Leas Steine. Susanne Zeitz
Größe und tragen dieselben roten Kleidchen, die sich im Wind um ihre nackten, pummeligen Beinchen bauschen. Beide tragen kleine, rote Eimer in den Händen, ihre Köpfe sind geneigt und ihre roten Locken sind leicht zerzaust. Der Maler hat diese Szene so gekonnt herausgearbeitet, hat mit lichtvollen Farben eine solche Lebendigkeit geschaffen, dass Klara das Gefühl hat, sie selbst stehe mit den Kindern am Strand. Fast meint sie, das sanfte Plätschern der kleinen, auslaufenden Wellen zu hören und den würzigen Duft des Seetangs zu riechen.
Klara weicht vor dem Bild zurück, als wäre sie geschlagen worden. Ein kurzer, tiefer Schmerz durchfährt sie. Sie kann es sich nicht erklären.
»Frau Winter, geht es ihnen nicht gut? Sie sind ja ganz weiß im Gesicht. Möchten sie sich für einen Moment dort auf das Sofa setzen?« Der Maler berührt sie sanft am Ellenbogen.
Klara schüttelt den Kopf.
»Es ist alles in Ordnung. Mir war nur kurz schwindelig. Wahrscheinlich die lange Autofahrt. Nun würde ich mir gerne ihre Bilder ansehen.« Schnell wendet sie der Staffelei den Rücken zu.
An den Wänden lehnen seine fertigen Werke. Einige hat er schon vorsortiert. Es handelt sich um typische Bodenseebilder: Der See mit seinen verschiedenen Gesichtern und Stimmungen, gerahmte Aquarelle von der letzten Segelregatta und Landschaftsbilder in Acryl vom Hegau mit seinen lieblichen Hügeln. Auf großformatigen Leinwänden hat er sehr gekonnt Stimmungen und Dynamiken eingefangen.
Klara hat inzwischen ihr Gleichgewicht wiedergefunden. Ihr gefallen die Leichtigkeit der Farben und die Lichtspiele, die in seinen Bildern zu finden sind.
»Ich kann mir gut vorstellen, ihre Bilder in meiner Galerie in einer Einzelausstellung zu zeigen. Vor allem unsere ausländischen Besucher werden begeistert sein. Ich freue mich auf eine Zusammenarbeit mit ihnen. Das wird eine eindrucksvolle Ausstellung.«
Der Maler strahlt sie an.
»Ich freue mich auch darauf. Brauchen sie noch mehr Bilder oder sind es genug?«
Klara überlegt.
»Wenn sie noch sechs zusätzliche Bilder liefern könnten, dann würde ich eine Doppelausstellung ausrichten, zur selben Zeit in beiden Galerien. Ich könnte mir vorstellen, dass es meinen Kunden gut gefallen würde. Es wäre mal etwas Neues. Schaffen sie es noch bis zum Herbst, neue Bilder zu malen? Herbstliche Motive vom Bodensee würde ich vorschlagen.«
»Ja, das würde gehen, aber eher mittlere Formate.«
Sie vereinbaren, dass er sich mit Margo in Verbindung setzt, um weitere Schritte und Termine mit ihr festzulegen. Ohne sich noch einmal das Bild auf der Staffelei anzusehen, verlässt Klara vor dem Maler das Atelier.
»Möchten sie noch zum Abendessen bleiben? Meine Frau richtet uns gerne eine Kleinigkeit zum Essen.«
»Nein danke, das ist ganz lieb, aber ich fahre nicht gerne bei Dunkelheit auf der Autobahn. Ich mache mich lieber jetzt schon auf den Weg.« Klara nimmt ihren Mantel, der auf einem Stuhl liegt und zieht ihn an. Versunken sucht sie in ihrer Handtasche nach ihrem Autoschlüssel. Das Gemälde mit den Kindern geht ihr nicht aus dem Sinn. Was ist nur los mit mir? Warum berührt mich ausgerechnet dieses Bild so tief? Vielleicht sollte ich es kaufen. Im Geist sieht sie es in ihrem Wohnzimmer über der kleinen, weißen Anrichte hängen. Nein, lieber nicht, denkt sie. Das leise Räuspern des Malers unterbricht ihren Gedankengang.
Sie besinnt sich kurz, dann zieht sie den Autoschlüssel aus der Tasche und verabschiedet sich von dem Künstler und seiner Frau, die ihr noch fürsorglich ein kleines Kuchenpaket in die Hände drückt. Klara fährt langsam um die Kurve, um dann auf die Hauptstraße zu gelangen. Doch sie ist abgelenkt. Beinahe übersieht sie die rote Ampel. Ihre Gedanken sind immer noch bei dem Bild. Tief in ihrem Inneren spürt sie eine tiefe Sehnsucht, wenn sie an die beiden kleinen Mädchen denkt. Sie kann nicht ohne das Bild heimfahren! Sie muss es haben, das wird ihr plötzlich klar. Hoffentlich ist es überhaupt verkäuflich! Schnell wendet sie ihr Auto und fährt zurück. Fast im Eilschritt legt sie die kurze Distanz von ihrem Auto zum Haus zurück. Ein bisschen zu stürmisch drückt sie auf die Klingel. Der Maler öffnet die Tür.
