Nationalsozialismus und Holocaust – Materialien, Zeitzeugen und Orte der Erinnerung in der schulischen Bildung. Группа авторов
kommt, der oder die müsste also verstehen. Wie Schuppen würde es ihm oder ihr von den Augen fallen.
Lehrende aber wissen, dass dem nicht so ist. Die verbliebenen Baracken sind leergeräumt und renoviert, der Appellplatz ist asphaltiert, alles dort ist ruhig und friedlich. Ein Ort also, der nur etwas bedeutet, wenn man die Geschichte bereits kennt, wenn man weiß, wofür er steht. Und es stellt sich die Frage, ob die Bedeutung über die Emotion kommen soll. Ich frage mich darüber hinaus: Welche „Werte“ wollen wir als Tätergesellschaft an junge Migrantinnen und Migranten vermitteln, wenn wir sie in die Gedenkstätte Mauthausen bringen? Unsere? Indem wir ihnen dort vermitteln, was unsere Vorfahren getan haben? Dann müsste die Herangehensweise ja die sein, zu sagen: Schaut her, das haben unsere Vorfahren Jüdinnen und Juden, der Zivilbevölkerung und Kriegsgefangenen aus anderen Ländern, politischen Gegnerinnen und Gegnern, Roma und Sinti, Homosexuellen und Menschen angetan, die als „asozial“ oder als „Verbrecherinnen und Verbrecher“ eingestuft wurden. Wir haben daraus gelernt und bitten euch, unsere Lektion gleich mitzulernen. Ob das von der Staatssekretärin so gemeint war?
Wenn Lehrpersonen an Erinnerungsorte gehen, tun sie das gleich wie alle anderen Besucherinnen und Besucher stets als Individuen mit ihrer eigenen Geschichte, Sozialisation, Vorerfahrung, Einstellung, oft auch mit ihrer Betroffenheit. Doch gleichzeitig stehen sie dort als Pädagoginnen und Pädagogen: Sie haben Lehrpläne im Kopf, Kompetenzen, die sie entwickeln sollen, sie haben eigene inhaltliche Anliegen und wissen auch um ihren gesellschaftlichen Auftrag. Sätze wie den vielfach zitierten „Ihr seid nicht verantwortlich für das, was geschah. Aber dass es nicht wieder geschieht, dafür schon.“, der vom Holocaust-Überlebenden Max Mannheimer stammt, empfinden viele Lehrpersonen als Appell, und wenn sie den Jugendlichen im Klassenzimmer gegenüberstehen, auch als Überforderung – ebenso wie Adornos „allererste Forderung an Erziehung“ aus dem Jahr 1966, „dass Auschwitz nicht noch einmal sei“. (Adorno, 1970, S. 92) Die Unterrichtsrealität behindert oder erschwert dieses Anliegen in verschiedenster Weise. Melisa Erkurt, selbst als bosnisches Flüchtlingskind nach Österreich gekommen, reflektiert in ihrem Buch „Generation Haram“ über ihre Unterrichtserfahrungen:
„Jugendliche haben oft ziemlich steile Ansichten, die man als Erwachsene so gar nicht teilt. Argumente, für die man andere schnell einmal verurteilen würde – aber Schülerinnen und Schüler sollte man in einer Diskussion, vor allem als Pädagogin, nicht vor den Kopf stoßen. Selbst wenn sie Aussagen tätigen, die man zu hundert Prozent ablehnt und sogar als gefährlich einstufen könnte, wie zum Beispiel, dass der Islamische Staat gerecht ist, Nazis nur besorgte Bürger waren […]. Als Lehrperson darf man seinen Schülerinnen und Schülern die eigene Meinung nicht aufzwingen, aber man soll demokratie- und menschenfeindliche Thesen auf keinen Fall einfach stehen lassen. Man darf die Kinder und Jugendlichen aber auch nicht dafür verurteilen, sondern muss sich alles anhören und ruhige, nicht vorwurfsvolle Fragen stellen, bei deren Beantwortung der Schüler oder die Schülerin im besten Fall selbst bemerkt, dass das keinen Sinn ergibt, was er oder sie da sagt.“ (Erkurt, 2020, S. 152)
Erkurt, so meine ich, schreibt hier vielen Lehrenden aus der Seele, indem sie zentrale innere und äußere Konflikte auf den Punkt bringt: Viele Äußerungen von Jugendlichen lösen unweigerlich einen Abwehrreflex aus, weil sie äußerst problematische politische Positionen offenlegen, die man den jungen Menschen auf der Stelle austreiben möchte. Lehrpersonen reagieren häufig mit Argumenten, berufen sich auf Verbotsgesetz und Menschenrechte. Schülerinnen und Schüler ihrerseits reagieren, wenn sie sich trauen, provokant: Menschenrechte? Gesetze? Wer sagt, dass die alle für immer gelten müssen? Haben auch nur Menschen gemacht. Und überall gibt es andere Gesetze. Wegargumentieren geht also kaum. Verbieten kann man – wenn überhaupt – nur die Äußerung der Gedanken, aber nicht die Gedanken selbst. Erkurt geht in ihrer Beobachtung offenbar davon aus, dass Jugendliche derartige Äußerungen tätigen, ohne ideologisch gefestigt zu sein. Dass sie Sätze nachplaudern, die sie in verschiedenen Foren hören