Die Zerstörung der EU. Peter Michael Lingens
den Austritt ihrer Heimatländer aus der Europäischen Union, sondern nur ihre Reform.
Das tut auch dieses Buch – wenn auch aus anderer Perspektive. In denkbar ungewollter Gemeinsamkeit mit Matteo Salvini halte auch ich die aktuelle Wirtschaftspolitik der EU, voran der Eurozone, für katastrophal und vertrete in diesem Zusammenhang folgende drei Thesen:
Erstens: Sparen des Staates, wie der Vertrag von Maastricht es fordert, wie Deutschlands vormaliger Finanzminister Wolfgang Schäuble es predigt und wie Kanzlerin Angela Merkel es via Sparpakt der gesamten EU mit Ausnahme Großbritanniens und Tschechiens unter Strafandrohung verordnet hat, ist wirtschaftlich maximal kontraproduktiv. Denn Wirtschaftswachstum kann nur zustande kommen, wenn mehr verkauft wird, und es kann aus Gründen der Mathematik nur mehr verkauft werden, wenn zugleich mehr eingekauft wird. Wenn von den drei großen potenziellen Einkäufern einer Volkswirtschaft – Konsumenten, Unternehmen und Staat – einer, nämlich der Staat, seine Einkäufe zum Zweck des Sparens einschränkt (ohne dass Konsumenten und Unternehmer ihre Einkäufe ausgeweitet hätten), ist es denkunmöglich, dass der Gesamtverkauf wächst. Wenn er es, wie etwa in Deutschland, dennoch tut, dann zulasten anderer Volkswirtschaften, deren Konsumenten, Unternehmen und staatliche Stellen sich an Deutschlands Stelle verschulden. Sofern es EU-Mitglieder sind, verstoßen sie damit gegen den von Deutschland initiierten Sparpakt. Diese absurde Konstellation ist verantwortlich für die, verglichen mit Großbritannien oder den USA, so schleppende Erholung der Eurozone.
Zweitens: Deutschlands „Lohnzurückhaltung“, die seine Unternehmen seit der rot-grünen Regierung Gerhard Schröders im Jahr 2000 üben, verdient die Bezeichnung „Lohndumping“: Die Waren deutscher Unternehmen nehmen den Waren aller anderen Volkswirtschaften, voran jenen Norditaliens und Frankreichs, immer mehr Marktanteile weg, ohne dass sich die Qualität deutscher Waren oder die Effizienz ihrer Herstellung erhöht hätte. Vielmehr subventionieren Deutschlands Arbeitnehmer Deutschlands Warenpreise durch real sinkende Löhne. Damit vermindert sich zugleich Deutschlands Kaufkraft, so dass weder deutsche noch gar französische oder italienische Unternehmen auf dem deutschen Markt mit ausreichendem Warenabsatz rechnen können. Das erschüttert Europas Wirtschaftsgefüge gleich doppelt. In den Ländern, die solcherart Marktanteile an Deutschland verlieren, kommt es zwingend zu hohen Arbeitslosenraten und explodierender Jugendarbeitslosigkeit, während in Deutschland Arbeitskräfte-Knappheit eintritt. Das deutsche Verhalten ist unvereinbar mit den Regeln fairen Wettbewerbs auf einem freien Markt und verstößt gegen die in der EU vereinbarte Zielinflation von 1,9 Prozent.
Drittens: Der „Neoliberalismus“ als Wirtschaftsideologie begünstigt das in „erstens“ und „zweitens“ angeführte Fehlverhalten. Er ist voller ökonomischer Missverständnisse bezüglich jener wirtschaftlichen Bedingungen, die er selbst für wirtschaftlich optimal hält. Neoliberale Vorstellungen vom Sinn „betriebsspezifischer“ Lohnverhandlungen oder bezüglich der Funktion von Gewerkschaften sind ebenso falsch wie die neoliberale Vorstellung vom maximalen Wohlergehen der Bevölkerung oder vom Entstehen gefährlicher Inflation.
Leider konzentrieren sich alle drei Fehlverhalten in der Politik von deutschen Regierungen, die ich bezüglich ihrer sonstigen Außen-, Innen- und Umweltpolitik durchaus schätze. Angela Merkel ist für mich eine der wenigen Staatschefs, die Wladimir Putin mit der nötigen Reserve begegnen, und ihr Verhalten anlässlich der in Budapest gestrandeten Flüchtlinge habe ich in einem Kommentar für Profil „ein deutsches Märchen“ genannt, auch wenn ich heute erkennen muss, dass das Zusammentreffen des Flüchtlingsproblems mit den Problemen der europäischen Wirtschaft zu einer extrem explosiven Gemengelage geführt hat. Aber diese Gemengelage wäre ungleich weniger explosiv, wenn die Wirtschaftspolitik der EU – in Wahrheit die Wirtschaftspolitik Angela Merkels und Wolfgang Schäubles – keine so katastrophale wäre.