»Frau Winter, haben sie was vergessen?« Erstaunt schaut er sie an.
»Nein, aber ich möchte das Gemälde kaufen, wo die beiden Kinder drauf sind. Bitte sagen sie, dass es zu haben ist!« Aus Klara sprudelt es nur so heraus. Sie habe sich regelrecht in das Bild verliebt. Es würde so gut über ihre weiße Anrichte im Wohnzimmer passen.
Der Maler kann sich ein Schmunzeln fast nicht verkneifen, als sie so übereifrig, mit geröteten Backen und bittenden Augen vor ihm steht.
»Es ist zu verkaufen. Doch jetzt kommen sie erst einmal herein.«
Sie gehen die Treppe zum Atelier hinauf. Auf dem abgewetzten, alten Sofa, das vor der Staffelei steht, nehmen sie Platz.
»Mit diesem Bild hat es etwas Eigenartiges auf sich«, erzählt der Maler. »Vor sieben Jahren kam ein älterer Mann zu mir. Er hatte eine kleine, vergilbte und zerknitterte Fotografie dabei, worauf er mit den kleinen Mädchen abgebildet war. Die Kinder suchten am Strand nach Muscheln, eben wie auf dem Gemälde. Er fragte mich, ob es möglich sei, dieses Motiv, allerdings nur die beiden Mädchen, auf eine Leinwand zu übertragen. Das sei für mich kein Problem, erwiderte ich und so gab er es mir in Auftrag. Wir verabredeten, dass er das Bild nach einem Vierteljahr abholen würde. Aber er kam nicht. In der ganzen Aufregung, denn es würde meine erste Auftragsarbeit werden, hatte ich ganz vergessen, mir seine Adresse aufzuschreiben. Seit sieben Jahren steht es nun auf der Staffelei und wartet auf seinen Besitzer. Ich denke, es ist jetzt an der Zeit, dass ich es verkaufen kann. Ich habe lange genug gewartet. Es scheint auch, als habe das Bild nun seine wahre Besitzerin gefunden.« Der Maler lacht sie an. »Das Foto habe ich leider nicht mehr dazu, das ist irgendwie verloren gegangen.
»Das brauche ich nicht, das Gemälde wirkt so echt und lebendig, es ist einfach wunderschön.«
Klara und der Maler stehen auf. Gemeinsam verpacken sie die Leinwand in Karton und mehreren Lagen Plastikfolie, so dass sie im Auto keine Druckstellen bekommt. Der Preis ist schnell verhandelt, das Bild gut im Auto verstaut und Klara macht sich in einer freudigen Stimmung auf den Heimweg.
Beschwingt legt sie die Autobahnstrecke zurück. Die langsam hereinbrechende Dunkelheit bemerkt sie kaum, immer wieder sieht sie die kleinen Mädchen vor sich, die voller Begeisterung nach Muscheln suchen. Das Bild scheint mit seiner Lebendigkeit und Helligkeit Besitz von ihr ergriffen zu haben, denn sie fühlt sich glücklich, wie schon lange nicht mehr. Kurz vor Herrenberg gerät sie in den obligaten Stau. Das hat mir gerade noch gefehlt! Ich möchte endlich heim, etwas essen und dann das Bild aufhängen, außerdem werden Sunny und Margo sicher schon auf mich warten. Ungeduldig drückt sie am Radio herum und sucht einen Sender. Im SWR3 läuft die übliche Popmusik. Klara ist mit ihren Gedanken wieder bei dem Bild. Die Kinder scheinen sich sehr nahe zu sein. Warum haben Andreas und ich diese Nähe nie aufbauen können? Wir verstehen uns gut, aber diese Vertrautheit haben wir nicht. Er bezieht mich in sein Leben nicht mit ein. Eigentlich weiß ich gar nicht, was er denkt oder was er sich so vom Leben wünscht. Jeder geht seinen eigenen Weg. Vielleicht lag es an Mutter, die immer irgendwie zwischen uns stand. Ich wurde von ihr oft zur Seite gedrängt, wenn es um Andreas ging.
Die Mädchen sehen aus, als seien sie Zwillinge, überlegt sie weiter. Klara erinnert sich an ihr Lieblingsbuch Hanni und Nanni. Es handelte von Zwillingsschwestern, die ihre Schulzeit im Internat verbrachten und viele Abenteuer erlebten und Mutproben zu bestehen hatten. Wie hatte sie die Romanheldinnen beneidet und sich nach einer Schwester gesehnt!
Die Musik wird unterbrochen. Die Nachrichten werden durchgegeben. Mittlerweile weiß man, dass bei dem Anschlag in Afghanistan zwei Bundeswehrsoldaten getötet und zwei Auslandskorrespondenten schwer verletzt worden sind. Klara erstarrt. Daran hatte sie gar nicht mehr gedacht. Hoffentlich nicht Andreas! Die Freude weicht dem üblichen Druck in der Brust. Sie spürt, wie sich kalter Schweiß auf ihrer Stirn ausbreitet. Mühsam versucht sie, die aufkommende Angst zu verdrängen. Sie lässt das Fenster herunter und atmet gierig die kühle Luft ein. Die Anspannung lässt ein wenig nach. Endlich setzt sich die Autoschlange wieder in Bewegung und löst sich langsam