Nationalsozialismus und Holocaust – Materialien, Zeitzeugen und Orte der Erinnerung in der schulischen Bildung. Группа авторов
App erstellen die Schülerinnen und Schüler ein Album, in dem sie Materialien sammeln, ordnen und kommentieren. Diese Dokumentation wird in einem PDF-File zusammengestellt und gespeichert.
4. Schließlich sollen die Jugendlichen zu den ausgewählten Menschen einen direkten Bezug herstellen können, sei es, weil die Geschichten in ihrer Lebenswelt spielen, sei es, weil große Fragen der Jugendlichen wie Liebe, Vertrauen, Schule, Familie oder Freizeit thematisiert werden.
Die App fordert und fördert also die Jugendlichen in drei Dimensionen: im Umgang mit Geschichte, mit Gesellschaft und mit sich selbst.
Die Schülerinnen und Schüler begegnen der Lebensgeschichte eines Menschen und erzählen diese Geschichte weiter (Narrativität). Sie bearbeiten einen Zeitstrahl (Temporalität) und achten auf Kontinuität und Veränderungen (Historizität). Die Zuverlässigkeit von Zeitzeugen-Erzählungen wird thematisiert (Faktizität/Fiktionalität), und die Jugendlichen beschäftigen sich mit den Erinnerungen der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sowie mit referierter Geschichte, z. B. zu den Geschehnissen in Budapest. Dank der unterschiedlichen Geschichten der fünf porträtierten Menschen entsteht Multiperspektivität, in Teilen auch Kontroversität.
Die in der App erzählten Geschichten spiegeln Schlüsselprobleme der gegenwärtigen Gesellschaft, z. B. Flucht und Krieg; es geht um gesellschaftliche Grundbedürfnisse sowie um Inklusion und Exklusion. Schließlich berühren die Geschichten die Identitäten der Schülerinnen und Schüler und erlauben auch die Begegnung mit anderen. Durch die Filme und die Aufgaben ergeben sich Angebote für die Immersion und die Reflexion, für Emotion und Kognition. Moralische Fragen spielen in der App eine zentrale Rolle, auch weil Fragen der je eigenen Lebenswelt gestellt werden.
Empfehlungen für künftige Inszenierungen für das Lehren und Lernen über den Holocaust
Historische Bildung kann auch in Zukunft als orientierender Kompass im schulischen Umgang mit dem Thema Holocaust dienen. Wie oben erläutert bedeutet dies, dass bei Inszenierungen drei Zieldimensionen spezifisch in den Blick genommen werden: die Förderung von Jugendlichen im Umgang (a) mit Geschichte, (b) mit Gesellschaft und (c) mit sich selber.
Hinsichtlich des Umgangs mit Geschichte muss für die Thematisierung des Holocausts alters- und kulturspezifisch festgelegt werden, welches die gesellschaft-lich relevanten Basisnarrative und welches die einschlägigen Begriffe und Konzepte sind, die es zu vermitteln gilt. Nach wie vor ist sowohl in der Geschichts-wissenschaft als auch in der Geschichtsdidaktik eine Scheu vorhanden, erforderliches deklaratives Wissen festzulegen, was sich insbesondere in den neuen kompetenzorientierten Lehrplänen zeigt. Interessierte Laien und die Politik zeigen hier weniger Zurückhaltung und formulieren Gewissheiten, kulturelle Bestätigungen und geschichtliche Verläufe, die es zu wissen gilt. Allfälliges Nicht-Wissen wird sowohl durch Medien, aber auch durch die Wissenschaften sofort sanktioniert. So sorgte eine Werbung für die Begrenzungsinitiative5 der Zürcher SVP6 im Juli 2020 für große Empörung. Die Partei behauptete in ihrem Inserat, dass bei einem Nein zur Begrenzungsinitiative die Schweiz weiter zubetoniert werde, und sie veranschaulichte das Zubetonieren mit einem Bild, welches Stelen des Holocaust-Mahnmals in Berlin zeigte (NZZ, 24.7.2020). Offenbar hatte bei der Abfassung der Werbung niemand das Holocaust-Mahnmal erkannt, und so blamierte und disqualifizierte sich die Partei mit diesem Nicht-Wissen vor der breiten Öffentlichkeit. Die Begrenzungsinitiative wurde abgelehnt.
Dass sich Geschichtsdidaktik schwertut mit der Festlegung der Basisnarrative, hat natürlich mit schlechten Erfahrungen zu tun. Üblicherweise wird nämlich viel zu viel verlangt, weshalb die Forderung von Bodo von Borries aus dem Jahre 2004 immer noch gilt: „vorsichtiger, aber wirklichkeitsgerechter“, „weniger, aber gründlicher“, „einfacher, aber anregender“ und „bescheidener, aber bewusster“ (Borries, 2004, S. 423). Jugendliche im Alter von 15 Jahren sollten im deutschsprachigen Raum mindestens auf folgende fünf Fragen Antworten geben können (vgl. dazu auch IHRA 2019, S. 16–23):
– Warum und wie kam es zum Holocaust?
