NachtTaxi. Thorsten Amrhein

NachtTaxi - Thorsten Amrhein


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Neigung zu einer Dekubitusbildung selbstredend eine Elefantenblase. Wenn der Harndrang ins Unermessliche steigt und der Fahrer im Unterleib schon Auswölbungen bemerkt, kommt über eine vor ihm liegende Kopfsteinpflasterstraße ebenso Freude auf wie über eine heruntergelassene Bahnschranke, an der er schon den mit Sicherheit nicht enden wollenden Güterzug heranschleichen sieht.

      Sucht der Berufskraftfahrer nun ein stilles Örtchen und kommt dabei an einem freien Taxistand vorbei, kann er trotz der »drängenden« Probleme nicht anders, als sich sofort dorthin zu stellen. »Na ja, eine Fahrt halte ich es noch aus. Als erstes Taxi kommt man hier ja schnell weg«, denkt er sich. Wenn er aber nach einer Stunde noch immer am selben Platz steht, kommt es zu dem Moment, den der Chauffeur sich nie hätte träumen lassen: Er wünscht sich eine Kurzfahrt oder zumindest, dass seine leere Getränkeflasche einen breiteren Hals hätte.

      Ist die Blase des Fahrers schließlich kurz vor dem Platzen, verlässt er seinen Halteplatz trotzdem nicht. Denn dann hätte er sich ja umsonst gequält und die Chance auf einen Kunden vertan. Nein: Der Taxifahrer eilt zum nächstgelegenen Baum und verschafft sich dort Erleichterung. Eine Wagentür lässt er weit offen, um von fern das Piepen eines Auftrageingangs hören zu können. Das Piepen, auf das er eine Stunde lang vergeblich gewartet hat, ertönt natürlich just in dem Moment, da der Abwasserstrahl seine Maximalkraft erreicht hat. Da dem Taxifahrer nur zwanzig Sekunden bleiben, bis er den Aufragseingang bestätigt haben muss – andernfalls bekommt ein anderes Taxi die Fahrt – ist er gezwungen, die Notbremse zu ziehen. Mit halbvoller Blase, halboffenem Hosenschlitz und halbnasser Hose hechtet er in sein Taxi und erreicht die Funktaste – wenn er Glück hat, gerade noch rechtzeitig.

      An anderen, leider nicht so oft vorkommenden Tagen, ist so viel zu tun, dass der Taxifahrer während der gesamten Zwölf-Stunden-Schicht einfach keine Zeit hat, zur Toilette zu gehen. Dies ist aber zum Glück nicht weiter schlimm. Da er nämlich auch keine Zeit hat, etwas zu trinken, muss er auch gar nicht dorthin.

      Nach manchen Gästen möchte der Taxifahrer am liebsten das Auto desinfizieren. Sie haben entweder eine Seifen- oder Wasserallergie oder sind schon so pflegebedürftig, dass sie nicht mehr in der Lage sind, ihre Kleidung zu wechseln geschweige denn sich zu waschen. Die in Urin getränkten Hosen sorgen nicht nur für Flecken auf dem Polster, sondern auch infolge des von ihnen ausgehenden Duftes für aufkommende Übelkeit beim Fahrer.

      Bei hochgradig alkoholisierten Personen – die häufigsten Kunden eines Nachtfahrers – besteht immer die Gefahr, dass sich ihre Übelkeit durch das Geschaukel im Wagen bis zum Erbrechen steigert. Einem an Hepatitis A leidenden Kind, das sich in der Göbelstraße im Fond des Taxis seines Mageninhaltes entledigt, kann der Fahrer natürlich allein schon wegen des optimal passenden Straßennamens keinen Vorwurf machen. Es macht die Sache aber auch nicht angenehmer. Ärgerlicher als der anschließende Verdienstausfall und ekeliger als das Reinigen des Autos ist der noch tagelang anhaltende Gestank, der sich gegen alle Duftwässerchen durchzusetzen versteht.

      Wenn die beduselten Gäste das rettende Taxi gerade eben noch erreichen konnten, ohne sich längs auf die Straße zu legen, sinken viele unmittelbar nach Angabe der Himmelsrichtung, in die sie möchten, in einen komaähnlichen Schlaf, dem sie oft nur mit massiver körperlicher Gewaltanwendung entrissen werden können. Manche erwachen auch plötzlich ohne ersichtlichen Grund, starren den Taxifahrer verwirrt an und fragen misstrauisch: »Wer sind Sie eigentlich? Wohin fahren wir denn?«

      Der Taxifahrer muss auch ein Experte im Entschlüsseln unartikulierter Laute sein, die von einer im Mundraum unkontrolliert herumtanzenden Zunge einer Schnapsleiche hervorgebracht werden. Auch Ausländer können mit ihrer Interpretation der richtigen Phonetik einem Taxifahrer Rätsel aufgeben. Unschlagbar ist jedoch der richtige Dialekt kombiniert mit einem Sprachfehler: »Ich möchte nach Zsaaaalze«, lispelte einmal ein Dresdner in breitem Sächsisch. Um herauszubekommen, dass der Gast nach Seelze wollte, brauchte der Fahrer schon beinah hellseherische Fähigkeiten.