Weil Deutschland eigentlich nie von der D-Mark lassen wollte, war der Euro von Beginn an falsch – ganz anders als der US-Dollar – konstruiert. Aus den gleichen deutschen Missverständnissen heraus wird er von einer von Deutschland angeführten EU so katastrophal verwaltet. Deutschlands Schuldenphobie würgt die Konjunktur der Eurozone ab und behindert ihre nachhaltige Erholung. Die von der SPD mit der Agenda 2010 initiierte deutsche Lohnpolitik verhindert faire unternehmerische Konkurrenz. Voran durch dieses doppelte Fehlverhalten Deutschlands ist die EU akut von der Zerstörung bedroht. Dass das innerhalb der EU voran an der Eurozone liegt, hat damit zu tun, dass dort das Gros der großen „alten“ Volkswirtschaften angesiedelt ist, während für neu hinzugestoßene, meist exkommunistische, ein günstigeres Investitions- und Nachfrageverhalten gilt.
Österreich hat sich der deutschen Politik teils zwangsläufig – weil Deutschland sein größter Handelspartner ist –, teils aus Sebastian Kurz’ neoliberaler Überzeugung angeschlossen und wird damit als ihr Mitläufer langfristig nicht gut fahren.
Das – in groben Zügen – will ich in diesem Buch belegen. Dazu den mangelnden Widerstand einer Sozialdemokratie, die sich ebenfalls zunehmend neoliberalen Wirtschaftsmissverständnissen hingegeben hat und so ihren Niedergang zementiert. Denn die ökonomischen Missverständnisse des Neoliberalismus sind für die deutsche Politik ebenso verantwortlich wie die schwäbische (protestantische) Überzeugung, dass „Schuld“ auf sich lädt, wer Schulden macht. Obwohl diese beiden Ideologien – denn das, und nicht ökonomische Theorien, sind sie – einander vielfach widersprechen, machen sie weltweit Furore und verantworten das auch weltweit größte ökonomische Problem: die immer gewaltigere Konzentration von Vermögen und Macht in einem immer winzigeren Teil der Bevölkerung.
Zur Entstehung dieses Buches
Ein paar Hinweise zur Gedanken- und Datenbasis dieses Buches: Ich nutze gerne fremde Erkenntnisse, denn im Grunde bin ich nicht mehr als ein recherchierender Reporter. Bei allen meinen Überlegungen zum „Sparen des Staates“ habe ich der Aussage des emeritierten Professors für Finanzwissenschaften der Universität Wien, Erich W. Streissler, vertraut, der anlässlich eines Seminars erklärte: „In einem hat Keynes sicher recht – in einer Krise darf und kann der Staat nicht sparen.“ Dem „Traktat“ von Richard Winter habe ich Überlegungen zum Unterschied von Betriebswirtschaft und Volkswirtschaft, zur Funktion des Geldes und zur Inflation entnommen. Und Professor Heiner Flassbeck, von 1998 bis 1999 Staatssekretär im deutschen Bundesministerium für Finanzen und von Januar 2003 bis Ende 2012 Chef-Volkswirt der UN-Organisation für Welthandel und Entwicklung, hat mich auf die überragende Bedeutung der deutschen „Lohnzurückhaltung“ aufmerksam gemacht. Sein Wirtschafts-Nachrichtendienst Makroskop ist zu meiner täglichen Lektüre geworden. Neben der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als Reibebaum: Ihre Kommentare sagen zwar fast durchwegs das Gegenteil von dem, was ich im Falter schreibe – aber man findet dort immer auch Berichte, Analysen, Gastbeiträge und Fakten, die es erleichtern, ihnen zu widersprechen.
Nicht zuletzt ist das meiste dessen, von dem ich in diesem Buch nachweise, dass es leider eigetreten ist, vor zwanzig Jahren vorhergesagt worden: In einer Rede des deutschen PDS-Abgeordneten Gregor Gysi anlässlich der Einführung des Euro. Prophetisch sagte er voraus, dass es unmöglich sei, Europa durch den Euro zu einen – nur ein bereits solidarisch geeintes Europa könne schlussendlich eine gemeinsame Währung beschließen. Ich habe Gysis Rede dem Buch daher als Epilog angehängt.
Soweit ich in meinen Texten Zahlen bezüglich des realen, „kaufkraftbereinigten“ BIP pro Kopf (BIP/Kopf PPP), der Arbeitslosigkeit oder der ominösen (wenig sinnvollen) „Staatsschuldenquote“ verwende, stammen sie aus der Datenbank der Weltbank, der OECD oder von statista.de. Wenn sie – selten genug – aus einer anderen Quelle stammen, führe ich diese an.
GELBE KARTE FÜR MACRON
Die Situation hätte symbolischer nicht sein können: Emmanuel Macron, Europas „Jupiter“, wie Medien ihn getauft hatten, der strahlende „Hoffnungsträger“ der Europäischen Union, dem man zugetraut hatte, ihr wieder Kraft zu verleihen, sie wieder mit dem einstigen Geist von Aufbruch in eine bessere Zukunft zu erfüllen, musste sich bei seiner Bevölkerung entschuldigen, ihr eine Erhöhung der Mindestlöhne und Mindestpensionen zugestehen, die nach Ansicht der EU die Defizitgrenzen des