Stryhal und Cukrs? Sie sollen oft schreiben, auch Du, liebste Fanynka. Wir erwarten alle Nachrichten mit Sehnsucht. Ich wohne mit Mutti und Ita [Kosename ihrer Schwester] beisammen […]. Auch mit Vater sind wir täglich [zusammen]. Mit Sehnsucht erwarten wir von Janu und Euch allen Nachricht. Recht viele Küsse.«

      LYDIA HOLZNEROVÁ war gerade 14 Jahre alt geworden, als Deutsche sie gemeinsam mit ihrer sieben Jahre älteren Schwester Vera, Mutter Růžena und Vater Emil Ende 1943 nach Auschwitz verschleppte. Freunde hatten ihrem Vater, er war Direktor der Schule von Hronov, einer kleinen Stadt im tschechischen Ostböhmen, vor dem befürchteten Einmarsch deutscher Truppen am 15. März 1939 geraten: »Gehen Sie weg! Bleiben Sie nicht hier!« Darauf hatte Emil Holzer immer wieder gesagt: »Ich kenne die Deutschen. Das ist ein Kulturvolk. Die werden sich schon nicht so schlimm benehmen.«

      In Auschwitz-Birkenau wurde die Familie Holzner auch ins »The-resienstädter Familienlager« getrieben. Lydia klagte ihrer Mutter eines Tages ihr Leid: »Ich habe Hunger.« – »Was soll ich tun? Du weißt, dass ich dir nicht helfen kann. Geh und trink etwas Wasser.« Gegen Abend kam eine Frau auf Lydia zu und schimpfte mit ihr: »Komm nie wieder mit einer solchen Bitte zu deiner Mutter. Sie hat Sorgen genug. Das ist zu viel.« Einmal erzählte die 14-Jährige ihrer Mutter, dass sie gesehen hatte, wie ein verzweifelter Mann »in den elektrischen Zaun ging«. – »Das ist kein Held«, antwortete die Mutter. »Heldentum ist, zu leben und zu überleben.«

      Essnapf aus Auschwitz-Birkenau. Auch für die Kinder gab es ausschließlich Hungerrationen.

      Ihre Mutter, Růžena Holznerová, musste in Birkenau verschiedene Arbeiten verrichten, zu denen ihr sechzigjähriger Ehemann nicht mehr in der Lage war. »Er hat die Verhältnisse in Birkenau kaum ertragen können. Zuerst baute er geistig, dann körperlich ab. Binnen einer sehr kurzen Zeit alterte er zum Greis.« Er wurde im Juli 1944 in Auschwitz vergast.

      Ein Name, der in den Schilderungen der wenigen überlebenden Kinder immer wieder auftaucht, ist FREDY HIRSCH. Er hatte sich schon als Häftling im Lagerghetto Theresienstadt als Leiter der »Jugendfürsorge« für die Kinder eingesetzt. Auch in Auschwitz-Birkenau unternahm er alles, was in seiner Macht stand, um die Haftbedingungen der Kinder zu verbessern. Auf seine Initiative war vor allem zurückzuführen, so haben es unter anderem Dagmar Lieblová und Lydia Holznerová geschildert, dass Kleinkinder unter Aufsicht einiger Frauen im Block 29 und Acht- bis Sechzehnjährige im Block 31 des »Theresienstädter Familienlagers« tagsüber untergebracht werden durften. Von einem »Madrich«, einem Erzieher, waren sie in Gruppen zusammengefasst. Er erzählte ihnen unter anderem Geschichten, brachte ihnen Mathematik bei und sang Lieder mit ihnen. Fredy Hirsch war es irgendwie gelungen, für den Block 31 eine kleine »Bibliothek« einzurichten, obwohl es in Auschwitz verboten war, Bücher zu besitzen. Die Auswahl war sehr klein. Die Kinder lasen die Bände mehrmals: H. G. Wells’ »Die Weltgeschichte«, ein Buch über Einführung in die Psychoanalyse, »Die Traumdeutung« von Sigmund Freud und ein paar Kinderbücher. Tagsüber durften jetzt auch Dagmar und Lydia in einen der »Kinderblocks« gehen. Eine ihrer Betreuerinnen war Lydias Schwester Věra.

      Else Schmidt (Mitte) mit ihrer Adoptivmutter Auguste Matulat und deren Töchtern in Hamburg. Das achtjährige Mädchen wurde der Familie weggenommen und nach Auschwitz-Birkenau verschleppt.

      Die Realität des Lagers blieb keinem Kind verborgen. Auch der achtjährigen ELSE SCHMIDT nicht. Sie bekam die Nummer Z 10540 auf ihren linken Unterarm tätowiert. Else kam ins »Zigeuner-Familienlager«: »Ich war völlig auf mich alleine gestellt. Ich kam in Auschwitz-Birkenau ja ohne Familie an. Alles war furchtbar. Ich verstand gar nichts von dem, was mit mir und um mich herum geschah.« – Was Else sah und erlebte, hatte sie noch nie zuvor erlebt oder gesehen. »Ich kam doch aus einem guten Haushalt.« Sie, die heute Else Baker heißt und in der Nähe von London lebt, erinnert sich auch jetzt noch ganz genau daran: »Die Baracken waren furchtbar voll. So viele Menschen hatte ich noch nie auf einmal gesehen. Manche waren ganz mager, sahen wie richtige Skelette aus und hatten ganz tiefe Augen.« Das Mädchen fühlte sich »unendlich verlassen und allein«. »Das waren doch alles Fremde für mich. Meine Verstörung bekamen einige Sinti-Frauen mit. Sie holten Wanda.« Die junge Frau war ein sogenannter Funktionshäftling, also auch eine Gefangene, die von der SS für bestimmte Aufgaben »eingesetzt« wurde, was in der Regel einherging mit etwas besseren Haftbedingungen, aber keine Gewähr für das Überleben war. – Wanda Fischer, so ihr Name, sagte zu Else: »Komm jetzt mit.« Das machte das Mädchen. Sie sei weder ängstlich noch zutraulich gewesen. »Ich fühlte nichts. Ich war in einem ganz tiefen Schockzustand. Wanda nahm mich mit in ›ihre‹ Baracke. Sie kümmerte sich um mich. Ohne die Hilfe von Wanda hätte ich nicht überlebt. Schon alleine der Schock hätte mich getötet. Im Lager Birkenau traf ich auch meine leiblichen Geschwister, die ich wissentlich zuvor noch nie gesehen hatte.«

      Am 2. und 3. August 1944 wurde das »Zigeuner-Familienlager« mit der Ermordung von 4.200 bis 4.300 Kindern, Frauen und Männern »aufgelöst«.22 Else wurde zusammen mit ihrer zweijährigen leiblichen Schwester Rosemarie einige Stunden zuvor am 2. August im Viehwaggon nach Ravensbrück transportiert. »Nur wir beide blieben am Leben. Meine anderen Geschwister und meine Mutter wurden, wie ich später erfahren habe, alle ermordet.«

      Else, alle Kinder und Jugendlichen in Auschwitz befanden sich Tag und Nacht in höchster Alarmbereitschaft. Sie wussten: Jedes Verhalten konnte drakonische Strafen nach sich ziehen, konnte den sofortigen Tod bedeuten. Alle wussten: Du musst mächtig auf der Hut sein! Das wusste auch der 15-jährige EDUARD KORNFELD, der im Sommer 1944 aus dem slowakischen Veľký Meder nach Auschwitz-Birkenau


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