Leas Steine. Susanne Zeitz

Leas Steine - Susanne Zeitz


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leichter Nebel liegt über dem Wald, doch die Vögel singen schon in den höchsten Frühlingstönen. Es scheint ein schöner Tag zu werden.

      Ihr zweiter Blick fällt auf das Hundekörbchen, das gegenüber an der Wand steht, doch es ist leer. Sunny liegt entspannt zusammengerollt am Fußende ihres Bettes, halb unter der zerwühlten Wolldecke vergraben und blinzelt mit einem Auge zu ihr hinüber, macht aber keinerlei Anstalten aufzustehen.

      Müde und schwerfällig schält sich Klara aus dem Bett. Obwohl sie sich unausgeschlafen fühlt, ist sie doch froh, dass die Nacht mit ihren unheimlichen Träumen vorbei ist. Eigentlich ist es schon lange her, dass ich, nach einem tiefen Schlaf, am anderen Morgen voller Tatendrang aufstehe, stellt sie seufzend fest und schleppt sich in das Badezimmer. Unter dem warmen Strahl der Dusche kommen langsam ihre Lebensgeister zurück.

      Schnell zieht sie ihre alten Jeans, ihre bequemen Laufschuhe und eine leichte Kapuzenjacke an und verlässt mit einer freudig bellenden Sunny das Haus.

      Als sie die Wohnung damals besichtigte, hatte sie diese, ohne lange Bedenkzeit, sofort gekauft und ihren raschen Entschluss nie bereut. Sie hat das Wohnzimmer mit einer geräumigen Couchecke, einem kleinen Tisch und einem weißen Sideboard gemütlich eingerichtet. Die großen Fenster lassen die Tageshelligkeit ungehindert durch alle Räume fluten, so dass sie oft das Gefühl hat, sich im Freien zu befinden. Die kleine, moderne Holzküche bietet zwar keinen Platz für eine Essecke, aber da sie sowieso keine begeisterte Köchin ist, genügt ihr die einfache Küchenzeile mit einem Geschirrschrank und einem Regal. Vor allem aber ist sie von der Umgebung begeistert. Weit außerhalb der Stadt, direkt am Waldrand gelegen, bietet die Wohnung genau das, was sich Klara immer gewünscht hat. Der Supermarkt ist genau gegenüber und ein paar Straßen weiter liegt das kleine Dorfzentrum mit einem Café, einer Bäckerei, einem Naturkostladen und einem Schreibwarengeschäft. Sie kennt die Leute im Quartier und fühlt sich hier geborgen. Eine kleine, enge Welt am Rande einer Großstadt. Genau das, was sie möchte.

      Sie überqueren die kleine Straße und Klara lässt Sunny von der Leine. Sie scheint irgendeinen interessanten Duft mit ihrer braunen Nase zu wittern, denn sie springt sofort los. Der Wald erwacht langsam und die Vögel singen ihre Lieder, während die Sonne mit ihren ersten Strahlen den Pfad vor ihr erhellt und die noch kühle Luft ein wenig erwärmt. Gedankenverloren, den Blick auf den Boden gesenkt, geht Klara den Weg entlang. Sie ist nicht empfänglich für die malerische Stimmung um sie herum, auch den triumphierenden Blick, den Sunny ihr zuwirft, als sie zwei Krähen verjagt, die ärgerlich auf den nächsten Baum flattern, nimmt sie nicht auf. Enttäuscht läuft der Hund voraus und sucht nach irgendwelchen Schätzen, die im Gebüsch verborgen sind.

      Der Morgen im Oktober, als Andreas vor ihrer Tür stand, zieht plötzlich wie ein Film an ihrem geistigen Auge vorbei: Der Tag hatte harmonisch und friedlich begonnen und es versprach ein warmer, goldener Oktobertag zu werden. Als Klara aus dem Fenster blickte, sah sie, dass noch ein leichter Nebelflor über den roten und gelben Baumspitzen lag, welche die Sonne mit ihrem Licht schon zart beleuchtete. Sie freute sich auf einen ruhigen Sonntag, den sie und Sunny bei einem ausgedehnten Spaziergang genießen würden. Sie sieht sich beim Frühstück sitzen. Sie hatte eine Kerze angezündet, Sunny lag zufrieden auf dem Teppich und nagte an einem Kauknochen, während sie in ihrem Gedichtband las. Sie erinnert sich, dass es sich um ein Herbstgedicht von Hermann Hesse handelte, denn das Büchlein liegt bis heute, an dieser Stelle aufgeschlagen, auf ihrem Wohnzimmertisch. Eine liegengelassene Erinnerung! Sie spürt den Frieden dieses damaligen Morgens immer noch in sich. Sie schenkte sich gerade eine zweite Tasse grünen Tee ein, als es klingelte. Die schrille Unterbrechung ihrer Sonntagmorgenidylle ließ sie zusammenzucken. Wer war das? Sie erwartete keinen Besuch und wollte auch keinen, deshalb wartete sie erst einmal ab, bevor sie zur Tür ging. Vielleicht hatte irgendjemand aus Versehen auf ihre Klingel gedrückt. Doch es klingelte wieder, dieses Mal hartnäckiger und länger. Seufzend stand sie auf, ging zur Tür und öffnete sie. Sunny sprang laut bellend an ihr vorbei und begrüßte Andreas, ihren kleinen Bruder.

