Tambara. Heike M. Major
Mutter nicht dabei gewesen bist.“
Souls Stimme klang vorwurfsvoll, als ihr Bruder, der auf dem Parkplatz vor dem Gebäude gewartet hatte, den Wagen startete.
„Mutter?“
Der junge Mann verzog das Gesicht.
„Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, dass das unsere Mutter gewesen ist.“
2
Reb räusperte sich.
„Meine Damen und Herren, im Namen der Miller’s Group – Contemporary Systems of Media Research möchte ich Sie heute zu einem ganz besonderen Ereignis willkommen heißen. Wie Sie alle wissen, ist unser Institut bekannt für die hervorragende Arbeit, die es in den letzten Jahren auf dem Gebiet der Medienforschung geleistet hat. Die innovativen Visualisierungstechniken unseres Konzerns haben einen beispiellosen Siegeszug rund um den Globus angetreten und Maßstäbe gesetzt, an denen Firmen auf der ganzen Welt gemessen werden. Umso erstaunlicher ist es, dass wir Ihnen heute eine Ausstellung präsentieren, die sich weder mit unserer glorreichen Gegenwart beschäftigt, noch Ihnen, wie Sie es bisher von uns gewohnt waren, ein weiteres zukunftsweisendes Projekt vorstellt, sondern sich ausschließlich – und ich betone ‚ausschließlich’ – mit der Vergangenheit beschäftigt.“
Ein kaum hörbares Raunen ging durch den Saal.
„Diese Ausstellung, meine Damen und Herren, wird Ihnen nicht nur einen Einblick in die Anfänge des Medienzeitalters gewähren, sondern Sie auch teilhaben lassen an gentechnischen Entwicklungen und medizinischen Praktiken längst vergangener Epochen. Der Titel ‚Medizin im einundzwanzigsten Jahrhundert – eine Fotoausstellung’ sagt es schon: Die Bilder, die Sie heute und im Laufe der folgenden Wochen bei uns bestaunen können, sind tatsächlich noch echte Fotos. Fotos – lassen Sie es mich für diejenigen unter Ihnen, die mit der Geschichte unseres Instituts nicht so vertraut sind, kurz erklären – waren ursprünglich Bilder, die mit einem kleinen, speziell für diesen Zweck entwickelten Kasten, dem sogenannten Fotoapparat, auf Zelluloidstreifen gebannt und anschließend mithilfe von Licht und drei chemischen Flüssigkeiten – Entwickler, Stoppbad und Fixierer – im Labor auf Papier übertragen wurden. Man sprach damals allerorts vom Fotografieren, einer von privaten Interessenten wie öffentlichen Institutionen gleichermaßen genutzten Visualisierungspraktik.“
Die Gesichter der Zuschauer zeigten einen Ausdruck ungläubigen Erstaunens. Einige Leute klatschten.
„Natürlich handelt es sich bei den in unseren Räumen ausgestellten Bildern immer nur um exzellente Nachbildungen. Die noch auf organischem Papier erstellten Originale sind nun doch zu wertvoll, als dass man sie hier einfach an die Wände hätte hängen können. Sie schlummern friedlich – wie sollte es anders sein – in den Tresoren unseres Instituts. Falls der eine oder andere also mit dem Gedanken spielen sollte, die Aufnahmen irgendwo zu Geld machen zu wollen …, es lohnt sich nicht.“
Verhaltenes Gelächter bestätigte Reb, dass er den richtigen Ton getroffen hatte.
„Aber, verehrte Gäste, lassen Sie mich noch ein wenig ausholen. Warum ausgerechnet eine Ausstellung über das einundzwanzigste Jahrhundert? Den Fachleuten unter Ihnen ist sicherlich bekannt, dass dieses Zeitalter aus heutiger Sicht als Vorstufe unserer modernen Medizin betrachtet werden kann. Das erste Mal in der Geschichte der Menschheit hatte es eine Gruppe von Wissenschaftlern gewagt, in den natürlichen Ablauf der Evolution einzugreifen und durch das gezielte Zusammenführen einer Kernspenderzelle und einer chromosomenfreien Eizelle ein neues Lebewesen außerhalb des Körpers quasi durch Menschenhand zu erschaffen. Die Versuche, durch laborgesteuerte Befruchtung genetisch identische Kopien ein und desselben Lebewesens herzustellen – sie zu klonen, wie man in jenen Tagen zu sagen pflegte –, scheiterten zwar lange Zeit immer wieder, doch die Tür zum Bio-Design war aufgetan und von diesem Zeitpunkt an war es, gemessen an der Geschichte der Menschheit, nur ein kleiner Schritt, bis es den Forschern gelang, sich das Erbgut auch unserer Spezies untertan zu machen. Und nun frage ich Sie, verehrtes Publikum, um welches Lebewesen handelte es sich bei diesem ersten, schon im zwanzigsten Jahrhundert der Öffentlichkeit vorgestellten Klon?“
Auffordernd ließ Reb den Blick über die Köpfe der Zuhörer wandern.
