Die Zerstörung der EU. Peter Michael Lingens

Die Zerstörung der EU - Peter Michael Lingens


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könnte Macron die Aufträge bereitstellen, die Frankreichs Unternehmen fehlen, was ihm nicht nur der Sparpakt, sondern auch sein eigenes neoliberales Wirtschaftsverständnis verbietet: Auch Macron selbst glaubt, dass Sparen des Staates ein richtiges Rezept zur Überwindung einer wirtschaftlichen Schwächephase ist.

      Die Möglichkeit, Deutschland die verlorenen Marktanteile wieder abzujagen, ist eine rein theoretische. Denn dazu müsste es Macron gelingen, Frankreichs Lohnstückkosten durch „Hartzige“ Bestimmungen am Arbeitsmarkt um 25 Prozent abzusenken, weil man Marktanteile nur zurückgewinnen kann, indem man die Preise seines Konkurrenten unterbietet. Frankreich müsste sein Lohnniveau also um mindestens 25 Prozent senken.

      Das provozierte eine Revolution, an der gemessen die Revolte der „Gelbwesten“ ein harmloser Kinderjausen-Zwischenfall wäre. Gleichzeitig verminderte es Frankreichs Inlandskaufkraft, die die Konjunktur derzeit aufrechthält, in einem Ausmaß, das sie in kürzester Zeit zusammenbrechen ließe.

      Ich sehe nicht, wie sich Macron ohne Hilfe Deutschlands – durch massive deutsche Investitionen, die angesichts des dort herrschenden Arbeitskräftemangels die deutschen Löhne deutlich steigerten, zugleich aber auch französischen Anbietern zugutekämen – aus dieser desolaten politischen Lage befreien soll. Zumal Le Pen sehr geschickt agiert: Sie hat die „Gelbwesten“ ihrer „unverbrüchlichen Unterstützung“ versichert, sich aber, anders als die Führer der linken Opposition, nicht an ihren Demonstrationen beteiligt, so dass sie nicht mit brennenden Autos und eingeschlagenen Scheiben identifiziert wird. Wie Heinz-Christian Strache, der sich nie mit den braunen Ausrutschern seiner Funktionäre identifiziert, wirkt sie auf diese Weise „staatsmännisch“ und wurde auch schon von Macron ins Elysée geladen.

      Ich sehe sie nach den nächsten Wahlen dort residieren.

       DAS DRAMA ITALIENS

      Im Fokus des Interesses an der EU stand bis zu den französischen Feuerzeichen zweifellos Italien. Voran die Daten seines Niederganges:

      • Italiens reales BIP pro Kopf, das zwischen 2003 und 2005 gleichauf mit dem deutschen lag, verringerte sich mit dem Sparpakt drastisch und liegt dank Marktanteilsverlusten im Export heute 8,7 Prozent unter dem Vorkrisenniveau. Von Deutschlands BIP ist es dank Marktanteilsverlusten 10.000 US-Dollar pro Kopf entfernt.

       Der Niedergang als Schaubild

      Quelle: The World Bank

      • Dieser Entwicklung des BIP entsprechend haben sich die Realeinkommen der Italiener vermindert. Wie überall bei den Geringverdienern mit Abstand am stärksten – ihre Einkommen liegen durchwegs an der Armutsschwelle – bei den Superreichen vergleichsweise unerheblich.

      • Italiens Staatsschuld stieg während des „Sparens“ von 1671,4 Milliarden Euro im Jahr 2008 bis 2017 um rund ein Drittel auf 2256 Milliarden. Die berühmte Staatsschuldenquote (Schulden pro BIP), die sowohl diesen Anstieg der Schulden wie den Absturz des BIP zu verkraften hatte, schnellte von 102,4 Prozent auf 131,8 Prozent hoch.

      • Die Arbeitslosigkeit hat sich von 6,7 Prozent im Jahr 2008 auf 11,2 Prozent im Jahr 2017 fast verdoppelt. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt um die zwanzig, im Süden um die fünfzig Prozent. Einmal mehr trotz Abwanderung vieler Arbeitssuchender und obwohl viele Langzeitarbeitslose das Suchen aufgegeben haben. Italiens Bevölkerung ist extrem unterbeschäftigt: Frauen arbeiten besonders selten, prekäre, Minimal- und Teilzeitbeschäftigung sind besonders weit verbreitet.

      In dieser ernüchternden wirtschaftlichen Situation erhielten, exakt wie zuvor in Griechenland, die linksanarchische Fünf-Sterne-Bewegung und die rechtsextreme Lega Nord extremen Zulauf. Nachdem sie mit dem Schlachtruf „Die Sparpolitik muss ein Ende haben“ in den Wahlkampf gezogen waren, errangen sie bei den Wahlen im März 2018 den fast unvermeidlichen Erdrutschsieg. Wieder ganz nach dem Muster Griechenlands, wo die linke Syriza Alexis Tsipras’ mit der weit rechten Goldenen Morgenröte koaliert, einigten sich die linksanarchische Fünf-Sterne-Bewegung unter Luigi Di Maio und die neofaschistische Lega Nord Matteo Salvinis auf eine ähnlich seltsame Koalition, bei der die gegenseitigen Sympathien etwa der von Mäusen für Schlangen entsprechen.