      Er ist zwar mit seinen ein Meter neunzig wesentlich größer und auch nur drei Jahre jünger als sie, doch für Klara ist er bis heute der kleine Bruder geblieben, den sie beschützen möchte. Das war schon in ihrer Kindheit so. Klara hatte immer das Gefühl, für ihren Bruder verantwortlich zu sein. Wenn er sich beim Spielen verletzte oder wenn er krank war, machte sich in ihr sofort die Angst breit, ihn zu verlieren und ohne ihn zurückbleiben zu müssen.

      Klara kann sich bis heute nicht damit anfreunden, dass Andreas ausgerechnet den Beruf des Auslandskorrespondenten gewählt hat. Er lässt sich mit Vorliebe in Krisengebiete und in Kriegsländer schicken. Er brauche den Kick und auch den Stress, der mit der Angst aufsteige, wenn er mitten in Kampfgebieten als Berichterstatter tätig sei, hatte er ihr einmal gestanden. Als sie vorsichtig gefragt hatte, ob er nicht als Redakteur in einer hiesigen Zeitung arbeiten wolle, hatte er lachend abgewinkt. Er sei absolut kein Mann für den Schreibtisch, meinte er.

      »Andreas, was machst denn du hier? Ich dachte, du sitzt schon längst im Flieger nach Teheran? Komm herein.« Andreas folgte ihr in den Flur. Dort blieb er mit hängenden Schultern stehen. Er wirkte wie ein alter Mann.

      »Was ist los, du schaust so ernst, geht es dir nicht gut?« Irgendetwas Beunruhigendes ging von Andreas aus. Klara war es, als legte sich ihr ein Stein auf die Brust. Schweigend folgten sie der schwanzwedelnden Sunny ins Wohnzimmer. »Klara«, sagte Andreas mit belegter Stimme. »Ich muss dir was sagen.« Er machte eine Pause und räusperte sich. »Mama ist tot! Sie ist vor zwei Stunden mit dem Auto verunglückt.«

      Dieser Satz stand mit einem Mal in seiner ganzen Schwere und Grausamkeit zwischen ihnen im Raum. Klara starrte ihren Bruder mit verständnislosem Blick an. Irgendwie drang das Gesagte nicht in ihr Verstehen. Auch jetzt, nach einem halben Jahr, spürt sie immer noch das Entsetzen, das von ihr Besitz ergriffen hatte, als sie endlich verstand, was Andreas ihr da mitteilte. Ihre Mutter war tot!

      Ohne Vorwarnung, einfach nicht mehr da!

      Lautes Bellen reißt Klara aus ihren Erinnerungen. Sie zuckt zusammen und schaut sich um. Sunny hat ihren Hundefreund Jogi getroffen. Freudig tollen sie miteinander den Waldweg entlang.

      »Guten Morgen, Frau Winter, ist das nicht ein schöner Morgen?« Das Frauchen von Jogi steht mit einem Lächeln vor ihr. Klara ist froh für die Unterbrechung ihrer trüben Gedanken.

      »Hallo, Frau Solda. Es ist wirklich ein schöner Morgen«, erwidert sie und lächelt halbherzig.

      Eine kleine Weile stehen sie zusammen und beobachten die übermütig spielenden Hunde. Für Klara wird es nun Zeit umzukehren. In einer halben Stunde muss sie sich auf den Weg in die Galerie machen. Mit einem Lächeln verabschieden sich die beiden Hundebesitzerinnen voneinander.

      Klara ist wieder allein mit ihren Gedanken, doch sie möchte sich nicht weiter mit den traurigen Erinnerungen beschäftigen, deshalb lenkt sie diese nun bewusst auf ihre Arbeit.

      Heute Mittag werde ich den neuen Maler besuchen und mir seine Bilder anschauen. Ich bin gespannt, was er mir zeigen wird. In seiner Mappe waren ein paar interessante Arbeiten. Mit ihren Gedanken ist sie bereits in der Galerie. Das ist ihre Welt! In ihr kennt sie sich aus. Die nächtlichen Träume sind ihr unheimlich und die Trauer mit ihrer Schwere und ihrer Undurchsichtigkeit macht ihr Angst. Sie will ihr keinen Raum geben.

      Nach einer Weile kehrt sie nach Hause zurück. Jetzt muss es schnell gehen, denn sie hat nicht mehr viel Zeit. Sie entscheidet sich für dunkelblaue Jeans, dazu einen hellgrünen Baumwollpulli, darüber einen leger geschnittenen, schwarz karierten Blazer und einen beigen Wollschal, den sie sich locker um den Hals legt. Frühstücken wird sie in der Galerie.

      So wie ich Margo kenne, hat sie mir sicher wieder ein Vollkornbrötchen und eine Schale Müesli von daheim mitgebracht. Dankbarkeit erfüllt sie, als sie an Margo denkt.

      Sie ist der gute Geist in der Galerie und gleichzeitig ihre beste und einzige Freundin. Sie hatten sich während ihres Kunststudiums kennengelernt und sind seitdem eng befreundet.

      Margo, die Liebe, die Verlässliche. So wurde sie früher immer genannt. Sie passte damals so gar nicht in die ausgeflippte Kunstszene. Ihre Bilder, meist Landschaftsmotive, die sie durchaus gekonnt in Öl- oder Acrylfarben


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