„Na, in der Schule nicht aufgepasst?“
Einige Gäste lachten verlegen.
„Ich gebe Ihnen noch einen Tipp: Die für dieses Experiment verwendete biologische Einheit diente dem Menschen lange Zeit als Haustier. Sie kommen nicht drauf? – Nein? – Ich werde es Ihnen verraten: Es war das uns allen bekannte Schaf Dolly.“
„Ach so, ja, natürlich!“
Jetzt waren die Besucher wieder im Bilde.
„Ja, meine Damen und Herren, auch dieses berühmt gewordene Schaf werden Sie in unserer Ausstellung zu sehen bekommen. Außerdem präsentieren wir Ihnen eine Reihe von historischen Zeitungsartikeln, damit sie selbst nachlesen können, welch kontroverse Diskussion dieser Eingriff in der damaligen Öffentlichkeit auslöste. Des Weiteren werden Sie Fotos zu Gesicht bekommen – hach, allein das Wort ‚Foto‘ jagt mir einen Schauer über den Rücken –, Fotos, die die Chirurgen jener Zeit bei ihrer Arbeit zeigen. Und wenn ich sage ‚bei ihrer Arbeit‘, dann meine ich auch ‚bei ihrer Arbeit‘, denn wie Sie wissen, wurde zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts noch mit der Hand operiert.“
Spontaner Beifall zwang Reb zu einer kleinen Unterbrechung.
„Ja, Sie werden in die uns heute mehr als archaisch anmutenden Operationssäle eingeladen, um den Meistern des Chirurgenfaches bei der Ausübung ihrer schier unglaublichen Kunst über die Schulter zu schauen.
So, meine Damen und Herren, nun möchte ich Sie nicht länger auf die Folter spannen. Ich wünsche Ihnen viel Spaß – oder sollte ich lieber sagen ‚angenehmen Grusel’ – und empfehle Ihnen zum Schluss noch unseren Ausstellungsführer, den Sie für 5 Tambas am Eingang erwerben können. Sollten Sie weitere Informationen benötigen, steht Ihnen meine Schwester mit Rat und Tat zur Seite, die übrigens nicht nur an dieser Ausstellung, sondern auch an der Vorbereitung des heute Abend stattfindenden Jazzkonzertes mitgewirkt hat – ein weiterer Leckerbissen unseres Programms.“
Reb streckte seinen Arm aus und empfing Soul, die bereits das Podium erklomm, am Rednerpult. Die Besucher erhoben sich von ihren Plätzen und spendeten den Geschwistern tosenden Beifall.
Draußen öffnete sich das riesige Eingangstor des Konzerns. Die Menschenmasse, die bisher ehrfürchtig auf dem Vorplatz gewartet hatte, drängte nun mit verhaltener Neugier in das Gebäude hinein. Viele der Gäste kauften zunächst einen Ausstellungsführer. Mit diesem praktischen Kopfreifen war es möglich, sich durch die Räumlichkeiten führen lassen, ohne die Kommunikation mit einer eventuellen Begleitperson unterbrechen zu müssen. Während die linke Hälfte des Reifens keinerlei technische Hilfsmittel beherbergte und nur dem festen Sitz des Gerätes diente, war die rechte Seite mit einem Ohrhörer und zwei halbkreisförmigen Schienen ausgestattet, von denen die erste in respektvollem Abstand vom Augapfel einen kleinen Bildschirm zur Betrachtung erläuternder Kurzfilme trug, die zweite unterhalb des Kinns in einem winzigen Mikrofon mündete, mit dessen Hilfe der Besucher die passenden Ausschnitte anfordern oder dem Gerät Fragen zum Thema stellen konnte.
Reb hatte sich vorher gründlich überlegt, wie er die Fotos präsentieren wollte. Als gelernter Visualist, ausgebildet in sämtlichen Bereichen der Medienpraxis, war er Fachmann auf diesem Gebiet. Er wollte die Zuschauer behutsam an das Thema heranführen. Sie sollten die Bilder unvoreingenommen auf sich wirken lassen und erst allmählich begreifen, welch schwere Kost hier für sie aufbereitet worden war. So hatte er sich für ein recht kleines Präsentationsmaß entschieden und nur einige wenige Aufnahmen mannshoch vergrößern lassen. Die meisten Fotos waren, ähnlich einer Gemäldeausstellung im alten Stil, in reflexlosem Kunstglas eingelassen und in Augenhöhe des Betrachters am Mauerwerk fixiert worden. Das strukturlose Weiß der umgebenden Wände unterstützte den wissenschaftlichen Charakter der Ausstellung und vermittelte eine Atmosphäre von unumstößlicher Sachlichkeit.
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