      Eine Engelsgeduld muss der geborene Taxifahrer gleich in mehrfacher Hinsicht mitbringen: Da sind einmal die Kunden, die ein Taxi bestellen, aber meinen, man könne den Chauffeur ruhig eine halbe Stunde zur besten Zeit warten lassen. »In zwei Minuten kommen wir raus«, heißt bei ihnen auf Deutsch: »In zwanzig Minuten …«

      An anderen Tagen wartet der Taxifahrer stundenlang am Halteplatz, ohne auch nur einen Cent zu verdienen. Sieht er endlich einen Fahrgast sich dem Halteplatz nähern und dieser steigt dann in das unmittelbar hinter ihm stehende, soeben eingetroffene Taxi, beißt schon so mancher Fahrer ins Lenkrad oder schlägt zumindest mit den Fäusten wild darauf ein. Mehr kann er allerdings auch nicht machen, der Kunde hat nun mal die freie Wahl.

      Einen erfahrenen Taxifahrer zeichnet unter anderem das Gemüt eines Beamten kurz vor der Pensionierung aus. Er darf sich nicht über andere Verkehrsteilnehmer aufregen und sich keinesfalls von diesen provozieren lassen, auch dann nicht, wenn er wüst beschimpft wird. Oft steht der Kutscher unter Zeitdruck. Hat er etwa einem Stammkunden, der zum Flughafen möchte, eine feste Terminzusage gegeben und gerät nun auf dem Weg zu ihm in einen Stau, steigen Blutdruck und Puls schon mal in ungesunde Höhen. Fährt er anschließend wie Michael Schumacher, damit der auf heißen Kohlen sitzende Gast seinen Flieger noch erreicht, wundert dies nur die nicht Eingeweihten.

      Ein Taxifahrer zeichnet sich auch durch seine unbedingte Diskretion aus. Er tut so, als würde er nicht bemerken, wenn ein Pärchen, das nicht mehr bis zu Hause warten kann, auf seiner Rückbank von der Leidenschaft überwältigt wird – obwohl das Geschmatze und Gestöhne selbst ein taubstummer Zyklop wahrnehmen könnte.

      Gelegentlich kommt ein männliches Exemplar dank Geldmangels auf die grandiose Idee, seine Partnerin zu verkaufen: »Wenn dir meine Freundin ihre Möpse zeigt, fährst du uns dann umsonst?«, ist da noch die harmlose Variante. Es gibt allerdings auch Frauen, die von sich aus noch deutlich weitergehende Offerten unterbreiten.

      Der Taxifahrer ist auch beliebtes Ziel von Bettelattacken. Regelmäßig klappern Bettler die Taxireihen an den Standplätzen ab, wohl wissend, dass die Fahrer nicht einfach das Weite suchen können wie normale Passanten. Da hilft nur eins: Fenster zu, Radio aufdrehen und scheinbar völlig geistesabwesend in ein Schriftstück starren. Das ist selbst bei 35 Grad Außentemperatur immer noch das kleinere Übel.

      Ab und zu versuchen einige Leute sogar, schnell ihr Diebesgut – Fahrräder, Handys, Uhren, Ferngläser, Hemden, Parfüms – für einen unschlagbaren Preis bei den Fahrern loszuwerden.

      Der Taxifahrer kann nicht verhindern, im Laufe seines Berufslebens in die eine oder andere brenzlige Verkehrssituation zu kommen. Ein Reifenplatzer bei 170 Stundenkilometer auf der Autobahn – der anschließende Reifenwechsel im Dunkeln bei strömendem Regen auf der Standspur ist da nur noch das Sahnehäubchen – löst ähnliches Entsetzen aus, wie ein nächtlicher Geisterfahrer. Nachdem der Falschfahrer wie auf einer Landstraße vorbeigezogen ist, fragt sich der Chauffeur, ob dies gerade wirklich geschehen ist oder ob er nur geträumt hat. Es kommt ihm tatsächlich so vor, als hätte er ein Gespenst gesehen.

      In eine weniger gefährliche aber dafür noch hoffnungsloser erscheinende Lage kann sich der Taxifahrer auch ohne fremde Hilfe manövrieren. Gelegentlich wird er mitten in ein Gehölz zu irgendeinem Waldgasthaus beordert. Sind die Wege nicht befestigt und ist der Boden durch Regenfälle aufgeweicht, kann er im Morast stecken bleiben. Da ist guter Rat teuer. Zunächst versucht sich der Fahrer ohne fremde Hilfe aus der misslichen Lage zu befreien, reitet sich jedoch immer tiefer in den Sumpf.

      Die »Zechpreller« sind eine beim Taxifahrer sehr beliebte Spezies. Bei vielen hat der Fahrer nach etlichen schlechten Erfahrungen schon während der Fahrt ein ungutes Gefühl. Die Phantasie derjenigen, die sich vorsätzlich die Dienstleistung des Chauffeurs erschleichen wollen, kennt jedoch leider kaum Grenzen.

      Last, but not least lebt der Chauffeur in ständiger Gefahr, ausgeraubt und dabei verletzt oder gar getötet zu werden. Daher ist für einen Taxifahrer eine gute Menschenkenntnis, die er sich in jahrelanger Tätigkeit oft schmerzhaft erworben hat, von größter Bedeutung.

      Trotz allem – das wird nach dem bisher Gesagten erstaunen – ist der Beruf des Taxifahrers für viele, den Autor eingeschlossen, auch ein Traumjob. Nicht zufällig finden sich auf den folgenden Seiten erheblich


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