Tambara. Heike M. Major
Kapitel 37
1
„Soul …, welch merkwürdiger Name.“
Sorgfältig hatte der Kommissar alle Unterlagen geprüft. Sein Füller knirschte lautstark über das Papier, während er die letzten Eintragungen vornahm.
Die Luft in dem Zimmer war stickig und roch nach abgestandenem Kaffee und unbewältigter Vergangenheit. Auf der Fensterbank hinter dem Schreibtisch türmten sich unterschiedlich große Kästen aus Kunststoffglas, in denen Blüten, Blätter und Früchte ausgestorbener Pflanzenarten ihr letztes Zuhause gefunden hatten. Die fast bis zur Decke reichenden Regale des Raumes waren vollgestopft mit veralteter Software, vergilbtem Bildmaterial und noch aus organischen Rohstoffen hergestellten Aktenordnern. An der einzigen regalfreien Wand stand ein niedriger Büroschrank, auf dem sich Berge verstaubter Schnellhefter stapelten. Darüber legte eine lieblos an den Stein genagelte und mit Spitzen, Bordüren und Tuchresten bestückte Schaukastenreihe Zeugnis ab von der Eitelkeit vergangener Jahrhunderte. Alles schien durchtränkt vom undefinierbaren Geruch vielfältigster Konservierungsstoffe.
„Ihre Mutter war Sängerin?“, fragte der Kommissar und schaute die junge Frau über den Rand seiner Brille an.
„Ja.“
Souls Blick hielt dem seinen stand.
„Eine gute nehme ich an?“
„Eine sehr gute, sie liebte Musik über alles.“
„Alte Musik?“
„Auch …, ja …, sicher, schließlich hatte sie noch ihren Lehrstuhl an der Hochschule für Musikgeschichte. Die Jazzkonzerte fanden hauptsächlich als Ergänzung zu den theoretischen Seminaren statt. Aber sie hat auch Gegenwartsmusik präsentiert, überwiegend sogar …, ja, überwiegend.“
Die Neugier des Kommissars schien befriedigt. Er faltete das bearbeitete Formular in der Mitte zusammen, strich den entstandenen Falz mit einem einzigen gezielten Fingerstrich glatt und erhob sich von seinem Stuhl.
„Nun gut, damit wären die Formalitäten erledigt – mein Beileid und alles Gute.“
Mit einem kräftigen Händedruck überreichte er der Antragstellerin das Papier, geleitete sie zur Tür und überließ sie der Obhut seiner Vorzimmerdame.
Die Ausgabestelle befand sich auf der gegenüberliegenden Seite des Kommissariats. Sie brauchten nur den Gang zu überqueren, und Soul fragte sich gerade noch, wie man hier arbeiten konnte, Tag für Tag, in unmittelbarer Nähe mit den Toten, da standen sie schon im Übergabezimmer und ein dürrer, wortkarger Angestellter verlangte das Formular.
„253? – Ja, ich glaube, die ist heute fertig geworden.“
Das Papier in der Hand, den Blick auf die Behälter über ihm gerichtet, wanderte der Konzerndiener die Regale entlang.
„Genau, 253. Wie ich es mir gedacht habe.“
Er griff in eines der Fächer und holte einen dunkelbraunen Kunststoffwürfel heraus.
„Shamon’s group of final arrival“, stand in einem grellen Orangeton darauf geschrieben. „Professionelle Einäscherungen.“
Mit der Urne überreichte er der Trauernden den Schlüssel für die Kapelle und den Bestattungssaal.
„Hier entlang, bitte!“
Routinemäßig leitete die Sekretärin den letzten Teil der Zeremonie ein.
Soul folgte den wiegenden Hüften der Vorzimmerdame und bemühte sich vergebens, ein Gefühl von Andacht zu empfinden. Unverschämt laut knallten die hohen Absätze dieser Person auf die Kacheln des Fliesenbodens. Der Flur war merkwürdig schmal und hoch, die Wände schimmerten schmucklos und die vielen Türen zu beiden Seiten standen stumm, als wollten sie nicht verraten, dass hinter ihnen sich Hunderte von Angestellten in mühseliger Kleinarbeit ihr tägliches Brot verdienten.
Am Ende des Ganges machten sie halt.
„Den Schlüssel, bitte!“
Ehe sich Soul versah, hatte die Sekretärin ihr das Metall schon aus der Hand gezogen. Behänd schob sie es in das Schloss der Kapellentür.
„Ich werde hier warten, bis Sie sich verabschiedet haben. Ich denke, zehn Minuten werden reichen, nicht wahr?“
Soul war dankbar, für einige Minuten allein gelassen zu werden. Sie stellte die Urne auf den Altar und kniete auf einer der wenigen Bänke, die der kleine Raum beherbergte, nieder. Ein Geruch von Weihrauch und Myrrhe entströmte den Duftkammern der Klimaanlage. Dunkelrote Sitzpolster verliehen dem schlichten Mobiliar einen Anstrich von schwüler Feierlichkeit, und der flackernde Schein der künstlichen Altarkerzen setzte die sakralen Wandmalereien, die anscheinend die fehlenden Fenster ersetzen sollten, dramatisch in Szene.
Soul schloss die Augen und bettete den Kopf auf die gefalteten Hände. In ihrem Körper dröhnte und hämmerte es. Was um alles in der Welt war geschehen? Vor ein paar Tagen noch waren sie zusammen einkaufen gewesen, hatten gemeinsam gegessen, geschwatzt, gelacht. Sicher, ein wenig Angst war immer dabei gewesen, aber ihren Alltag hatten sie doch so normal wie nur eben möglich gelebt. Die paar Male, die sie auf eigene Faust in der Vergangenheit gestöbert hatten, daran konnte doch niemand Anstoß genommen haben.
Ein Gebet musste ihr einfallen.
„Wir alle in dir …, und ewig währt dein Licht …“
Wut, Trauer, Hilflosigkeit drängten sich zwischen die Zeilen, ein Anflug von Übelkeit mischte sich darunter. Nicht im Traum hätte sie sich vorstellen können, einmal zu den Betroffenen zu gehören. Soul hob den Kopf und betrachtete hasserfüllt den dunkelbraunen Kasten auf dem Altar. Selbstbewusst erstrahlte die orangefarbene Aufschrift im Schein der künstlichen Kerzen.
Es klopfte.
„Ja? – Ja, einen Moment bitte, ich bin gleich fertig.“
Soul stand auf, holte die Urne und verließ den Raum. Gehorsam folgte sie der Dame, die hinter ihr die Kapellentür wieder verschlossen hatte, in den Bestattungssaal.
„253, sehen Sie, hier! Ein schöner Platz, Südseite – fast den ganzen Tag über scheint die Sonne auf die Verstorbenen.“
Während sie sprach, öffnete die Sekretärin eine der Glastüren des Grabschrankes, der ähnlich wie die Regale in der Ausgabestelle die ganze Wandseite einnahm und eine Vielzahl gleich großer Fächer beherbergte, die mit je einem orange-braunen Würfel gefüllt waren. Soul musste sich ein wenig auf die Zehenspitzen stellen, um den Kasten in der Mitte des zugewiesenen Schreines zu platzieren. Sie