oder lesen, vielleicht provozieren wollen und dass man sie durch geschicktes Hinterfragen ihrer Positionen zum Nach- und letztlich Umdenken bringen kann. Damit hat sie wahrscheinlich in vielen Fällen recht. Und anknüpfend an die Schilderung aus Lochamej haGeta’ot wäre zu fragen: Magst du erzählen, woher du diese Gedanken hast? Wer erzählt dir das? Was möchtest du damit sagen? Worum geht es dir, wenn du solche Aussagen machst? Diese Art der Auseinandersetzung braucht Zeit, Lehrpersonen bewegen sich aber in einem Rahmen von getakteten Unterrichtsstunden und vielen Anforderungen, die das Unterrichtsgeschehen und die handelnden Personen vor sich hertreiben. Ein weiteres Problem, das viele Lehrpersonen beschreiben, ist die Gleichgültigkeit dem Thema gegenüber, eine Übersättigung, die viele Jugendliche artikulieren. In einem Interview von ZEIT ONLINE mit zwei deutschen Lehrern beschreiben diese eine „Holocaust-Müdigkeit“ ihrer Schülerinnen und Schüler: Der erste Lehrer sagt, „Aber den Holocaust und Nationalsozialismus wollen die Schüler im Unterricht nicht gerne behandeln.“ Und der zweite: „Stimmt. Wenn ich im Pädagogikunterricht sage, wir schauen uns jetzt die Erziehung im Nationalsozialismus an, dann heißt es: Schon wieder Holocaust? Das machen wir schon in Geschichte und in Deutsch. Zu den Schülern sage ich dann: Glaubt ihr denn, ihr wisst schon alles? Und dann stellt sich raus, dass sie noch sehr unsicher sind.“ Als der Journalist die beiden fragt, ob nur die Schüler unsicher seien, antwortet einer: „Nein, auch die Lehrer trauen sich oft nicht, offensiv mit dem Thema umzugehen. Sie haben Angst, dass sie auf bestimmte Argumentationsmuster nicht reagieren können.“ (Zeit ONLINE, 2018, 3/4) Über ähnliche Erfahrungen berichten auch österreichische Lehrerinnen und Lehrer in den Vorbereitungsseminaren für die Israelreisen. Jugendliche, die „nicht schon wieder“ über Antisemitismus, Holocaust, „die Juden“ reden wollen, verunsichern die Lehrpersonen in ihrem Unterricht über das Thema. Demgegenüber stehen Beobachtungen von Lehrenden und auch Studien, die belegen, dass Schülerinnen und Schüler durchaus interessiert am Zweiten Weltkrieg, am Nationalsozialismus und am Holocaust sind, wenn der Unterricht interessant für sie ist.3
Zusammenfassend lassen sich drei zentrale Herausforderungen beschreiben, mit denen viele Lehrerkräfte in die Fortbildungsveranstaltungen zu Nationalsozialismus und Holocaust kommen:
– Das Gefühl von Überforderung aus inhaltlichen Gründen, aber auch aufgrund des großen Verantwortungsgefühls für das Thema.
– Die Enttäuschung darüber, dass sie ihre Schülerinnen und Schüler mit ihrem Unterricht nicht erreichen können, dass diese dem Thema Nationalsozialismus und Holocaust generell, aber insbesondere auch den Gedenkstätten mit großer Distanz gegenüberstehen und sich kaum darauf einlassen, weil sie sich übersättigt fühlen, weil sie eine große zeitliche Distanz spüren oder weil sie die industrielle Vernichtung der Juden in Europa nicht als ihre Geschichte sehen.
– Die Konfrontation mit Jugendlichen, die mit „problematischen“ Äußerungen zu Nationalsozialismus und Holocaust verunsichern und irritieren.
Die Lehrpersonen, die an Fortbildungsveranstaltungen von _erinnern.at_ teilnehmen, ob an den Pädagogischen Hochschulen in den Bundesländern, am Zentralen Seminar oder aber auch an den Lehrgängen, die sie an Erinnerungsorte nach Israel führen, eint die Überzeugung von der Wichtigkeit des Themas. Entsprechend ihrer oben beschriebenen Erfahrungen formulieren Lehrerinnen und Lehrer ihre Anliegen und Erwartungen. Die meisten sind auf der Suche nach geeigneten Zugängen zum Thema, sie wünschen sich Anregungen, wie sie in ihren zunehmend heterogenen Klassen das Thema behandeln, wie sie die Distanz zum Thema überwinden können, wie sie auf provozierende oder aber auch ideologisch motivierte Äußerungen ihrer Schülerinnen und Schüler angemessen und wirkungsvoll reagieren, wie sie die Jugendlichen auf Gedenkstättenbesuche vorbereiten und diese mit ihnen gut nachbereiten können. Auf den Seminarreisen nach Israel geht es vielen auch darum, „die andere“, also die Opferperspektive kennenzulernen und so die eigene Perspektive zu erweitern.
Lernerfahrungen in Israel
Die Erinnerungsorte in Israel beeindrucken die Lehrenden auf unterschiedlichste Weise. In Yad Vashem sind es Dimension, Ästhetik und natürlich auch der konsequente Blick auf die verfolgten und ermordeten Menschen, auf die Zerstörung der