– Welches waren die entscheidenden Schritte beim Verlauf des Holocaust?
– Wie reagierten die Menschen auf die Verfolgungen und Massenmorde?
– Welches waren die Folgen des Holocaust? Wie wurden die Täter bestraft?
– Welche Bedeutung hat der Holocaust hier und heute?
Die Antworten auf diese Fragen dürfen durchaus kurz sein. Darüber hinaus müssen die Jugendlichen allerdings auch ikonische Bilder und narrative Abbreviaturen (Rüsen, 1991, S. 231) kennen – also einzelne Bilder oder Begriffe, die für eine ganze Geschichte stehen – wie das Holocaust-Mahnmal in Berlin oder „Auschwitz“.
Bei der Vermittlung der gewählten Narrative, Begriffe und Konzepte ist zentral, die oben erwähnten und in Abbildung 1 dargestellten Prinzipien umzusetzen. Narrativität/Konstruktivität bedeutet u. a., dass die Lernenden selbst zum Erzählen kommen. Temporalität/Historizität erfordert das Fragen nach dem Vorher und Nachher, nach Ursachen und Wirkungen. Ein Zeitstrahl ist nach wie vor eine hilfreiche Veranschaulichung für Geschichte. Faktizität/Fiktionalität führt immer wieder zur Frage, was genau wie überliefert ist. Multiperspektivität/Kontroversität erinnert an die Verpflichtung, verschiedene Quellen und Darstellungen für die Vermittlung heranzuziehen. Und Objektivität/Exemplarität weist auf die Notwendigkeit hin, plausible Aussagen zu machen (und festzuhalten), die unabhängig von wertenden Einstellungen der Subjekte gelten und empirisch triftig sind, also methodisch bewusst nachvollzogen werden können (Rüsen, 1997; Pandel, 2017).
Hinsichtlich des Umgangs mit Gesellschaft soll bei der schulischen Thematisierung des Holocaust in der Regel darauf geachtet werden, dass die gewählten Aspekte Schlüsselprobleme unserer heutigen Welt spiegeln, Grundbedürfnisse von Menschen berücksichtigen und Inklusion/Exklusion betrachten, damit historische Bildung möglich wird. Dies alles sind keine neuen Forderungen, sondern akzentuieren das, was in den Empfehlungen für das Lehren und Lernen über den Holocaust der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA, 2019) ausführlich dargestellt und z. B. im Abschnitt „Konzeptuelles Verständnis“ (ebd., S. 21–23) oder in „Gegenwartsbezüge: Der Holocaust, Völkermorde und Menschenrechtsverletzungen“ (ebd., S. 45–47) ausgeführt ist.
Wenn Inszenierungen fürs Lehren und Lernen über den Holocaust künftig noch besser historische Bildung ermöglichen sollen als heute, dann müssen die neuen Vermittlungsangebote vor allem intensiver zur Persönlichkeitsbildung der Jugendlichen beitragen. Hier sind neue Akzentuierungen erforderlich: Wie können Emotion und Kognition, Immersion und Reflexion, Identität und Alterität, aber auch Skeptizismus und kritisches Denken sowie moralische Fragen intensiver angesprochen werden? – Aus Studien zur Wirkung von Spielfilmen auf das Geschichtsbewusstsein wissen wir, dass bei audiovisuell vermittelten Geschichten die Darstellung einzelner Menschen eine zentrale Rolle spielt. Sabine Moller z. B. zeigt auf, wie Filme von ihren Zuschauerinnen und Zuschauern konkret angeeignet werden. Die Betrachtung der Filme und damit der Geschichte erfolgt durch das „subjektive Sehen durch einen Körper“ (Moller, 2018, S. 197), was bedeutet, dass die Betrachterinnen und Betrachter durch die Augen einer Filmfigur „mitblicken“. Hieraus resultieren gemäß Moller spezifische „Sehepunkte“. Diese „Sehepunkte“ erklären, wieso beispielsweise Spielfilme mit handelnden und leidenden Menschen das größere Lernpotential zu haben scheinen als eine dokumentarische Kamerafahrt durch das rekonstruierte Vernichtungslager Auschwitz oder eine Virtual Reality-Inszenierung des Geländes.
Solche „Sehepunkte“ bieten auch Videogames an, die darüber hinaus dank digitaler Technologie die Möglichkeit bieten, mit den und durch die Protagonistinnen und Protagonisten zu handeln. Als Gamer erlebe ich also eine Flucht nicht nur aus der Perspektive der Flüchtenden, sondern ich agiere selbst im digitalen Raum, wie z. B. im Videospiel „When We Disappear“.7 In diesem Spiel werden die Schülerinnen und Schüler im ersten Kapitel ins Amsterdam des Jahres 1943 versetzt. Dort