Mit Gott die Welt verändern. John Eldredge

Mit Gott die Welt verändern - John Eldredge


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würde ihm einen Besuch beim Therapeuten empfehlen.

      Aber erinnern wir uns: Die Bibel nennt David einen „Mann nach Gottes Herzen“. Gott war es, der ihn zum König salben ließ; Gott sorgte dafür, dass seine Gebete in der Heiligen Schrift überliefert wurden. Diese Psalmen sind der Kirche gegeben, damit sie unser Gebetbuch sind, unsere Fibel des Betens – und sie sind wunderschön. Sie versichern uns nicht nur, dass Gott sehr wohl in der Lage ist, mit der ganzen Bandbreite unserer Emotionen zurechtzukommen; nein, Gott lädt uns durch diese Texte geradezu dazu ein, ihm das alles zu bringen.

      Es gab noch jemanden, der diese Lektion sehr gut gelernt hat; ein Mann aus der davidischen Linie, der seine Gebetsfibel offensichtlich gründlich studiert hat. Die ungezügelte Kraft der Psalmen klingt uns auch aus den Gebeten von Jesus entgegen. So beschreibt eine versteckte Bemerkung im Hebräerbrief, wie Jesus betet: „Als Christus hier auf der Erde war – ein Mensch von Fleisch und Blut –, hat er mit lautem Schreien und unter Tränen gebetet und zu dem gefleht, der ihn aus der Gewalt des Todes befreien konnte“ (Hebräer 5,7).

      „Mit lautem Schreien und unter Tränen“. Wenn ich bete, klingt es anders; lautes Schreien vermeide ich und Tränen fließen auch nur höchst selten. Aber hier haben wir Jesus – den besten Menschen, den es je gab, „menschlicher als die Menschheit“, wie G. K. Chesterton gesagt hat.8 Und so hat er gebetet. Ich glaube nicht, dass Gethsemane die einzige Gelegenheit war, bei der die Jünger miterlebt haben, dass er so gebetet hat. Wir haben auch den Bericht über Jesus am Grab des Lazarus. Aber natürlich denken wir zuerst an den Ölgarten und das nächtliche Gebet, das Jesus dort an seinen Vater richtet:

      Jesus kam nun mit seinen Jüngern an eine Stelle am Ölberg, die Getsemane genannt wird. Dort sagte er zu ihnen: „Setzt euch hier und wartet! Ich gehe noch ein Stück weiter, um zu beten.“ Petrus jedoch und die beiden Söhne des Zebedäus nahm er mit. Traurigkeit und Angst wollten ihn überwältigen, und er sagte zu ihnen: „Meine Seele ist zu Tode betrübt. Bleibt hier und wacht mit mir!“

      Er selbst ging noch ein paar Schritte weiter, warf sich zu Boden, mit dem Gesicht zur Erde, und betete: „Mein Vater, wenn es möglich ist, lass diesen bitteren Kelch an mir vorübergehen! Aber nicht wie ich will, sondern wie du willst.“ …

      Der Kampf wurde so heftig, und Jesus betete mit solcher Anspannung, dass sein Schweiß wie Blut auf die Erde tropfte (Matthäus 26,36-39; Lukas 22,44).

      Es ist mir fast peinlich, wie „formell“ mein Gebetsleben dagegen geworden ist, wie vorsichtig. Wenn ich die Psalmen lese oder Jesus anschaue, wird mir klar: Ich erlaube mir gar nicht, wirklich alle meine emotionalen Höhen und Tiefen im Gebet vor Gott auszubreiten – als müsse ich Gott vielleicht vor den enormen Abgründen meiner Gefühlswellen in Schutz nehmen. Aber auch in meinem Leben gab es Zeiten, in denen meine Gebete eher so klangen wie die von David oder von Jesus.

      Ein sehr guter Freund von mir kam bei einem Unfall ums Leben. In der folgenden Zeit waren meine Gebete nicht vorsichtig, zurückhaltend. Einmal habe ich ein Loch in die Küchenwand getreten, während ich betete. Aus Sorge, das ganze Haus würde einfallen, wenn ich weitermachte, habe ich mir einen Baseballschläger aus der Garage geholt und beim Beten auf einen großen Plastikmülleimer eingedroschen: „Was denkst du dir dabei?“ Ich habe geschrien, die Tränen flossen in Strömen. „Wie konntest du das zulassen?“ (Bei geschlossener Tür, wohlgemerkt, um die Nachbarn nicht zu alarmieren.) Es waren ohne Zweifel die ehrlichsten Gebete meines Lebens.

      E. M. Bounds, der legendäre Gebetskämpfer aus dem 19. Jahrhundert, schrieb: „Der ganze Mensch muss beten. Der ganze Mensch – Leben, Herz, Temperament, Geist, alles betet mit … es braucht wirklich das ganze Herz, wenn man wirksam beten will.“9 In jenen Gebeten in der Garage steckte wirklich „der ganze Mensch“. Sie waren der Aufschrei meines Herzens.