      Einzige inhaltliche Klammer: die Verzweiflung am Sparpakt.

      Nachdem Salvini den fachlich angesehenen, aber politisch umstrittenen Ökonomen Paolo Savona als Lega-Wunschkandidaten für das Amt des Finanzministers durch den Ökonomen Giovanni Tria ersetzt hatte, weil Savona als überaus EU-kritisch gilt, durfte der Elder Statesman Guiseppe Conte mit dem zähneknirschenden Einverständnis der EU eine Fünf-Sterne-Lega-Nord-Regierung bilden, denn anders als Savona gilt Tria nicht als ein Mann, der den Euro-Austritt Italiens für eine mögliche Alternative hält. Allerdings hätten sich Lega und Fünf Sterne auch mit Savona nicht für den Euro-Austritt ausgesprochen, sondern nur die Lockerung des Sparpaktes gefordert.

      Dabei ist es geblieben: Im Herbst 2018 legte Italien der EU, wie vom Sparpakt vorgeschrieben, einen Haushaltsentwurf mit folgenden Eckpunkten zur Kenntnisnahme und Begutachtung vor:

      • Sie beantragte (und beschloss mittlerweile), eine „Notstandshilfe“ von 780 Euro einzuführen, die sie „Grundgehalt“ nennt, obwohl sie daran gebunden ist, zumindest den dritten angebotenen Job anzunehmen. Der Ökonom Alexander Grasse durfte das in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung entgegen der Blattlinie „sinnvoll“, ja „sozial überfällig“ nennen. Ökonomisch stellte es de facto eine Art Mindestlohn dar, den Arbeitgeber schwer unterbieten können.

      • Mit dem Ziel, dem Bürger mehr Geld in der Tasche zu lassen, will die Regierung die Lohn- und Einkommenssteuern, aber auch die Unternehmenssteuern als Flat Tax gestalten und deutlich senken. Denn wenn selbst Geringverdienern mehr Geld in der Tasche bleibt, so hofft sie, werden sie mehr Waren kaufen und Italiens Wirtschaft damit Auftrieb geben. Auch in Österreich hat sich das Wachstum sofort verbessert, nachdem Hans Jörg Schelling die von Michael Spindelegger immer wieder hinausgeschobene steuerliche Entlastung der Bevölkerung endlich durchgeführt hat.

      • Aus den gleichen Gründen hat die Regierung auch eine Mindestpension von 680 Euro beschlossen, die Grasse gleichfalls „überfällig“ nennen durfte.

      • Schließlich plante die Regierung Steueramnestien, die dazu führen sollten, dass die Italiener in der Schweiz gebunkertes Geld wieder nach Hause bringen. Auch das ist nicht abwegig, aber Beobachter fürchten (nicht zu Unecht), dass die vorzeitige Ankündigung dieser Möglichkeit dazu führte, dass vorerst noch mehr hinterzogen wurde.

      Die Kommission hat diesen Haushaltsentwurf wie erwartet erst einmal entrüstet zurückgewiesen, weil er dem Sparpakt – meines Erachtens auf mäßig sinnvolle, wenn auch halb so dramatische Weise – widerspricht. Aber beide Seiten setzten auf drastische Rhetorik: Matteo Salvini erklärte sofort, auf dem Entwurf beharren zu wollen, die EU ihrerseits auf dessen Zurückweisung.

      Das eröffnete folgende Szenarien:

      • Das in meinen Augen mit Abstand vernünftigste hätte darin bestanden, den Sparpakt aufzugeben. Aber es war nicht zu erwarten, dass Angela Merkel, Jean-Claude Juncker oder auch nur Sebastian Kurz dem zustimmen.

      • Das zweite bestand darin, dass sich die Konfrontation zuspitzt: dass die Lega Nord dank immer wilderer Anti-EU-Rhetorik bei Neuwahlen stärkste Kraft wird und entsprechend glaubwürdig mit dem Austritt aus dem Euro droht, was einem Scheitern des Euro denkbar nahe käme.

      • Drittens konnte die EU damit spekulieren, Italiens Regierung in die Knie zu zwingen. Vor allem in der deutschen und österreichischen Regierung war man der Überzeugung, die „Märkte“ würden das besorgen: die Zinsen, zu denen Italien sich Geld leiht, dozierten Kurz und Löger, würden derart steigen, dass Salvini gar nichts anderes übrig bliebe als einzulenken. Sie sind tatsächlich etwas gestiegen, weil die EZB es nicht verhindert hat: Man hätte es dem Italiener Mario Draghi zweifellos als Parteilichkeit ausgelegt, hätte er einen entsprechenden Versuch unternommen. Dennoch liegt darin ein grundsätzliches Problem: Liegt doch normalerweise der Sinn von Eingriffen der


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