      Aber im Lauf der Jahre wurde mein Gebetsstil lascher. Ich wurde … ja was? Ehrfurchtsvoller? Vorsichtiger? Es scheint mir fast albern, das hier zu schreiben, aber ich betete nicht mehr laut und ungestüm und auch nicht mehr tränenreich. Aber dann wurde mir klar: Wenn Gott mit Davids Gefühlsausbrüchen zurechtgekommen war, konnte er es mit meinen wohl auch. (Unter uns, ich glaube, viele von uns denken, sie sollten besser das meiste von dem verstecken, was wirklich in ihnen los ist, wenn sie zu Gott kommen. So wie Kinder, wenn die Mutter ruft, versuchen, den Unfug zu vertuschen, den sie angestellt haben, auch wenn Mama schon längst die zerrissenen Hosen gesehen hat. Als ob Gott nicht schon längst wüsste …)

      Also fing ich an, wieder unzensiert zu beten, meine Worte einfach aus dem Herzen kommen zu lassen. Und das war ein wirklich guter Schritt. Nicht nur deswegen, weil ich mich wieder sehr viel mehr mit Gott verbunden fühlte, von Herz zu Herz, sozusagen, sondern auch, weil meine Gebete eine neue Vollmacht hatten. Die Väter nannten so etwas „Salbung“; das Wort bedeutet so viel wie Vehemenz, Wucht, Durchschlagskraft, Schmackes. Diese Gebete hatten Schmackes.

      Jetzt muss ich aber rasch noch eines hinzufügen: Der Aufschrei des Herzens muss durchaus nicht nur aus Verzweiflung und Kummer erwachsen. Nein, Sorgen und Probleme sind nicht der Hauptanlass für diese Art des Betens. Freude und Jubel können ebenfalls lautstarken Ausdruck finden:

      Ihr Völker auf der ganzen Welt, klatscht in die Hände!

      Lobt Gott und lasst euren Jubel laut hören! (Psalm 47,2).

      Jubel soll über meine Lippen kommen,

      wenn ich ein Lied für dich anstimme.

      Auch meine Seele, die du erlöst hast, jubelt dir zu (Psalm 71,23).

      Kommt, lasst uns dem Herrn zujubeln,

      ihm laut unsere Freude zeigen,

      dem Fels, bei dem wir Rettung finden (Psalm 95,1).

      In vielen Psalmen finden wir den Aufruf, einen „fröhlichen Lärm“ für Gott zu machen, mit „Jubelschall“ seinen Ruhm zu verkünden. Klingen Ihre Gebete danach? Wir dürfen ruhig ein wenig lautstark sein; es bringt uns dem Beten von Jesus näher.

      Vielleicht beten Sie ja bereits so – etwa, wenn plötzlich eine wirklich gute Nachricht eintrifft; wenn die gefürchtete Diagnose sich nicht bestätigt; wenn der Karrieresprung gelungen ist; wenn Sie eine Skipiste hinuntersausen, ihr Segelboot durch die Wellen gleitet oder Sie auf der Achterbahn auf Talfahrt gehen. Yippie! Ein Juchzer. Ihnen war nur noch nicht klar, dass der Gott galt. Aber auch das war ein Aufschrei des Herzens und Gott freut das. Ich bin mir sicher: Gott samt all seinen Engeln stimmen aus vollem Herzen ein.

      Seit Stacy und ich die vorsichtigen, gemäßigten Gebete einer gesitteten Gemeinde hinter uns gelassen haben, ist die Dezibelzahl, die aus unserem Haus dringt, wenn wir worshippen, in den letzten Jahren beständig gestiegen. Beim Lobpreis drehen wir voll auf; und spontane Juchhus, Begeisterungsrufe und Hallelujas sind an der Tagesordnung. (Die Nachbarn müssen denken, wir sind übergeschnappt.)

      Den Aufschrei des Herzens kann man nicht „organisieren“, man muss ihn nicht üben, nicht einmal lernen. Er braucht keine religiöse Sprache. Man muss nicht knien, nicht die Augen schließen (und das ist sehr gut so, denn ich bete meistens im Auto oder wenn ich in der Natur unterwegs bin). Nichts an diesem Gebet muss korrekt sein; im Gegenteil: Tun Sie besser alles, was Sie können, um das Formale und Korrekte hinter sich zu lassen.

      Alles, was Sie tun müssen, ist: es zulassen. Dieses Gebet steckt bereits in Ihrem tiefsten Herzen.

      Und jetzt noch ein warnendes Wort: Seien wir wachsam, dass unser Herzensaufschrei – besonders, wenn er aus großer Not he­raus erfolgt – sich nicht unbemerkt in einen Pakt mit Verzweiflung oder Verlassenheit verwandelt, indem wir den Lügen zustimmen, die der Feind uns einflüstert. „Vater, ich fühle mich verlassen“ darf nicht zur Überzeugung werden: „Ja, ich bin verlassen.“ Es erleichtert unser Herz, wenn wir unserem Kummer Luft machen; aber in diesen postmodernen Zeiten, wo das Nebenmotiv von Leid und Trostlosigkeit anscheinend unsere Hauptmelodie geworden ist, setzen wir uns allzu schnell auf der Insel der Verzweifelten fest und nennen das dann „Authentizität“. Die Gefühle sind da, ohne Frage, und sie sind wichtig. Aber Gefühle sind kein sicherer Hafen für unsere Seele. Gerade in Zeiten voller Leid und Sorgen ist der Feind immer auf dem Plan und versucht uns dazu zu bringen, dass wir seinen Lügen zustimmen: Du


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